Im April 1984 bin ich sechs Wochen in den USA unterwegs gewesen: New York (und Wyckoff, New Jersey, wo ich bei meiner Schwester und ihrer Familie gewohnt habe), Virginia, Washington. Zu diesem Reisetagebuch gibt es keine Fotos. Da hilft nur das gute alte Kopfkino.


Too much ain't enough
(USA 1984)


Flugangst? Naja…

Ich erlebe einen der ruhigsten Flüge seit Einrichtung des Linienverkehrs zwischen der Alten und der Neuen Welt. Ganz selten ein wenig unruhiges Schütteln, das die Tragflächen leicht vibrieren lässt – aber wenn sie ganz starr wären, würden sie viel leichter abbrechen, also erklärt mir mein Kopf, dass ich ganz froh bin, dass sie schwingen können.

Für mich ist das schon die große Welt: der Jumbo, Getränke frei auch zwischen den Mahlzeiten, der Kopfhörer mit vier Musikprogrammen (deren eines bewundernswert leichthändig zusammen gestellt ist aus den Hits der abendländischen Kultur, auf die Kleine Nachtmusik folgt ein Brandenburgisches Konzert, dann Vivaldis Vier Jahreszeiten, der Bolero und zum Schluss Straußwalzer, auf NDR Drei würde sich das keiner trauen), und dann gibt es einen Spielfilm. Die kleinen Fenster werden durch Schieberollos verdunkelt „to have a better contrast“, und dann beginnt die martialische Jagd auf Blue Thunder, den Kampf-Helicopter. Es ist die Geschichte vom heldenhaften LA-Cop Frank Murphy und seinen Flugkünsten. Schon stürzt der erste Hubschrauber aufgrund schurkischer Sabotage ab, und bei mir beginnt sich ein erstes Unwohlsein im Oberbauch bemerkbar zu machen. Ich muss an die US-Astronauten denken, bei deren kürzlich im deutschen TV live übertragenen Weltraumspaziergang zu dem defekten Satelliten mittels Raketenrucksack mir ganz anders wurde. Da flogen die in 500 Kilometer Höhe ohne Netz und doppelten Boden, ohne Sicherheitsleine (wie es sie wenigstens beim Surfen ja noch gibt), und wenn die Steuerung des Raketenrucksacks versagt, schießen sie in eine zwar interessante, aber einsame elliptische Umlaufbahn… Wie wäre das jetzt hier, wenn unserem Jumbo die Flügel abbrechen und keiner merkt es, weil wir alle einen Film über abstürzende Helicopter sehen und die Fenster verdunkelt sind, und unter uns ist nur Wasser, ziemlich viel Wasser, bei dreizehn Grad Wassertemperatur hat man keine Chance, nach ein paar Minuten war’s das, hab ich vor kurzem irgendwo gelesen, und wieso geht jetzt da dieser Obersteward nach vorn ins Cockpit, was hat der da zu suchen? Der Kampf um Blue Thunder geht gerade erst richtig los, gewagte Flugmanöver, ein Hubschrauber der Verfolger rast gegen einen Brückenpfeiler und schrammt eine ganz schöne Strecke über den Beton des ausgetrockneten Abwasserkanals, ehe er explodiert. Einige abgestürzte Hubschrauber später hat das Gute dann endlich gesiegt, das Licht geht wieder an, Fenster sind wieder zum Durchgucken da. Neuntausend Meter unter uns Eisschollen, Packeis und tiefblau-eiskaltes Wasser, wunderschön. Die Flügel sind noch dran. Ich habe sie im Blick. Und es gibt wieder was zu essen.

Brief an die Freunde
Wir hatten ja geplant, nächstes Jahr zu viert hierher in die USA zu kommen und das Land dann von Osten nach Westen aufzurollen. Das wird nach meinen ersten Eindrücken ein wenig komplizierter, als wir es bisher geplant hatten. Das Land hat Widerhaken und mehr Brüche, als ich mir hab träumen lassen, und man könnte sich beim Aufrollen ganz schön die Finger klemmen. Zumindest verblüfft es immer wieder.
Das fing an mit der Ankunft, ist ja logisch. Der Flug war schön, und erst kurz vor New York wurde es trübe, und als wir landeten, hatte es heftig zu regnen begonnen.
Nach dem Ameisenhaufen des hypermodernen Amsterdamer Flughafens mit seinen 54 gates und den endlosen Zeilen von Duty-Free-Shops hatte ich New Yorks Kennedy-Airport noch eine Nummer größer erwartet. Uns erwartete aber nicht einmal ein niveaugleicher Ausstieg aus dem Flieger ins Flughafengebäude, wie man es von anderen Flughäfen mittlerweile gewohnt ist. Sondern New York bot eine höchst komplexe Lösung: Ein Bus kommt angeschlichen, hubt die Fahrgastzelle in die Höhe, bis sie auf Jumbo-Niveau ist, ein paar Dutzend Fahrgäste drängeln in den Fahrgastraum, werden wieder heruntergelassen und auf dem Busgestell zum Abfertigungs-gebäude gefahren. Schön langsam. Die meisten Leute warten auf den nächsten Bus, der hubt seine Fahrgastzelle usw. usw., das dauert, und dann kommt man an: und es kommt die nächste Überraschung. Das Abfertigungsgebäude ist enttäuschend klein. Das soll JFK sein, die Drehscheibe der westlichen und der restlichen Welt? Das Gebäude ist in etwa so groß wie das in Fuhlsbüttel, aber dafür spartanischer ausgestattet. Wir gehen durch lange nackte Flure, Einwanderer rechts, US-Bürger in der Mitte, Besucher links. Wir kommen in eine Halle, man könnte Handball darin spielen, die Größe passt, und die Fenster, die sich auf drei Meter Höhe in schmalem Band ringsumher ziehen, wirken auch wie Turnhalle. Über allem hängt schlaff die US-Flagge. Kein Aschenbecher, kein Möbel. Nur ein Sofa steht an der Längswand. Vier Typen lümmeln sich breitbeinig mit dem Kopf auf die Hand gestützt darauf, drei in Uniform, einer in Zivil (Zoll, Einwanderungsbehörde, Polizei und FBI, kombiniere ich). An der Kopfseite der Halle stehen zwölf gelbe, hölzerne Häuschen, zwei Meter davor ein gelber Klebstreifen auf dem Fußboden (eben doch wie in der Turnhalle): „Stop at the yellow line!“ Und es dauert. Wir teilen uns in zwölf Schlangen auf. Verspätung hatten wir ein bisschen, der Bustransfer hat gedauert, und nun werden wir einer nach dem anderen vor den Beamten der Einwanderungsbehörde gerufen. Familien dürfen zusammen bleiben. Der Beamte blättert den Pass durch, sucht nach dem Visumstempel, blättert in der telefonbuchdicken Fahndungsliste, macht Vermerke hier und dort. Bei einem Afrikaner findet er anscheinend das Visum nicht, blättert noch einmal nach vorn und nach hinten, Verständigung ist schwierig, aber dann klappt es doch, Stempel hier und da auch noch einer, und endlich bin auch ich durch. Am Nebenschalter verhandeln die drei Typen mit den großen Rücksäcken immer noch: sie können keine Adresse angeben, wo sie zu Gast sein werden, werden wieder zurückgeschickt auf das Spielfeld: Verlängerung. Sie haben kein Hotel, keine Verwandten, nichts, und das geht einfach nicht. Egal ob das eine reale Adresse ist oder eine Fälschung, ob das Hotelzimmer existiert oder nicht oder ob es sich um ein Stundenhotel auf der 42nd street handelt – ohne eine Adresse, die man angeben kann, kommt man nicht rein. Ein Hauch von Ellis Island weht durch die Turnhalle, wo früher Millionen von Einwanderern aus aller Welt durchgeschleust oder zurückgewiesen wurden. Beim Zoll geht es schneller, jedenfalls für mich (manchmal ist es eine Genugtuung, unauffällig zu wirken). Der Philippino mit Frau und zwei Kindern vor mir muss jeden seiner riesigen drei Schrankkoffer aufschließen, die hinter ihm in der Schlange Wartenden werden aufgefordert, sich auf die anderen Häuschen zu verteilen, muss ja ein ungemein beruhigendes Gefühl für den Mann aus Südostasien sein… Ich werde von dem schwarzen Beamten am Nebenschalter ausgefragt, was ich in den USA machen will, und was ich in Deutschland mache, womit ich mein Geld verdiene und zu wem genau ich denn jetzt fliege. Ich bin schon ganz überrascht, dass er mich nicht nach meiner Mutterbindung und nach Mitgliedschaften in bestimmten politischen Vereinigungen fragt, und schon bin ich durch, ohne auch nur meinen Rucksack aufgemacht zu haben. Wirke ich so harmlos?
Im Gewimmel finde ich meinen Schwager, und durch den strömenden Regen hasten wir zum Auto. Wir fahren los, und jetzt erst wird mir klar, was mich irritierte und wie es dazu kommt: Diese kleine Turnhalle, das ist ein Empfangsgebäude für die Fluggesellschaften, die sich keinen eigenen Terminal leisten. Neben dem Dutzend Miet- und Leih-Terminals für uns Europäer gibt es dann die größeren Gebäude von TWA, PanAm, Delta-Airlines und wie sie alle heißen, eine ganze Stadt aus Abfertigungshallen, das passt ja auch gar nicht alles in ein zentrales Gebäude. Es dauert eine Viertelstunde, ehe wir mit dem Wagen aus dieser Airport-City raus sind.
Ein erster Schritt auf dem Weg dahin, keine Erwartungen zu haben: sie werden übertroffen, enttäuscht oder auf eine andere, gänzlich unerwartete Art und Weise gelinkt. Wir fahren durch Queens, streifen den Südzipfel der Bronx und den Norden Manhattans und erreichen nach einer dreiviertel Stunde die George-Washington-Bridge. Sie spannt sich über den Hudson, der hier ungefähr dreimal so breit ist wie die Elbe bei Hamburg, und verbindet New York mit New Jersey. An die vierzig Meter über dem Fluss hängen vierzehn Fahrspuren in zwei Etagen an silberbronzierten Stahlseilen, dagegen ist unsere Hamburger Köhlbrandbrücke Legoland. Schon mal was gehört von der George-Washington-Bridge? Ich jedenfalls nicht. Haben sie mal eben hier hingebaut vor fünfzig Jahren, damit braucht man ja aber nun nicht anzugeben, ist ja nicht einmal die größte der Welt.
Meine Schwester wohnt mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Städtchen Wyckoff in New Jersey. Hier ist Schlafstadt pur, es ist der Außenbereich des großen Weichbildes von New York. Kleine Häuschen aus Holz, sehen zumindest klein aus, sind es meist aber gar nicht. Alles Einzelhäuser, ein riesiges Dorf mit Rasen und ohne Zäune ums Grundstück, dadurch wirkt alles offen und der Blick kann schweifen, alte Bäume, hügelig, ab und zu ein weißgestrichener Holzlattenzaun wie im mittleren Westen, keine Fußwege an den Straßen, wer geht denn schon zu Fuß? Haus an Haus, und der Nachbarort sieht genauso aus, und der nächste auch. Geschäfte gibt’s nur im Einkaufszentrum und in der Mall mit dem Riesensupermarkt. Kaum Kneipen, und im BergenMall im übernächsten Ort gibt es ein Kino. Alle paar hundert Meter eine Kirche. Ganz anders sieht es am Highway aus, der eine Plastikschneise durch das Idyll schneidet: links und rechts Geschäfte, Auspuffschnelldienst, Roy-Rogers-Fastfood, Möbel, Schuhe, Night-Club, Godfather’s Pizza und immer mal wieder eine Mall, überdimensionierte Einkaufszentren mit Boutiquen und Kaufhäusern, mit einem riesigen Parkplatz drumherum, während der Hauptgeschäftszeiten sieht es hier aus wie auf den Volksparkwiesen bei einem Heimspiel des HSV. Das Ganze mit Autobahnanschluss, ob man auch zu Fuß hinkommen würde, weiß ich nicht – bezweifle es aber. Zwischen den alle hundert Meter hingepflanzten Geschäften ist alles am Highway asphaltiert, falls mal zufällig hundert Kunden mit hundert Autos gleichzeitig kommen und Interesse an John’s Bauernmöbeln haben. Die Gebäude geben sich redlich Mühe Aufmerksamkeit zu erhaschen, Stil zu zeigen oder Rustikalität zu vermitteln, oder Historie, als wenn sie schon dreihundert Jahre da stehen würden oder so, oder am besten zwei bis drei solcher Ansprüche gleichzeitig zu erfüllen. Damit wird dann sichergestellt, dass man augenblicklich Heißhunger entwickelt auf die hervorragenden Steaks von Sam und Harry. Es gibt kleine Ranches, Blockhäuser, Maurenburgen mit Zinnen, verspiegelte Quader – beliebig, austauschbar, ohne Gesicht. Und es muss hier in aller Deutlichkeit gesagt werden: das ist alles ungeheuer geschmacklos. Es hat keinen Stil, und trotzdem hat es etwas, ich weiß nicht genau was, aber da gibt es eine Atmosphäre, die ist mitten in Oklahoma oder in den Weiten von Nevada sicher völlig abgefahren, wenn man nach stundenlanger Dürre auf dem Highway beim MacDonalds Drive Thru eine Cola mit unglaublich viel crushed ice gereicht bekommt, das kommt einfach gut. Hier, mit der Skyline von Manhattan im Hintergrund, wirkt das alles wie künstliches Plastik mit Holzdekor, und selbst die Cola schmeckt so.
Widerspruch ist Trumpf. Es gibt nichts, womit man noch auffallen könnte, aber eine Menge, womit man dumm auffällt: wenn man sich nicht in der Warteschlange zum Bus anstellt („we’re on line, man!“), wenn man im Supermarkt keine von den braunen Papiertüten will, weil man selbst eine Einkaufstasche hat („Oh, you’re from Europe, aren’t you?“), wenn man im Mantel durch Wyckoff schlendert (um nicht aufzufallen: nur im Jogging Anzug außerhalb des Autos, und wenn du ganz sicher gehen willst, dann lauf!) Nach welchen Regeln gespielt wird in dieser Turnhalle ist mir noch nicht klar geworden. Aber Regeln gibt es, ohne Ende. In den State Parks hier oben gibt es überall Schilder:

No swimming
No wading
No alcoholic beverages

Und was da noch alles verboten wird, im Sommer und im Winter, tags und nachts. Irgendwo hatte einer darunter geschrieben:

No fun

Nur gut dass die überall aufgestellten „no spitting“-Schilder nicht automatisch dazu führen, dass überall, wo zufällig mal keines der Schilder steht, unaufhörlich gespuckt wird.
Echt Jungs, das ist schon ein merkwürdiges Land.


Tutti Frutti
Wo die Gemütlichkeit fehlt

(wäre sie denn doch so deutsch?) –
Wo die Stadt dröhnt und hupt,
wo der Himmel quadratisch wird
zwischen den Häusern, weit oben,
wo der Rap nie weit ist und der Reggae
aus den tragbaren Radiokoffern,
wo das „stirb und werde“
längst sein Gleichgewicht verloren hat,
wo es auch jetzt, im Frühjahr,
aus den U-Bahn-Schächten dampft-

irgendwo da
muss auch New York sein


Too much ain’t enough
Bei uns in Deutschland ist eben alles immer etwas bescheidener, gemäßigter. Der Deutsche Konstantin Wecker singt den Deutschen ein gefühlvolles „Genug ist nicht genug“ – über dem Eingang zum Lone Star Cafe in Greenwich Village steht die amerikanische Devise „Too much ain’t enough“, zu viel reicht noch lange nicht aus. Und das ist verdammt ernst gemeint.
Jedes Auto, das auf sich hält, hat einen „turbo drive“. Zwar gilt auf allen amerikanischen Straßen einschließlich der Autobahnen eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung von 55 Meilen, und das sind mal eben schlappe neunzig Stundenkilometer. Aber im Herdentempo dahinzuschwimmen und zu wissen, man könnte in wenigen Sekunden auf 220 Sachen sein – das issn geiles feeling, äy.
Zusätzlich zu den sieben hier rund um die Uhr empfangbaren Fernsehsendern gibt es ein Dutzend pay-tv-Kanäle mit Extraanschluss und Extrabezahlung und nochmal so viele Kabelsender, die man sich reinziehen kann, wenn man es will und wenn man dafür bezahlen kann/will. New York hat ungefähr 20 kommerzielle Rundfunksender, die nur Musik und Werbung bringen: Tag und Nacht Lite-Music mit Streisand und Manilow und Neil Diamond auf 106 FM, Rock auf 103 FM „The Apple“oder einen bunten Strauß aus Rap und Top Fourty auf 92 KTU. Einen Sender für Liebeslieder, einen mit Country-Musik. Im Fernsehen gibt es dann wieder Werbespots für den oder den Sender, damit der genug Hörer hat und seine Werbeminuten widerum gut verkaufen kann… Außerdem werben die Commercials für geruchserzeugende Schallplatten, für garantiert aspirinfreie Schmerztabletten (wegen der Resistenzen und Allergien und weil Aspirin den Magen reizt, und welcher Amerikaner hat nicht einen chronisch gereizten Magen?) und für den offensichtlich heiß umkämpften, aber unübersichtlichen Markt der Cornflakes, raisin brands, rice crispies und welche klangvollen Namen das noch alles hat, jedenfalls alles offensichtlich unglaublich gesund und fitnessfördernd, man sieht es den Schauspielern so etwas von an, für den Jogger ebenso unverzichtbar wie für jedes schulisch geforderte Kind. Alles in allem ein unverzichtbares Muss für jede amerikanische Familie, Singles eingeschlossen. Die Werbung ist oft witzig und fast immer aggressiv. Sie verschleiert nicht, dass sie einzig und allein dazu da ist, mehr zu verkaufen. Am sichersten gelingt das, wenn man sich selbst im besten Licht darstellt und die Mitbewerber als das entlarvt, was sie nun mal sind: geldgierige, gewissenlose und zudem unfähige Betrüger. Oder sie sind einfach etwas dumm, so dass sie keine Produkte hinkriegen, die auch nur annähernd zu vergleichen sind mit dem was den Kunden bei dem Werbenden erwartet. Die Leute von Seven-Up weisen darauf hin, dass ihre Limonade nicht etwa Aromastoffe enthält wie Coke, Pepsi, Mountain Dew und diese ganzen Chemiebrühen, sondern ganz und gar Natur ist. Und es ist einfach eine simple Tatsache, dass der neue Computer von Texas Instruments einen größeren Monitor hat als der von IBM, und außerdem sechs Farben statt nur drei für die Grafiken. Also auf den Müll mit IBM. Und zwar jetzt gleich und im Fernsehbild festgehalten, in einem freien Land darf alles gezeigt werden…was der Werbung nützt.
Gebremster Zucker („no sugar added“ ist zur Zeit einer der Werbe-Renner bei allen möglichen Produkten) und offensiv an den Mann bzw. die Frau gebrachte Appetitzügler (endlich gibt es neben Dexatrim nun das neue Dexatrim-forte!) verhindern nicht, dass es übermäßig viele dicke Amerikaner gibt. Bewegungsmangel und fast food lassen die Leute aufgehen wie die „donut“-Kuchen, für die es dann wieder eine eigene fast-food-Kette gibt, Dunkin' Donuts. Stühle sind zu klein, reichen nur für einen halben XXL-Hintern. Und dann sitzen sie mit unbewegter Miene, schnaufen und ziehen sich die Fritten mit unglaublichen Mengen Ketchup von Heinz aus der Familienflasche rein, noch eine Portion frittierte Zwiebelringe dazu, und einen extragroßen Hamburger hinterher, Budweiser aus dem Zweiliterkrug, daneben ein Humpen Coke mit Eis im Verhältnis eins zu eins (Eis hat wenigstens keine Kalorien), weil wenn schon kalt dann ordentlich.
Too much ain’t enough. Coke, Pepsi und die anderen Dickmacher gibt’s preisgünstig in der Zweiliterflasche aus Plastik. Kalifornischen Wein kauft man in der vergleichsweise günstigen Vier-Liter-Glasgallone mit dem Henkel. Es gibt alle Sorten, Chablis, Burgundy, Pink Rosé, und alles ist einen Hau süßer als zuhause in good old Europe. Ein wirklich trockener Wein ist schwer zu finden, oder die liebfrauengläubigen Amerikaner wollen ihn einfach nicht. Den süßlichen Stoff kann man wirklich nur eiskalt zu sich nehmen, aber die Vierliterbuddel geht in keinen normalen Kühlschrank, also muss man Eis in den Wein nehmen. Is doch logisch. Wie weit man sich vergessen kann… ich hatte mich schnell daran gewöhnt. Zigaretten alle? Automaten gibt’s nirgends, hat die Gesundheitslobby für gesorgt, aber Grand Union, der Riesensupermarkt um die Ecke hat 24 Stunden geöffnet, von montags bis samstags (warum ist denn Sonntag zu? Wohl die Kirchen). Kein Geld mehr? Jede Bank hat ihren automatischen Schalter, wo du mit Scheckkarte jederzeit Geld abheben kannst. Nimm ruhig etwas mehr. Too much ain’t enough.

Boutiquen, Rost und Kopfsteinpflaster
Die Stretch-Limousine ist über sechs Meter lang, hat getönte Scheiben und parkt auf der Straße. Darf sie auch. Muss sie auch. Denn erstens passt sie in keine Parklücke, und zweitens wer so aussieht darf parken wo er will. Der alte livrierte Chauffeur sitzt am Steuer und wartet. Eigentlich ist SoHo (South of Houston Street) kein Viertel für so ein Auto, denkt man beim ersten Blick in die Gegend. Hier behaupten sich Kopfsteinpflaster, Rost an allen Ecken und auf dem Hinterhof herrenloser Sperrmüll gegen die Arroganz des World-Trade-Center im Nachbarblock. Die morbide Front bröckelt in SoHo, aber das scheint die Chance dieses Viertels zu sein. Wo die Limo wartet, sind schon einige Lagerhäuser entrostet und lackert. Fenster dienen wieder ihrem alten Zweck, sind erneuert und geputzt, man kann wieder durchgucken und sie lassen Licht durch, anders als die blinden und nie geputzten Schmutzfenster der echten Lagerhäuser. Eine Galerie zeigt hundert Zeichnungen von Picasso, ihre Filialen sind in Paris und San Francisco. Eine Boutique führt Klamottern von Jourdache, designed wie ein Dschungel und wahrscheinlich fürs Portemonnaie mindestens ebenso gefährlich. Die Stretch-Limo wartet vor einer alten Lagerhalle, die von einem internationalen Modehaus aufgebrezelt wurde: die Front inklusive der Feuertreppen einheitlich in resedagrün, die Schaufenster spärlich dekoriert wie Teller der nouvelle cuisine. Die Gestalt einer schwarz und goldbunt gekleideten, gebeugt gehenden alten Dame schiebt sich aus dem Eingang, quält sich auf den Stock gestützt die Eingangsstufen hinunter. Der Chauffeur leiht eine hilfreiche Hand, Pakete werden der Dame hinterhergetragen. Die Limo schwimmt über das Kopfsteinpflaster, nach Central Park East, nach Englewood Cliffs oder wer weiß wohin. Die Front von SoHo bröckelt, und darunter taucht eine neue Dekadenz auf, grimmiger als der Verfall je sein konnte.

Der amerikanische Traum - oder: Orpheus in der Oberwelt
Es geht um einen Moscowiter in New York. Der Film heißt aber "Moscow on the Hudson", damit man merkt: es geht eigentlich um das Ganze, um allgemeine Wahrheiten über Ost und West, und hier in diesem Film, das ist nur ein Beispiel! Man merkt es.

Vladimir, der Saxophonist des Moskauer Nationalzirkus (gespielt von everybody's darling Robin Williams), setzt sich nach dem Gastspiel im New Yorker Madison Square Garden ab (natürlich nicht einfach so, sondern nach einer routiniert abgedrehten Slapstick-Verfolgung im Edelkaufhaus "Bloomingdale's"). Bei der Verfolgungsjagd haben ein paar exemplarische Vertreter der New Yorker Normalbevölkerung ihre Finger im Spiel: Der Kaufhaus-Detektiv Lionel (ein Schwarzer aus Alabama), die Kosmetik-Verkäuferin Lucia (Migrantin aus den italienischen Abbruzzen), der Exil-Kubaner Orlando, der sich als Anwalt darauf spezialisiert hat, Einwanderer zu vertreten. Sie alle werden Vladimirs Freunde. Er wird in Lionels schwarze Familie aufgenommen, bricht beim ersten Supermarktbummel vor der Gewalt des gutsortierten Kaffeeregals zusammen, findet Jobs (natürlich zuerst als Tellerwäscher). Er verliebt sich in Lucia (und sie sich in ihn). Er wird gemugged (d.h. überfallen und um seine Brieftasche gebracht), und in einem Coffeeshop muss ihn ein bulliger New Yorker aus Leningrad auf den Boden der Freiheit zurückholen: "Wenn du law and order willst, wo so etwas wie dieser Überfall nicht passieren kann, dann geh doch zurück nach Moskau!!", der Saxophonist entschuldigt sich zerknirscht, ein Händedruck, die Freiheit hat ihren Preis, ist ja klar, sorry. Der Heimatverlust schmerzt, aber die erste verspiegelte Sonnenbrille versöhnt schon ein wenig, und dann erst die bunten Schuhe, gekauft nach ermüdendem shopping inmitten von wachsenden Schuhkartonbergen und zurückhaltend entnervten Verkäuferinnen! Er erinnert sich daran, wie er in Moskau in der Schlange vor dem Geschäft stand, in dem (wie sich dann im Verlauf des Schlangestehens herausstellte) es Schuhe gab, aber nur in Größe 38, es waren tschechische Schuhe, und natürlich hat er vorsichtshalber zwei Paar gekauft, man weiß ja nie. Er arbeitet als Limo-Fahrer oder Hot-Dog-Verkäufer und kann sich in der Mittagspause mit seinem Saxophon auf die Plaza vorm Rockefeller Center stellen, Musik machen und Geld im aufgeklappten Instrumentenkasten einsammeln.
"This is a free land, man, and any guy can do what he wants!" versichert ein Plaza-Bummler.

Der Film ist über weite Passagen mit leichter Hand gemacht, die Freund- und Liebschaften sind behutsam erzählt, ich bin ganz angerührt. So viel Menschlichkeit und Liebe in einer großen Stadt, und ein so vielrassiges Selbstbewusstsein! Die Fernsehreporterin von CBS ist eine Asiatin, die resolute Inspektorin der Einwanderungsbehörde schwarz, und wenn dich im Bus ein ebenfalls schwarzer Hüne mit Irokesenschnitt grimmig fixiert, dann kommt es eben darauf an, ebenfalls tough und mean zurückzustarren, dann geht das schon in Ordnung. In New York mit seiner Mischung aus Feuertreppenidylle, Holzhäuschen über dem Kanal, Times-Square-Gewimmel und Breakdance vor Macy's Luxuskaufhaus hat jeder seine Chance. Die lateinamerikanischen, mexikanischen oder chinesischen Amerikaner können selbst so wenig Englisch, dass die Sprache kein diskriminierendes Hindernis wird. Alle sind gleich, und irgendwann haben sie alle die gleiche Einbürgerungszeremonie durchlaufen, die gleiche Formel im Chor nachgesprochen: "...daß ich künftig keine Herrschaftsansprüche anderer Länder vertreten werde sondern nur noch Frieden und Freiheit, so wahr mir Gott helfe...". Jeder hat die Wahl, aus seiner ökonomischen und sozialen Lage das beste zu machen, oder es eben sein zu lassen. Das ist Freiheit.

Ich habe mich bei dem Film nicht gelangweilt. Aber mir wurde manchmal etwas flau bei dem Gedanken, wie dieser Streifen auf einen amerikanischen Zuschauer wirkt, der nicht immer meine Vorbehalte im Kopf hat: gegen dieses ganze Freiheits-Gedöhns, gegen den hohen Preis, den der Eintritt in den Machtbereich dieser Freiheit kostet, gegen die geflügelte US-Weisheit "First America ist greatest and second Number One". Indirekt wird es einem tagtäglich in den amerikanischen Medien vorgebetet, und irgendwann glaubt man es. Dabei ist Freiheit kein Wert an sich, sondern nur in Richtung auf etwas: Gerechtigkeit zum Beispiel, Solidarität, Menschlichkeit. Gerechtigkeit bedarf konkreter Gesetze, und außerdem einer Haltung, die diesen Gesetzen zur Wirkung verhilft. Es gibt Gesetze gegen die Diskriminierung schwarzer Bürger bei der Wohnungssuche. Es sind hohe Strafen angedroht, wenn man sie dabei behindert. Aber nachbarschaftliche Beziehungen kann kein Gesetz stiften, und kein Gesetz hindert weiße Bürger, bei Ansiedlung von Schwatzen in ihrer community wegzuziehen. Die herrschende Sittlichkeit in den USA steht unter dem Dogma der Freiheit. Das hieß bei uns früher in der Schule: hier handelt es sich um eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für menschliches Leben.

Bei uns in der BRD läuft derselbe Film (nicht nur "Moscow on the Hudson", sondern gesellschaftlich). Alles ein bisschen betulicher, verbrämter, ein bisschen hinterher. Kein Wunder, dass Zonis in der BRD entweder groß einsteigen oder untergehen. Was gesagt wird, ist immer das Gegenteil dessen, was gemeint ist. Das muss man erst mal übersetzen können. Daran kann man ausrasten. Vielleicht sollte man Zonis raten, lieber gleich nach New York rüber zu machen, da haben sie Freiheit pur und keiner versucht ihnen das was anderes zu verkaufen. Manhattan ist da irgendwie ehrlicher als Frankfurt-Sachsenhausen.

Long Island
Ranger räumen die letzten Zäune vom weißen Strand, die den Winterwind hindern sollten, zu viel Strandsand zu klauen. Die Sonne kämpft gegen die frische Brise. In einer Dünenmulde liegen wir in Mäntel gemummelt auf einer Decke und versuchen ein Sonnenbad zu nehmen. Wiebke will meinen Vorschlag umsetzen, sich das lange Band, das sie gefunden hat, um die Hüften zu binden und sich selbst wie einen Drachen fliegen zu lassen. Es klappt nicht. Die Sonne ist auch schon wieder weg. Man kann die Ostereier nicht schnell genug verstecken, um sie dann noch während der aktuellen Sonnenscheinphase wiederzufinden. Long Island ist schön. Wir mussten vier Stunden lang südlich um Manhattan herum durch ein New York herkurven, dass man nun wirklich niemandem empfehlen kann, langweilig, dreckig, zersiedelt. Schade, denn Long Island ist wirklich schön, und es wird schöner, je weiter man von New York entfernt ist.

Ramapo Lake
Die Ente fliegt einen Meter über der Wasseroberfläche schnurgerade auf mich zu, zweihundert Meter, fünfhundert. Ihre kehlige, etwas kratzige Stimme klingt genervt. In einer sanften Kurve überfliegt sie mich, landet etwas weiter unten in einem der kleinen Teiche, die der Abfluss des Sees bildet, einen kleinen Wasserfall an den anderen reihend. Ansonsten ist Ruhe. Die Ruhe des Wasserspiegels in windstiller Luft, die Ruhe der menschenleeren bewaldeten Ufer, die Ruhe des unbewegt stehenden grauen Himmels, dieser Wolkendecke aus anthrazitfarbenem Cashmere, weicher, gelangweilter Wolle, die Ruhe hat viele Grautöne.

Deutsche Ostern
Es kommt selten vor: aber heute steht in der New York Times eine Notiz über Westdeutschland. "US-Raketen sind Ziel deutscher Marschierer". In Mutlangen und anderen deutschen Städten sind 600.00 (wie die Organisatoren sagen) bzw. 200.000 (wie die Polizei sagt) Osterdemonstranten unterwegs gewesen. In Mutlangen bildeten sie eine Menschenkette rund um die Airbase. In München zogen 15.000 Menschen eine Menschenkette um einen aus Weltkriegstrümmern aufgeschütteten Berg. In Köln taten sich 10.000 Menschen zusammen und bildeten eine Menschenkette um die ganze Altstadt.

Köln? fragt sich der Durchschnitts-Leser der New York Times, das ist doch da wo der Dom steht, okay? Sehr schön, dieser Dom. Den kennen auch die Amis.

Und dann denkt er weiter: die spinnen, diese Deutschen. Machen einen Mordswirbel um das Ende der Menschheit (waren ja schon immer etwas schicksalsdüster), und dann rennen sie herum und machen da ihre Menschenketten. Die mit ihrem Ringelreihen. Putzig.

Wir bringen ihnen die Wirklichkeit direkt ins Haus!
Auf Kanal 13 erzählt der Wissenschaftler einer kleinen Gruppe College-Boys etwas über die unglaublich spannende, zukunftsweisende und arbeitsplatzschaffende Entwicklung von Mikrochips. Computer sind, lernen wir, Fortschritt pur. Nur die Nachfolger der Maschinenstürmer aus der Zeit der ersten industriellen Revolution warnen vor der Verdrängung der Menschen aus den Arbeitsplätzen, und damals haben ihre Ahnen auch schon Unrecht gehabt. Im Jahre 1990, sagt der Wissenschaftler voraus, wird der weltbeste Schachspieler eine künstliche Denkeinheit sein. Jetzt müssen wir nur noch daran arbeiten, den Computern auch Aggressivität und Angrifflust beizubringen. Nur so können sie sich auch zur Wehr setzen, wenn jemand unrechtmäßig an ihnen herumspielen oder sie ausbeuten will, ohne die Legitimation dazu zu haben. Und nur so kann das Eigentumsrecht an den Computern und den in ihnen gespeicherten Datensätzen gewährleistet werden.

Da haben wir doch mal wieder richtig was gelernt. Dazu ist Kanal 13 da, der Intellektuellenkanal, der einzige ohne Werbespots. Allerdings gibt es auch hier am Anfang und am Ende jeder Sendung den wichtigen Hinweis: "Die Sendung "Business Weekly" wurde ihnen präsentiert von AT&T, der First National Bank und Pontiac ('We build excitement')".

Auf Kanal 7 und 9 gibt es die täglichen soap-operas, die Endlosserien mit der Aneinanderreihung tragischer und komischer Liebes- und Familienkonflikte, jeden Tag eine neue einstündige Folge (davon fast ein Drittel Werbung), jahraus, jahrein. Wenn die Hausfrau das Bügeleisen anheizt, um die Legitimation für das mittägliche Fernsehvergnügen zu schaffen, versorgt sie sich gleichzeitig mit dem nötigen Sozialextrakt, mit netter Nachbarschaft und mit drahtloser Beziehung aus der Kiste. Man kennt sich gut im Lauf der Zeit. Und wenn mal was dazwischen gekommen ist, freut man sich schon wieder aufeinander: wie es wohl Joan geht und den anderen aus "As the world turns"? Hat sie nun ein behindertes Kind bekommen oder nicht? Jeden Tag von halb zwei bis halb drei. Danach jeden Tag die neue Folge von "Capitol". Und danach Comics, weil um drei kommen die Kids nach Hause, die Werbung ändert sich schlagartig von Hausfrauenthemen zu Kinderträumen, und dazwischen Bugs Bunny und Popeye, die poppig-brutale Horror-Show "Krieg der Planeten" und gleichzeitig auf dem Bildungssender 13 die Sesamstraße für die ganz Kleinen, das gut duchgestylte Vorschulprogramm, "heute präsentiert vom Buchstaben F und der Zahl 16" (das ist witzig - und das ist keine Werbung, aber es bereitet darauf vor). Am Spätnachmittags sind dann die Teens dran mit der brutalen Action-Serie "Vegas" oder mit "Charlie's Angels". Daneben immer die absolut hirnamputierten Familienserien, in denen an vermeintlich falschen Bärten gerissen wird und Leute fallen in voller Montur in den Pool und was es sonst noch so an umwerfender Komik gibt, und Publikumslachen ist alle drei Sekunden eingeblendet, egal was gerade passiert. Diese Nische des Fernsehens ist vorsätzliche Körperverletzung.

Zwischen sieben und acht gibt es die Nachrichtensendungen. Sechs verschiedene sind es, meistens eine halbe Stunde lang, nur Kanal 13 (sie wissen schon, der mit der Bildung...) gönnt seinen Moderatoren McNeil und Lehrer eine Stunde Zeit. Das Team besteht in der Regel aus vier Leuten, einem Nachrichtenpärchen, einem Moderatoren für den Sport und einem für das Wetter. Der hat es am schwersten, sich was einfallen zu lassen, dass man ihn von denen der anderen Sender unterscheiden kann. Die vier lümmeln sich hinter dem Thresen, und wenn's heiß ist, haben die Männer schon mal das Jackett ausgezogen. Internationale Nachrichten gibt es eigentlich nur, wenn die USA irgendwie rein verwickelt sind: Nicaragua, Golfkrieg und ob die Saudis nun amerikanische Raketen geliefert kriegen sollen oder nicht. Die Chinareise von Nancy und Ronald liefert bunte Bildchen ohne politischen Belang, wie die ganze Reise nun mal so war. Schluss mit Ausland.

Innenpolitik kommt stichwortartig, und die Stichwörter werden schnell ausgesprochen, als ob man sich den Mund verbrennen könnte. Die Leute können wahnsinnig schnell sprechen, ohne sich zu verhaspeln. MX-Rakten im Repräsentantenhaus, Star-Wars-Pläne der Regierung, Vorwahlkampf der Demokraten, aus. Je ein Satz zu jedem Thema, nach vier- fünf Themen ein Witz und Werbung. "CBS News will return to you after these messages" - und die messages entpuppen sich als Werbespots, angereichert durch ein bisschen Eigenwerbung des Senders. In der zweiten Hälfte der News dann die Hauptsache: human touch, Sensationen und Katastrophen. Officer Bob, der nach 26 Jahren Dienst als Verkehrspolizist an derselben Kreuzung nun in den wohlverdienten Ruhestand geht, wird von regelmäßigen Passanten "seiner" Kreuzung in Long Island verabschiedet. Drei von ihnen sagen je einen Satz in die Kamera, Schnitt. Das neueste über den Brand in einem Vergnügungspark, dem in der letzten Woche acht Jugendliche zum Opfer fielen. Heute war Trauerfeier in der Schule, betroffene Fünf-Wort-Statements von Mitschülern, Schnitt. In Jersey City bietet anlässlich eines kommunalpolitischen Zwistes einer der Kontrahenten dem anderen an, es wie Männer über drei Runden im Boxring auszutrage. Das Ganze in 2 Minuten vierzig, Schluss. Wieder Tornados in Louisiana und Überschwemmungen in Utah, ein ausführlicher Bericht über selbstlose Nachbarschaftshilfe im Überschwemmungsgebiet. Dafür muss man sich Zeit nehmen, es geht um den american spirit, sieben Minuten.

CBS, NBC, Independent News - das ist alles austauschbar. Allenfalls ABC guckt noch mal ein wenig hinter eine Kulisse, aber die Unterschiede sind graduell. Die Moderatoren, meist Mann und Frau, sind alte Bekannte, kalauern sich durch die Sendung, haben viel Spaß bei der Arbeit, und gleich wird wieder dieser Idiot von Wettermensch seinen tierischen Schrei ausstoßen, mit dem er jeden Abend irgendwen in Connecticut, Hoboken oder sonstwo im Sendegebiet grüßt.

Und dann gibt es einmal diese halbe Stunde, die sich die Freeze-Bewegung gekauft hat, die für Verringerung der Militärausgaben kämpft und für eine friedliche Welt. Da gibt es zur besten Sendezeit um acht Uhr abends eine halbe Stunde ohne Werbung, in der sich engagierte Journalisten mit der weiltweiten Aufrüstung und den wahnwitzigen Weltraumrüstungsplänen der amerikanischen Regierung beschäftigen, kritisch und offensiv, richtig guter Journalismus. Einmal bei ABC 20/20 ein Bericht über ungeklärte Schlüsselfragen beim angeblichen Selbstmord des CIA-Spitzenagenten Weisz vor zwei Jahren. Das war's. Nicht viel zu beißen für alle, die nachrichtenhungrig sind.

Da muss man sich dann abends mit den Filmen behelfen. Dieses Jahr ist "The Dollmaker" mit der tollen Jane Fonda der Muttertagsfilm, und im zweiteiligen "Mystic Warrior" wird spannend und beeindruckend authentisch von der Begegnung eines Indianerstamms mit der Siedler-Zivilsation berichtet. Marlon Brando, Peter Sellers (diese reizende Fahrstuhl-Szene in "Good Morning, Mr. Chance"), Clint Eastwood, einmal Hardy Krüger in Nordafrika (Rommel-Feldzug...), mit den Filmen lässt sich leben. Eine Überdosis Alltag und Realität wird so sicher vermieden. Don't miss this!

Virginian Rhapsody
Das Getreide steht über einen Meter hoch. Grün wogt das Ährenmeer in seichter Dünung -

Zu abgegriffen.

Das hier sieht natürlich aus, voller Kunst. Wie bei der Ästhetik japanischen Tanztheaters fließt in Formen, in Bewegung und Struktur, ohne dass einer der Tänzer seinen Platz in der Reihe verlässt. Als wüsste jeder Tänzer, jede Ähre also um die mythische Bedeutung der Rituale, als ordne sie sich der Wellenbewegung des Ganzen unter, dankt der wiegende Ährenteppich der leichten Massage durch die Sonne.

So könnte es gehen.

Eine gemalte Galerie hoher Bäume in allen Tönen der Palette von gelblichblühend bis dunkelblattgrün steht hinter dem Feld, Stämme und Äste bräunlich und auch grau getönt, darüber steht Himmel blau.

Und mitten im Kornfeld ein haushoher Hügel aus Büschen, rankenden Grünpflanzen, getigert mit den fliederfarbenen Blüteninseln einer anderen Frühlingsranke - da stand einmal ein Haus.

Eine Hütte vielleicht mehr, aus Holz gezimmert, verlassen vor vierzig oder fünfzig Jahren. Sie sind einfach weggegangen, das Haus stand einsam und wartete, und eines Tages war es ganz eingekesselt von den Feldern, die die Wege eingenommen hatten, den Garten und alles. Efeu und Blumen, Büsche und Gräser wuchsen zu einer erdrückenden Macht, verbündeten sich mit Sonne und Regen, erst blätterte die Farbe ab, Nägel und Beschläge rosteten, Unterstützung brachte der Frost, und sie baten den Wind um Hilfe und er drückte die Fenster ein. Der Regen griff mit seinen langen Fingern durch die Löcher im Dach, zermürbte die Balken und ermunterte Käfer und Moose. Links gab der Giebel zuerst nach, knickte ein und das Haus ging in die Knie wie ein waidwunder Stier. Bald gab es nur noch einen grünen Hügel, aus dem einige Balken staken. Und irgendwann wird auch hier Korn wachsen, wird sich einordnen in das uralte Ritual des Ährentheaters.

Newport News (Holiday Inn)
Die Hotel-Lounge ist schwarz tapeziert, mit gemütlichen bunten Mustern, oder was Computer so für gemütlich halten. Das Licht ist wie immer etwas zu dunkel. Ein paar Hotelgäste sitzen verteilt im Raum, untätig, versuche nícht zu gelangweilt auszusehen. Die Aircondition verbreitet Kühle, ich hole einen Pullover aus dem Zimmer. Die wuchtigen Sessel (Form "englischer Club", Holz und rotes Kunstleder) bewegen sich auf Rollen wie in einem amerikanischen Büro. Rote und grüne Scheinwerfer bringen einen leichten Hauch von Las Vegas in den Raum (zugegeben: einen sehr leichten Hauch nur, aber immerhin). Die Weingläser sehen rustikal aus, sind aus Plastik und der Wein ist warm, dafür aber süß. Holiday Inn by night. Eine vierköpfige Band droht mit dem entertainment zu beginnen, Gitarre, Bass, Schlagzeug und Orgel. Die Sängerin an der Orgel kündigt noch irgendetwas mit Geburtstag an, deswegen hängen die Luftballons unter der Decke, in einigen sind Lose versteckt, und um zwölf müssen wir sie alle zum Platzen bringen und nach den verheißungsvollen Losen suchen. Na, das kann ja heiter werden. Ein paar Luftballons befinden sich schon in einem scheinbar schwerelosen Schwebezustand, können sich nicht entschließen weiter zu steigen, sinken aber auch nicht, irgendwo mittendrin, traumverhangen... Die Sängerin trägt einen knappen Jeansrock, der ihre langen Beine schön zur Geltung bringt, und ihr kleiner Pullover ist hinten weit ausgeschnitten, sehr weit. Die Musik dröhnt los, weitere Gespräche sind ausgeschlossen, man muss schon zuhören. Ich bin völlig von den Socken: die Sängerin klingt wie Patti Smith plus Gesangsunterricht, und das passt wirklich gut. Der Schwarze am E-Bass singt und spielt wie der größere Bruder von Michael Jackson, und es macht ihm einen Höllenspaß. "Beat it" oder Bowies "Let's Dance" gehen tierisch gut ab, es folgen ein paar Funk-Nummern, die dieses von mir an sich nicht so goutierte Genre absolut rehabilitieren, ein paar Gäste lassen sich hinreißen zu klatschen, und um halb zwölf sind meine Schwester und ich so weit, dass wir auf der kleinen verspiegelten Tanzfläche zu "Jumping Jack Flash" von den Stones tanzen. Weiße Europäer in einer Stadt, deren downtown ihnen am frühen Abend zu "schwarz" schien, da passten sie nicht hin, jetzt hier im Holiday Inn auf einer verspiegelten Tanzfläche in einer schwarz tapezierten Lounge, bei zu warmem burgundy und absolut geiler Musik. Eine skurrile Situation. Nicht schlecht.

Der patriotische Traum
Williamsburg ist ein Traum, ein amerikanischer Traum. Nach der Zusammensetzung der Besuchergruppen geurteilt: ein weißer Traum (plus Japaner in Massen). Ich komme skeptisch an, angesichts meiner Vorabinformation: Williamsburg ist ein Museumsdorf, das von Familie Rockefeller in den letzten fünfzig Jahren auf dem Stand von 1850 restaueriert wurde. Die Häuser sind bewohnt, tagsüber laufen die Bewohner in historischen Kostümen rum, nach Feierabend in Jeans. Die Handwerksbetriebe werden mit Originalwerkzeugen betrieben Korbflechter, Küfer, Drucker (man kann sich sein eigenes Dokument drucken und mitnehmen). Washington und Jefferson lebten hier, im Schlösschen tagte das erste Parlament von Virginia. Ein paar Kilometer weiter waren die ersten Ansiedlungen englischsprachiger Siedler auf dem amerikanischen Kontinent, und die Schlacht beim benachbarten Yorktown brachte unter Washington die Wende gegen die britischen Kolonialherren. Ein geschichtsträchtiges Disney-Land des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges? Bei dem allgegenwärtigen Freiheitspathos der Amis kann das ja nett werden.

Aber: es ist schön, verzaubert schön. Dutzende von Wohnhäusern mit hunderten von Nebengebäuden, manche aus Stein, die meisten aus Holz und schneeweiß gestrichen, oder rot. Wenn man die touristenüberlaufene Hauptstraße verlässt, in die Vielfalt der größeren oder kleineren Gärten eintaucht, dann lässt man die Gegenwart hinter sich. Alles ist hier Museum, im Wortsinne als Ort, wo die Musen von der Geschichte der Menschen künden. Kräutergärten, Gemüsegärten, schmucke Ziergärten oder wilde Naturgärten zum Bach runter - jedes für sich eine Idylle, menschenleer. Viel Rasen, Hecken und weiß gestrichene Holzzäune und jahrhundertealten Baumriesen, mit weiß und rot und rosa blühenden Büschen und Bäumchen, und hinter dem Garten beginnt der Urwald. Laub- und Nadelbaumdom über umgestürzten Stämmen und sumpfigen Flecken, eine wuchernde und rankende Wildnis. Hier im Garten riecht frisch gemähter Rasen nach süßer Sonne, und die weiße Gartenbank an der Hecke spricht ihre freundliche Einladung aus. Sanft steigt der Rasen zu den Beeten am Haus, zum Ziehbrunnen und den beiden Gerätehäuschen mit der typischen Giebelform, die die Dachschräge noch einmal auf halber Strecke knickt. Es ist still, nur die Vögel reden durcheinander, irgendwo schnattern Gänse. Da hüpft schon wieder einer der unglaublich roten Kardinalsvögel auf dem Rasen. Ich sitze auf dem Rasen und lausche in mir den Erinnerungen an Sommertage meiner ersten Lebensjahre im 300-Seelen-Dorf Nienhof, mit seinem Kopfsteinpflaster und den Holzzäunen, mit seinen Schuppen und Holzstapeln. Zeit zum Träumen.

Der ganze Ort hier ist ein Traum, den man sentimental oder patriotisch ein ganzes Leben lang träumen kann. Schade, dass er nie wahr geworden ist. Ein Traum, gewoben aus Wünschen nach Freiheit und Ruhe, nach Zufriedenheit, Glück und Einssein mit der Natur. Mit der Eintrittskarte für fünfzehn Dollar kommt man hier überall rein. Sie heißt patriot card.


International Youth Hostel Washington
Zwischen Foyer und Rezeption drängelt sich eine Gruppe Amerikaner um zwei Mitschüler und verfolgt ihre Bemühungen, sich aus den Fesseln einer Geschicklichkeitsübung zu befreien. Ein Schwarzer hat sich ans Klavier gesetzt und spielt "Für Elise". Der Japaner aus meinem Sechsbettzimmer ist glücklich, einen zweiten Japaner gefunden zu haben und nun statt des zungenbrechenden Englisch die Muttersprache benutzen zu können.

Einen zweiten Zimmergenossen habe ich gerade oben auf dem Etagenbett kennen gelernt. Er ist amerikanisierter Philippino, Mitte dreißig, mit einer spanischen Linie mütterlicherweits und einem Vater mit britischen Vorfahren. Er trägt Anzug und ist mit seinem Auto unterwegs, hat das amerikatypische Übergewicht und schwört auf Reagan. Was der Carter in vier Jahren alles falsch gem,acht hat, dieser lausige Erdnussfarmer, also Reagan hätte den Iran sofort hochgehen lassen, und jetzt sieht man ja... ach, ich sei Deutscher? Er hatte auf Araber spekuliert, ich sehe gar nicht so deutsch aus, viel dunkler... ein Freund von ihm, auch amerikanisierter Philippino, ist Offizier bei der Luftwaffe, auf einer großen Airbase in Deutschland, ja, Mutlangen, könnte sein...

Mein japanischer Zimmerkollege hat mich bei unserem ersten Zusammentreffen mit Verbeugung und vor dem Gesicht zusammengelegten Handflächen begrüßt, weil ich älter bin als er, da hat man als Japaner immer Respekt. Er hat beim Visitor Centre einen Stadtplan bekommen, auf dem zwei ganz in der Nähe gelegene Parks mit gelbem Filzstift markiert sind: Drogenumschlagplätze, nicht hingehen! Das Youth Hostel liegt im Übergangsbereich zwischen dem business district und black Washington. Siebzig Prozent der Einwohner von Washington sind schwarz, der Bürgermeister ist schwarz, und ganz schwarz sind abends die Parks, so klein sie auch sein mögen, Grünanlagen an Straßenkreuzungen meist, da sitzen abends Schwarze, fast immer mit der thunderbox , dem riesigen Kofferradio für Rap und Reggae, bag people dazwischen mit ihrer ganzen Habe in Plastiktüten, Rastas und Black Muslims mit den gehäkelten oder gestrickten Käppis in rituellen Farben. Direkt neben dem Hostel steht ein anderes Hotel mit Dauergästen, das sich seit dem schwarzen Freitag von 1928 nicht mehr so recht erholt zu haben scheint. Dort wohnen schwarze Familien, abends sitzen sie auf der großen Treppe vom mezzanine zur Straße runter, vom Krabbelkind bis zum graumelierten Familienoberhaupt. Sehr lebendig und immer wieder sehr fremd.

Die Gäste des Youth Hostel sitzen drinnen. Am Nebentisch diskutieren einige Australier über den Unterschied im Verkehrsverhalten der Ost- und der Westküste. In San Fran habe der Fußgänger Vorrang, hier beharren die Autofahrer auf ihrer Vorfahrt, wenn sie grün haben, echte Rechthaber. Hier ist alles viel rücksichtsloser. Also wenn die jungen Leute mal nach Hamburg kommen, da fühlen sie sich ja nur noch gejagt von den Autos! Ich jedenfalls finde es auch hier an der Ostküste vergleichsweise ausgesprochen cool, was den Verkehr angeht. Die Autos schaukeln in aller Ruhe durch die Stadt, keiner regt sich auf, wenn es nach dem Wechsel auf Grün mal ein paar Sekunden dauert, ehe es weitergeht, da würde ein deutscher Normalfahrer aber schon mal ganz schön nervös werden und es würde sofort gehupt - hier nicht.

Ein Typ dreht sich eine Zigarette mit holländischem "Drum"-Tabak. Ich frage, wo er den her hat, und es ist (wie schon vermutet) ein Deutscher, wer würde denn sonst hier selber seine Zigaretten drehen? Er erzählt von seinen Studien in den Bibliotheken von Denver und Boston, er ist den Beeinflussungen deutscher Politik der sechziger Jahre durch die USA auf der Spur. Er geht lieber in ein irisches Pub ein paar Straßen weiter, da fühlt er sich unbeobachtet. Manchmal ist mir etwas merkwürdig, wenn er darüber berichtet, wie Kennedy die Deutschen erpresst hat und wie entschlossen er den Mauerbau geduldet hat, welche Undercover-Geschichten da gelaufen sind, er promoviert darüber und hofft, das alles tatsächlich mal veröffentlichen zu können, aber wer weiß... Die Drehungen in seinen quirligen Erzählungen werden schneller, und ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. So ist das eben mit den Deutschen und den Amerikanern. Ich durchschaue es nicht.


Mary, 51, Telefonistin
Der Bus nach New York verlässt die Greyhound-Station in Washington im Nieselregen. Die Dame auf dem Fensterplatz neben mir klagt, dass sie ihrer Schwester in Long Island nicht gesagt hat, ob sie um halb drei Uhr morgens oder um halb drei nachmittags in New York ankommt, sie hat nur "halb drei" gesagt, und das kann in Amerika nachts sein oder tags. Wenn die nun schon um drei Uhr nachts am New Yorker Busbahnhof Port Authority gewartet hat, nicht auszudenken, die bringt mich um. Aber sie wird sich doch ausrechnen können, wenn ich um halb zehn abends in Kentucky losfahre, dass ich nicht viereinhalb Stunden später in New York sein kann. Hoffentlich hält dieses Regenwetter nicht an. Gestern in Kentucky, als ich losgefahren bin, war es so schön und sonnig, und morgen heiratet meine Nichte, deswegen mache ich ja den weiten Weg, und das wäre ja alles viel schöner, wenn die Sonne scheinen würde. Und meine Mutter will ich auch noch mal sehen am Muttertag, vielleicht ist es der letzte Muttertag, den sie erlebt. Sie reagiert gar nicht mehr, als ich sie vor einem Jahr das letzte Mal besucht habe, hat sie schon nicht mehr gesprochen. Jetzt ist sie schon seit über einem Jahr im Krankenhaus, obwohl sie in einem Heim sein sollte, aber es ist einfach kein Platz zu finden. Meine Brüder zahlen Unsummen, damit sie wenigstens im Krankenhaus bleiben kann, wer weiß, wo man sie sonst reinstecken würde. In ihrem Häuschen ging das nicht mehr. Sie hat jeden Tag ihren gewohnten Spaziergang gemacht, mit ihrem Krückstock auf Rollen, das hat sie sich einfach nicht ausreden lassen, aber irgendwann hat sie einfach nicht mehr nach Hause zurück gefunden, das war im November und es war kalt und sie irrte herum. Na ja, da haben dann meine Brüder entschieden, dass das Haus verkauft wird, während sie im Krankenhaus war. Es hat nicht mal einen Familienrat oder so was gegeben, das haben die einfach so gemacht. Das kleine Häuschen hätte ich vielleicht gern genommen, ich wäre wohl gern wieder nach Long Island zurück gegangen. Ja sicher, haben meine Brüder gesagt, kannst du haben, für deißigtausend Dollar, da kannst du es haben wie jeder andere auch. Sehr witzig. Ich und dreißigtausend Dollar. Meine Brüder haben alle ihr eigenes Haus, der älteste von ihnen schickt seine Söhne auf die teuersten Universitäten in Kalifornien, für uns Frauen genügte ja immer der Highschool-Abschluss. Und mein Geschiedener hat sich immer geweigert, mir eine College-Ausbildung zu bezahlen. Er wollte mich lieber immer dumm halten, runterdrücken, aber ich habe rausgekriegt, dass ich da nichts werde, wenn ich immer den Duckmäuser spiele. Ich schlage da auch viel mehr nach meinem Vater, wenn der wütend war, dann hob das Dach ab. Seine Eltern waren aus Deutschland gekommen, meine Mutter aus Polen. Wo ich aufgewachsen bin, in Brooklyn, da wohnten lauter Polen. Na ja, und als mein Mann von der Army verabschiedet wurde, mit vierzig, da hatte der keine Ahnung, wie er an einen Job kommen sollte. Wir waren da ja schon nach Kentucky gegangen, und ich kannte jeden im Ort, aber er hatte keine Ahnung. Mit Jobsuche hatte er ja nie was zu tun gehabt, war ja immer bei der Army. Ich bin in alle Kirchen gegangen, Methodisten, Baptisten, Katholische, da oben gibt's nur einen Gott, habe ich gesagt, und ich hab alle im Ort gekannt. Jerry, hab ich zum Bürgermeister gesagt, ich duze sie ja alle, also Jerry, sage ich, mein Mann braucht einen Job. Was ist er denn? Klempner. Gut, ich hab da ein paar Baustellen, da gibt es immer was zu tun. Mein Mann wär fast gestorben, er hätte nie einen Job angenommen, den ich ihm verschafft habe. Na gut, hab ich ihm beim nächsten Mal eben nichts davon erzählt, dass ich das alles eingefädelt habe, und den Job hat er heute noch als Hausmeister bei HUD, Housing and Urban Development, also beim Staat. Aber ich hatte dann genug von den Schlägen, die ich von ihm eingesteckt habe, bin abgehauen. Und als er dann nicht gezahlt hat für mich und die Kinder, da hab ich bei ihm vor der Tür gestanden und er hatte ne andere da und wir waren noch nicht mal geschieden. Gut, ich hätte nicht "Hurensohn" zu ihm sagen sollen, das geb ich zu. Aber wie er mich da am Gürtel und am Kragen gepackt hat und die die Stufen vorm Haus runtergeschmissen hat auf den Beton, das werd ich nie vergessen. Richtig geflogen bin ich da. Und trotzdem bin ich wieder zu ihm gegangen, als er mich angebettelt hat. Ich weiß auch nicht warum. Aber er hat mich wieder geschlagen, und ich hab mich endgültig scheiden lassen. Das war siebenundsiebzig. Und er hat wieder eine viel jüngere, ich bin jetzt einundfünfzig, auch wenn man mir's nicht ansieht, weil ich so schlank bin, aber ich geh eben viel zu Fuß, den anderen sag ich immer, wenn die mich fragen, woher ich denn noch so schlank bin, sie sollten einfach mehr zu Fuß gehen, aber die machen ja alles mit dem Auto. Jetzt hat er eine viel jüngere, und dauernd erzählt er mir, er weiß gar nicht, wo das ganze Geld immer bleibt, zu essen ist oft nix im Haus, aber zu trinken haben die immer. Bier, Wodka, da wird immer getrunken. Kentucky ist ja ein trockener Staat, da gibt's in keinem Laden Schnaps oder Bier, aber da gibt es ja Möglichkeiten. Ich zum Beispiel, ich tanz gern, ich geh gern aus. Wenn ich samstags mit meinen Freunden ausgehe, dann fahren wir einfach über die Berge nach Tennessee, gehen da tanzen und nehmen ein paar drinks. Nicht zu viel, ich will ja nicht schwindlig werden, früher hab ich das mal erlebt, dass ich am nächsten Morgen arbeiten musste und ich bin auf dem Weg ins Büro immer so Schlangenlinien gegangen, und da hab ich mir gesagt, Mary, so heiß ich nämlich, wie heißen Sie denn, ach, das ist aber ein schöner Name, also Mary, hab ich mir gesagt, das hat ja so keinen Zweck. Und dann trink ich eben ein paar Bier. Mein ältester Bruder, der trinkt viel zu viel Alkohol. Letztes Jahr war ich da und es war so heiß, da hatte er seinen ganzen Kühlschrank voll Bier gepackt und holte sich immer eins nach dem anderen heraus. Und ich hatte so einen Durst, und da bin ich an den Kühlschrank gegangen und es war nur Bier drin, und ich hab gedacht, so ein kühles Bier, das wär jetzt was. Und da hab ich mir eine Dose rausgenommen und sie getrunken. Und als er das gesehen hat hat er gesagt lass sofort das Alkoholtrinken sein. Ich bin immer noch seine kleine Schwester, denkt er, dabei bin ich einundfünfzig und meine Kinder hab ich allein groß gekriegt, die Mädchen sind verheiratet, die ältere hat zwei Kinder und die zweite hat gerade vor vier Monaten ihr erstes Baby bekommen, ein Mädchen, ich hab irgendwo ein Bild von der Kleinen, einen Augenblick... das hier ist Clifford, mein jüngster, der ist jetzt siebzehn, auf dem Bild ist er fünf... das ist die ältere mit ihren Kindern, das war vor zwei Jahren... wo ist denn das Bild... das ist Clifford noch einmal, so sieht er jetzt aus, er geht zur Schule und nachmittags arbeitet er im Supermarkt, bis neun Uhr, seit einem Jahr, sonst könnte er sich sein Motorrad nicht leisten. Er würde gern zur Kunstschule gehen, nach der Highschool, die Lehrer haben ihm so sehr dazu geraten, aber sein Vater wird's wohl nicht bezahlen, dann will er zur Army. Tja, da kann man dann nichts machen, als Mutter muss man sie ja mal ziehen lassen. Ach, da ist ja das Bild von der Kleinen...

Der Bus rollt aus in New York, Port Authority. Mary steigt vor mir aus, hoffentlich wartet die Schwester jetzt nicht schon seit zwölf Stunden, das wär ja was... Aber die Wartenden finden ihren Besuch, ihre Familie, auf Mary kommt keiner zu. Da ist die Rolltreppe, vielleicht wartet sie ja oben in der Halle. Zielstrebig geht Mary auf die von oben kommende Rolltreppe zu, überhört meine Warnung, tritt mit zielsicherer Gewissheit drauf und merkt zu spät, dass es die falsche ist. Na ja, sagt sie, ich hab eben meine Brille nicht auf. Oben in der Halle angekommen ist auch da niemand zu sehen, der auf sie wartet. Ich soll mir bloß keine Gedanken machen, verabschiedet sie mich, sie kommt schon klar.
Tschüs Mary.