Red Rocks and Bluegrass

 

 

Reisebericht über fünf Wochen in den USA und Canada (September/Oktober 2015).

 

1.) British Columbia (Vancouver Island: Telegraph Cove, Tofino), Vancouver

 

2.) Nevada, Utah, Arizona (Las Vegas, Valley of Fire, Lake Powell mit Antelope Canyon, Grand Canyon - North Rim, Bryce Nationalpark, Death Valley)

 

3.) California (Yosemite Nationalpark, San Francisco, Monterey, Highway No.1 bis Los Angeles)

 

Seals vor Sonnenaufgang: Vancouver Island


Teil 1: British Columbia


Dies sind die Erinnerungen und Gedanken zu einer fünfwöchigen Reise durch British Columbia, Utah, Arizona, Nevada und California. Zwei Etappen mit einem in Seattle und einem in Las Vegas übernommenen Wohnmobil (RV), vier von fünf Wochen gemeinsam mit unseren Freunden und deren RV. Fünf Wochen mit Sonnenschein, Nebel und Bodenfrost, aber fast nie Regen. Fünf Wochen mit begeisternden Landschaften und enttäuschenden oder überflüssigen Städten, Menschen voller Freundlichkeit und im ständigen Als-Ob (Anmerkung: zum Modell des "Als-Ob" in der Mentalisierungstheorie  kann man auf dieser Webseite nachlesen in dem Aufsatz "Mentalisierung im Kinderbuch" unter dem Menupunkt "Seelenleben". Der Begriff wird in diesem Bericht noch ein paar Mal auftauchen). Es sind subjektive Eindrücke, aber manches fand ich bei anderen bestätigt. Zum Beispiel in meiner Reiselektüre, dem zum vierten oder fünften Mal gelesenen Kriminaloman „Der lange Abschied“ von Raymond Chandler, der in Los Angeles spielt. Vieles scheint sich in den seit damals vergangenen sechzig Jahren nicht geändert zu haben.

 

Montag, 7. September 2015: Flug Hamburg-Paris-Seattle

Sind Flughäfen von Interesse? Wir haben auf dem Flug von Hamburg nach Seattle sieben Stunden Aufenthalt in Paris Charles de Gaulle. Der Duty-Free-Shoppingbereich mit seinen vielfältigen Sitz-, Klöhn und Liegemöglichkeiten im charmanten Neon-Licht prahlt mit seinen Kaviar-Snacks, Chocolaterie und dem angenehmen Angebot von Rolex-Uhren, Gucci und Prada. Die Brilli-Rolex für 32.000 Euro gefällt mir nicht. Es gibt auch eine Kultur-Nische: durch einen Gang gelangt man in ein kleines Kabinett, wo Pariser Museen hinter Glas eine kleine Auswahl ihrer Riesenschätze präsentierern. Da hängt ein Renoir, steht die Victor-Hugo-Büste von Rodin, stehen Ausdruck und Kitsch in treuter Gesellschaft beieinander. Daneben liegt das stylische Café „Les Cubistes“. Die junge Frau mit den geflochtenen Zöpfchen, aus Afrika oder Amerika oder woher sonst schwarze Menschen heutzutage kommen, liest das Buch „What rich people know & desperately want to keep secret“. Da hätte ich gern mal reingeguckt.

 

Als wir dann in Seattle ankommen, ist immer noch Montag. Wir sind ja mit der Zeit geflogen. In Seattle herrscht Feiertagsstimmung, Labor Day, am Hafen fahren die Leute mit dem Riesenrad oder essen Lachs mit Pommes. Ein buntes Gemisch von Hautfarben und sozialen Schichten, auffällig sind für uns aus Europa die vielen Bettler und Obdachlosen, die zum Straßenbild gehören. Manche predigen lauthals, wollen gehört werden oder was loswerden. Bei jedem japanisch erscheinenden Gesicht denke ich an den Roman „Schnee der auf Zedern fällt“, der hatte mich tief beeindruckt. Es ging um die Situation japanischer Emigranten in der Region um Seattle im Zweiten Weltkrieg, kurz vor dem Überfall auf Pearl Harbour und danach. Ob US-Bürger aus Japan heute weniger zu kämpfen haben als damals, gegen alltäglichen Rassismus und krasse Ungerechtigkeit? Der Verkäufer bei AT&T, der uns beim Kauf einer SIM-Karte für mein Tablet ausgezeichnet berät und alles perfekt einstellt, kommt auch aus einem asiatischen Land – oder seine Eltern bzw. Großeltern kamen von dort. Er wirkt nicht abgekämpft, sondern angekommen. Er ist ganz fasziniert von der Möglichkeit, mit einem Tablet zu telefonieren wie mit einem Smartphone, das geht in den USA gar nicht, sagt er. Er ist freundlich wie alle hier. Auch bei verizon und Telekom hatten sie uns überaus freundlich beraten – und uns weitergeschickt zur Konkurrenz, entweder weil sie so freundlich waren oder weil sie mit meinem 60-Dollar-Simkartenprojekt ohne Folgeverträge nichts zu tun haben wollten, wer weiß das schon. Freundlich und zugewandt waren auch Gina und Ryan am Desk des Hotel Max, wir wurden bei der Ankunft gleich zu einem Gratis-Bier in der Lounge des Hotels eingeladen, und Ryna druckte uns einen Bus-Fahrplan zu unserer RV-Station am nächsten Morgen aus. Perfekt. So viel Freundlichkeit tut gut, Als-Ob oder nicht, wir wurden plötzlich auch ganz umgänglich. Sogar die am nächsten Morgen bei Starbucks neben uns frühstückenden Cops sahen irgendwie freundlich aus. Wahrheit oder Pflicht, das war ein beliebtes Pfänderspiel, und in der HörZu gab es „Original und Fälschung – Finden Sie die sieben Fehler?“ Vielleicht ist ja aber auch alles ganz echt. Es glättet auf jeden Fall den Alltag.

 

Dienstag, 8. September 2015: Seattle - Vancouver Island

Wir haben unser RV übernommen und sind auf dem Weg von Seattle nach Vancouver Island, passieren die Grenze nach Canada und biegen links ab zum Fähr-Terminal von Tsawassen. Das riesige, eingezäunte und betonierte Gelände liegt im Abenddunkel und ist sehr, sehr einsam. Wir haben die Fähre um viertel nach acht Uhr abends knapp verpasst und müssen nun bis viertel vor elf Uhr warten. Wir haben die pole position auf Spur 25, die anderen Spuren sind leer. Es ist Platz für tausend Autos, aber die sind alle schon zuhause, nur wir müssen warten. Die zuletzt von Victoria angekommenen Fährpassagiere sind mit den Bussen verschwunden, das Terminalgebäude ist bis auf ein Paar Reinigungsmenschen leer – bis auf zwei Angestellte hinter einem Thresen, die am Computer zu tun haben. Linda spricht eine an, wann wir denn wohl in Nanaimo auf Vancouver Island ankommen werden. Na ja, meint sie, um eins in der Nacht müssten wir wohl vom Schiff runter sein. Als sie mitbekommt, dass wir auf den Campground in Nanaimo wollen und nun gar nicht wissen, wie wir da mitten in der Nacht reinkommen sollten, ruft sie sofort dort an und klärt das: Sie gibt uns den Code für die Eingangsschranke weiter, den ihr der Campgroundmitarbeiter bereitwillig genannt hat, und erklärt uns, am Office würde eine Liste mit den freien Stellplätzen hängen, davon könnten wir uns dann einen aussuchen.

Auf der Fähre gibt es einen Shop mit Souvenirs und Outdoor-Equipment. Was man alles so braucht im hohen Norden (zumindest gefühlt hohen Norden, Nanaimo  liegt auf einer Höhe mit Karlsruhe). Die Klamotten sind von Killtec, der "bekannten Weltmarke" (oder etwa nicht?) für Sport und Draußen, mit Sitz in Buchholz/Nordheide.  Meine Regenjacke hängt schon auf dem Bügel am Ständer, ganz in grasgrün. Wir fühlen uns angekommen.

Genau wie beschrieben klappt es auch in Nanaimo, und wir verbringen den Rest der Nacht auf dem Living Forest Campground mit einem tollen Ausblick über das Meer, von dem wir nichts ahnen. Wir schlafen bis neun und frühstücken auf einer Plattform über dem Meer, die in der Saison für das kleine Camping-Cafe genutzt wird und jetzt uns gehört, im Sonnenschein und mit eingeschränktem Angebot: Es gibt Tomatensaft aus der 2-Liter-Flasche von Campbell („America's Greatest Tomato Juice“) und Dillgurkenscheiben „Hamburger Style“, die sind von Walmart und haben rein gar nichts mit Hamburg zu tun, sondern sind für Hamburger gedacht. Außerdem kriegt jeder zwei Scheiben kräftigen Cheddarkäse. Bei Cruise America, unserem RV-Vermieter, hatten sie uns in Seattle Angst gemacht: bloß kein frisches Obst oder Gemüse oder überhaupt frische Lebensmittel mit über die Grenze nehmen, wenn die Zöllner das entdecken, kann man stundenlang gefilzt werden, die sind da sehr genau. Wir haben also auch kein Brot mitgenommen, ist ja auch frische Ware. An der Grenze haben sie dann zwar kaum unsere Pässe angesehen und sonst gar nichts, aber wir haben kein so rechtes Frühstück, geht auch so. In der allergrößten Not schmeckt der Käse auch ohne Brot.

 

Mittwoch, 9. September 2015: Telegraph Cove

Auf der Fahrt nach Telegraph Cove im Norden von Vancouver Island (Ziel: Orcas gucken) wird der Wald immer dichter. Nur wenige Areale sind kahlrasiert von der angeblich ganz nachhaltigen Forstwirtschaft, und die einzigen belebten Plätze sind bald die Buchten, in denen die Riesentrucks die Baumstämme zusammenkarren und sie auf dem Wasser zu riesigen Flößen zusammengebunden werden. Das ist für das Holz gut, und es lässt sich außerdem leichter transportieren.

Telegraph Cove ist ein winziger Ort mit einem Naturhafen, entstanden so in den zwanziger, dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, in der Folge der Holzindustrie. Die zehn, zwölf Holzhäuser liegen um das Hafenbecken, mit einem Boardwalk im Halbrund verbunden, bunt gestrichen, alle auf Pfählen, räkeln sich in der Abendsonne und in der lauen Luft des Spätsommerabends. Das Killer Whale Café wirkt einladend, sogar das neue Appartmenthaus fällt nicht unangenehm auf. Das älteste noch stehende Haus ist von 1940. Der Boardwalk knarrt gemütlich, und ein Truck im finalen Stadium endgültiger Verrostung strahlt eine gelassene Zeitlosigkeit aus. Natürlich leben hier alle von den Gästen. Aber deswegen muss man ja nicht alles lackieren, eine geniale Schludrigkeit liegt über dem Ganzen: Warum alles aufpolieren? Das erledigt schon auf angenehmste und ganz unaufdringliche  Art und Weise die Septembersonne, kurz bevor sie untergeht.

Telegraph Cove, hier auch mal ohne Sonne

 

Donnerstag, 20.September 2015: Telegraph Cove

Whale watching mit Leo und seiner Yellow Banana

Morgendlicher Regen und trüber Himmel über dem Frühstückstisch weichen ersten Sonnenstrahlen. Lag Telegraph Cove zunächst noch im Nebel, schwitzen wir jetzt auf der Bank am Hafen in der strahlenden Sonne und warten auf Leo, der uns vier mit seinem Boot „Yellow Banana“ zu den Orcas bringen will. Los geht’s, und seine erste Frage an ihn muss ich gleich (für ihn, wie mir scheint, enttäuschend) abschlägig beantworten: Nein, Angelerfahrung habe ich überhaupt nullkommakeine, und jagen bin ich auch noch nie gegangen. Ich höre ihn förmlich denken: Städter und Warmduscher, das hat mir gerade noch gefehlt – aber er lässt sich nichts anmerken. Ich weiß also nicht sicher, ob er enttäuscht ist von mir, ich verstehe ihn nicht immer, sein Kaugummi-kanadisch macht es uns auch nicht leicht. Aber nett ist er, das merken wir dann schnell. Und er zeigt uns alles. Zuerst sind die Adler dran, er fängt plötzlich an zu angeln (was soll denn das? fragen wir uns), lässt das Boot an einer bestimmten Stelle treiben, da oben auf einer Tanne sitzt er, der Weißkopfadler. Auf einen bestimmten Pfiff hin breitet er die Schwingen aus, Leo wirft einen Fisch wenige Meter vom Boot entfernt ins Wasser, und der Adler schnappt ihn sich mit den Krallen, schon ist er wieder weg. So schnell kommen wir mit dem Knipsen irgendwie gar nicht nach. Heute gibt es Barsch, noch einen, und dann weiter zu den Orcas und Delfinen, den Buckelwalen und Seelöwen. Bisher haben alle zu tun gehabt, schwimmen und tauchen und springen und fliegen, nur jetzt die Seelöwen liegen faul auf dem Felsen in der Abendsonne und trompeten rau vor sich hin. Seelefant aus der „Urmel“-Version der Augsburger Puppenkiste hätte seine Freude an ihnen gehabt, er lag ja auch immer auf einem Felsen und sang „trauräge Lääder“, er konnte kein „i“. Ob das seelöwentypisch ist, bekomme ich nicht wirklich heraus, dieser Sprachfehler, vielleicht ist es auch eine Erfindung des Autors Max Kruse. Der ist übrigens gerade verstorben, aber ich schweife ab.

Um die ganzen Tiere herum eine grandiose Landschaft mit Inseln, wohin man guckt (wir vertrauen auf Leo, dass er aus diesem Gewirr wieder herausfindet), kleine und große Inseln, felsige und bewaldete. Dazwischen immer wieder Nebelstreifen in der Sonne, lecken über Hügel in die Täler, liegen auf dem Wasser. Wir fahren hinein, kein Land mehr zu sehen, keine Insel und kein Berg mehr im Hintergrund, nur graues Wasser. Später sehen wir ein Kreuzfahrtschiff im haushohen Nebel verschwinden, ein bisschen gespenstisch, ein fliegender Holländer, diese moderne Version hier heißt Celebrity Millenium und ist auf der Meyer-Werft in Papenburg gebaut...weg. Leo versucht Wolfgang noch einen Lachs fangen zu lassen, dessen Brückenbauerberuf hatte ihn offensichtlich schwer beeindruckt, er will ihm etwas Gutes tun. Aber irgendwie finden die Lachse den Haken im Nebel nicht, ungerührt hängen die Leinen sechzig Fuß im Wasser, und die Buckelwale sind auch schon alle nach Baja California geschwommen. Also fahren auch wir zurück nach Telegraph Cove. Ob Leo zur Heimfahrt seine elektronische Navigationshilfe benötigte oder sich auch so zurechtfand, weiß ich nicht wirklich. Ich traue es ihm freihändig zu. Auch der kleine Hafen von Telegraph Cove ist vernebelt. Wir nehmen einen kleinen Imbiss im Killer Whale Cafe, und als wir danach in der Abenddämmerung über den Boardwalk Richtung RVs spazieren, schaukelt zwanzig neblige Meter vor uns ein Bär über den Platz. Er beachtet uns nicht (besser isses ja) und tappst ungerührt ins Dunkel.

 

Freitag, 11. September 2015: Telegraph Cove – Tofino

Die Fahrt von Telegraph Cove nach Tofino mit Halt am Old Market in Coombs dauert natürlich länger als gedacht. Das alternativ angehauchte Blockhaus-Ensemble mit den Ziegen auf dem Grasdach bietet Läden mit Surfer-Klamotten von Billabong bis zu Gemüse aus der Region sowie einen großen, vollgestellten Supermarkt mit Spezialitäten aus aller Welt: Thai-Curry-Pasten und italienische Pasta, ein Dutzend Jalapeno-Saucen und Hengstenberg-Gurken sowie Senf von Kühne. Alles, was gut ist. Auch Chorizo und heimischen Honig aus dem großen Tank zum Selberzapfen. Wenn das die Bären wüssten.

Der nächste Campground ein paar Kilometer weiter am Cameron Lake ist voll. Wir müssen doch weiter bis zum Pazifik, zwei Stunden ungefähr noch, und langsam geht die Sonne unter. Zum Glück ist die in Seattle gekaufte Sim-Karte für USA und Canada im Tablet mittlerweile freigeschaltet und wir können telefonieren. Linda sitzt auf dem Beifahrersitz über das Tablet gebeugt und versucht die einheimischen Gesprächspartner aus dem Tablet-Lautsprecherchen zu verstehen. Ucluelet: sorry, we are complete. Es ist das letzte Wochenende, für das gutes Wetter angekündigt ist, und die Festlandkanadier nutzen die Gelegenheit zum Kiten und Wandern. Tofino: auch alles für das ganze Wochenende belegt. Nach diesem zweiten Anruf verabschiedet sich das Netz, nix mehr mit telefonieren, nix mit Internet. Langsam wird es dunkel. Wirklich eine schöne Gegend, durch die wir fahren: Zedern, Berge, Seen, dazwischen kurvt die Straße mit ernst gemeinten Geschweindigkeitsbegrenzungen auf vierzig oder auch fünfundzwanzig Meilen. Man kommt nicht wirklich voran. Wo werden wir landen? Es bleibt ein Platz am Long Beach Golf Course, der trotz der Nachbarschaft zum Edel-Sport einen abgerockten Eindruck macht. Es gibt kein Office, aber freie Stellplätze, wir sollen uns am nächsten Tag im Golfplatz-Büro anmelden. „Bears in the area“ steht warnend auf einem Zettel am Waschhaus, und im Dunkeln finden wir zwei nebeneinander liegende und bärenfreie Stellplätze. Zwar ohne „hook up“, also kein Strom, Wasser oder Abwasseranschluss, aber man kann nicht alles haben. Immerhin gibt es warme Duschen und ein Waschhaus, das sicher im Lauf der letzten Woche schon mal sauber gemacht wurde.

 

Sonnabend/Sonntag, 12. und 13. September 2015 – Tofino

Ein Erkundungs-, Einkaufs- und Reservierungssamstag im lebendigen, aber atmosphärisch nicht wirklich überzeugenden Tofino. Nur der Long Beach mit den Kite-Surfern bei steifer Brise ist anprechend, aber der Wind kühlt uns auch mächtig aus.

Am nächsten Tag stehen wir um halb fünf auf, um zur Bären-Tour pünktlich um halb sieben in Tofino zu sein. Uns wird nicht sofort richtig kalt, weil wir orangene Overalls mit integrierter Schwimmweste anziehen dürfen. Das Boot fasst ein Dutzend Leute,  alle in orange, und am Steuer steht John, der Inhaber der kleinen Firma, die seit dreißig Jahren Whale- und Bear-Watching anbietet. Die Boote der anderen Anbieter sausen auch schon los, viele mit zwei 150-PS-Außenbordern von Mercury, es geht ganz schön ab in die Morgendämmerung. Kurz vor dem Abheben wird das Tempo gedrosselt: Seehunde, Weißkopfadler, Reiher – und nach einiger Suche die ersten Bären am Ufer. Wir sehen eine Bärenmutter mit zwei Jungen das Ufer antlangtrotten, nach Muscheln oder Krabben suchend. John ärgert sich, weil die anderen Boote zu viel Lärm machen und hin- und herrasen, zu rücksichtslos. Er hat den längeren Atem. Als die anderen schon weitergefahren sind, mehr Bären suchen, kommt einer der Bären wieder aus dem Gebüsch und lässt sich durch unser Boot nicht stören. Schließlich ist es sein Land. Das Boot treibt näher, wir sind nur noch zwanzig Meter oder so entfernt, und können ihn eine Viertelstunde lang beobachten, wie er Steine hin- und herrollt. Da sind Klunker dabei, die sicher zehn, fünfzehn Kilo wiegen, aber, er wischt sie mit seiner Pranke weg wie nichts, könnten ja Krabben drunter sein. Das dichte Fell glänzt in der Morgensonne, der Bär bewegt sich leichtfüßig und sein massiger Körper wirkt richtig elegant dabei. Hier ist er geschützt, keine Jäger, und das weiß er. Alles wirkt friedlich, still liegen die Wälder im Morgen, die Holzindustrie ist weit und wie man hört ao nachhaltig geregelt, dass das Ökosystem nicht aus der Balance gerät. Vielleicht hat T.C. Boyle doch nicht ganz recht, wenn er in seinen Öko-Katastrophen-Romanen (die zum Teil auch hier im Norden spielen) nur tragische Zuspitzungen erkennt.

Friedlich wirkt auch nachmittags der Tonquin-Park, in dem ich zwischen Beach und Regenwald spaziere. Nicht ganz so friedlich war es wohl bei den anderen dreien aus unserem Reisequartett, die mit einem von John's Männern noch mal aufgebrochen sind, dieses Mal zu den Grauwalen auf dem offenen Meer. Nach einer halben Stunde sind sie zurückgekommen: Zu bewegte See, zu hohe Wellen, zu riskant.  Friedlich liegt dann aber wieder der kleine Trail in Ucuelet, den wir danach entlangwandern, hoch über dem Pazifik, der allerdings trotz dieses Friedens mit seiner Dünung und der Gischt an den im Weg stehenden Felsen auch droht, wie er könnte, wenn er wollte.

Danach suchen wir im nachsaisonmäßig verschlafenen Ucluelet etwas zu essen. Restaurants sind schon geschlossen, viele gibt’s eh nicht, und wir wagen uns in den schützenhallengemütlichen Pub am Hafen mit vier Fernsehern (zweimal American Football, einmal Eishockey, einmal Tennis-Finale der US Open in Flushing Meadows). Wir essen Fish and Chips und Clam Chowder, es schmeckt, alles gut.

 

Dienstag, 15. September 2015 – Vancouver

Das Herbstlicht in British Columbia ist klar und frisch. Das war nicht nur auf Vancouver Island, sondern ist auch hier in der Großstadt so. Die Farben sind irgendwie durchsichtig und doch mit Leuchtkraft, so wie bei uns an einem klaren Wintertag, wenn die Sonne scheint und Schnee liegt. Vancouver empfängt uns mit seinem riesigen Stanley-Park, der nur durch einen schmalen Wasserarm von der Skyline der City entfernt liegt und der auch hohe Bäume aufweist, aber so hoch wie die Hochhäuser sind sie denn doch nicht. Noch etwas niedriger sind die Totempfähle, die von den first nations hier aufgerichtet wurden. Auf den Info-Tafeln über das Leben der first nations in der Region Vancouver entdecke ich die Schachbrettblume, die es auch bei uns in der Seeveniederung gibt. Hier heißt sie chocolate lily.

Farbig ist der Park wie die Stadt nicht nur durch Gebäude oder Landschaft und Park, sondern vor allem auch durch die Menschen. Eine Mixtur aus Sprachen, Hautfarben und solchen Geschichten, wie sie sich in Gesichtern und Auftreten niederschlagen. Klar: Überall auf der Welt treffen sich Touristen aus den verschiedensten Ländern. Aber Vancouver ist so farbig auch ohne Touristen, und im Stanley-Park joggen und spazieren auch die Bewohner der Stadt den zehn Kilometer langen Waterfront-Uferweg lang. Wir Langnasen mit europäischen Wurzeln sind hier nur eine Gruppe unter vielen, mindestens ebenso viele kommen aus ursprünglich japanischen oder chinesischen Familien, von den Philippinen oder aus Korea. Es gibt Menschen, die aus Indien stammen können oder aus arabischen Ländern, und die mit schwarzer Hautfarbe kommen wohl aus Afrika oder aus den USA. Manche leben in dritter oder vierter Generation hier und sprechen doch immer noch ihre Heimatsprache, oder sie sprechen perfekt englisch, weil sie hier aufwachsen und hier dazugehören. Im Bus sitzen zwei junge Frauen nebeneinander und schwatzen auf englisch, die eine mit dunkler Haut und Rastalöckchen, die andere mit asiatischen Gesichtszügen. Welche sprechen spanisch (oder mexikanisch?), welche deutsch (weil sie hier in Vancouver studieren, aber eigentlich in Deutschland leben und dahin war ihre Familie aus Indien gekommen, wie im Falle des jungen Mannes, der in der Rezeption des RV-Parks jobbt und uns blendend berät).

Im Stanley-Park spricht uns ein älterer Herr an: Ob wir Informationen brauchen? Wir sehen anscheinend etwas ortsunkundig aus. Er ist in Jogginghose und -hemd, trägt kleine Gewichte an den Fuß- und Handgelenken, ist hager und sieht mit seinen kurzen exakt geschnittenen grauen Haaren aus wie ein fitter Siebzigjähriger, Typ pensionierter CEO. Ich will schon weitergehen, so tun, als wenn ich nichts gehört hätte, aber Linda ergreift die Gelegenheit und fragt ihn nach dem kleinen Inselchen, das vor uns liegt, und er erzählt: Früher haben dort First Nations und später auch weiße Siedler ihre Toten bestattet. Daher der Name „Deadman's Island“. Es war ein ritueller Ort. Dann kam der Minister of Defence und nahm die ungefähr 800 acre große Insel unter seine Fittiche, baute eine Brücke rüber zum Stanley-Park, über die man mit dem Wagen fahren kann, und richtete einen Stützpunkt der Marine ein. Die Musqueam, erste Bewohner der Region Vancouver, erheben nach wie vor Anspruch auf die Insel, und die Pläne der Stadtregierung, nach Auslaufen des Leasing-Vertrages mit dem Militär dort Nutzungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung entstehen zu lassen, treffen so auf ganz unterschiedliche Hindernisse. Also bleibt es so wie es ist, schimpft der Mann, im Sommer veranstaltet die Marine große Picknicks für Presse und geladene Gäste, und die Bevölkerung bleibt außen vor. „Wir leben in einem Polizeistaat, es ist eine Tyrannei, es wird einfach festgelegt und die Menschen müssen draußen bleiben.“ Viel besser wäre doch ein Teehaus mit Blick auf die Stadt. Aber daran sind sie eben nicht interessiert, die Mächtigen.

Die andere Seite der Macht-Ohnmacht-Achse erleben wir am anderen Ende von Gastown, dem Geschäftsviertel, da, wo es in Chinatown übergeht. Drogenschwankende, ungewaschene und zerlumpte Menschen drängen sich auf einem hundert Meter langen Fußgängerwegstück an der East Hastings Street vor Potters Place Mission, wühlen in den Kleiderbergen, die dort aufgehäuft sind, second hand, eine Kleiderkammer unter freiem Himmel.  Die Mitarbeiter der Mission stammen aus Malaysia oder Korea. Zielgruppen der Mission sind die Wohnungs- und Hoffnungslosen des Viertels sowie die Entrechteten der first nations. Schräg gegenüber ist eine Klinik für Drogenentzug und Methadonbehandlung, um die Ecke das „Bridge House for Women“, ein Frauenhaus. Psychisch Kranke schimpfen vor sich hin und führen Gespräche, die nichts mit Freisprechanlage und Smartphone zu tun haben. Ein schwerstbehindertes Mädchen sitzt auf dem Betonboden, spastisch verdreht, windet sich und kann wohl kaum allein aufstehen, die ganze Straße wirkt wie eine moderne Inszenierung von Hieronymus Bosch. Mittendrin ein fußballfeldgroßes Gelände mit urban gardening, Tomaten und Zucchini. Polizeistreifen zu dritt, miteinander scherzend. Eine Straße weiter ein stylisches Restaurant und eine Boutique für Rucksäcke aus Büffelleder. Auf unserem Weg über die Bahngleise zum Kreuzfahrtterminal geht einer ein bisschen aus dem Weg, um seine Spritze zu setzen. Dann kommen die Parkplätze der Kreuzfahrtpassagiere. Echt bunt, manchmal sicher zu bunt. Fast kann man sehen, wie die Innenstadt diesem Brennpunkt näher rückt und ihn schlucken wird. Die chinesischen Gewerbetreibenden sind aus Chinatown schon weitgehend weggezogen, in die Vororte. Irgendwann müssen auch die Menschen woanders hin ausweichen, die jetzt noch hier geblieben sind. Die Mission wird mit ihnen ziehen. Aber wohin? Rundherum ist Vorstadt, Meile um Meile ein- bis zweistöckige Holzhäuser, ein Siedlungsmeer ohne Inseln. Nur hier und da ragen zwei, drei Wohnsilos zwanzig Stockwerke in den Himmel. In einem Vorort haben die Bürger darüber abgestimmt, ob sie ein 21-Stock-Wohnhochhaus in ihrer community wollen. Nein, sie wollten nicht, und vor allem keine 21 Stockwerke. Die Kommune hat reagiert, und als Ergebnis wird nun ein 23-Stock-Haus gebaut. Das Licht ist schön in Vancouver, aber es gibt auch Schatten. „Skytrain“ heißt die S-Bahn hier. Himmel hilf.

 

Vancouver: Kreuzfahrtterminal und Ausläufer der Skyline, am rechten Bildrand ein Eckchen von Deadman's Island. Links vorn die  Tankinsel von Chevron für die Wasserflugzeuge - was man nicht sieht, ist das ständige Generator-Gedröhne der Tankstelle.

 

 

Mittwoch, 16. September 2015 - Vancouver: Granville Island

Granville ist eine kleine Halbinsel im „False Creek“, einem schmalen Meeresarm südlich der City von Vancouver. Sie wurde 1915 aufgeschüttet und bot zunächste Platz für Handel und Wandel rund um den Fischfang, kleine Werften und ein Fischmarkt entstanden. Seit den fünfziger Jahren wandelte sich das, heute ist es ein quirliger Ort für Touristen, Studenten und Einheimische, die in der Markthalle Gemüse und Fisch einkaufen, in der University of Art and Design studieren oder von Granville aus ihr Rudertraining aufnehmen. Auf der Pier aus Holzbohlen nehmen wir ein improvisiertes Mittagsmahl aus frisch geräuchertem Lachs und Bagels mit Frischkäse, dazu einen exzellenten Double-Shot-Capuccino. Vögel picken rum, natürlich Möwen, aber auch mittelgroße starenähnliche Frechdachse mit glitzernden Einsprengseln auf dem Gefieder. Als der Straßenmusiker unter all seinen Folk-Songs von Bob Dylan und Tom Petty auch einen von Lucinda Williams rauskramt, fühle ich mich ganz zuhause. Hausboote und kleine Werkstätten wie zum Beispiel eine Seidenweberei schaffen eine alternativ angehauchte, sophisticated Atmosphäre. Hier gefällt uns Vancouver richtig gut.

 

Donnerstag, 17. September 2015 - Abschied von BC

Wir müssen zurück nach Seattle, um den RV abzugeben. Mittagspause in White Rock, direkt vor dem Grenzübergang in die USA. Wir sitzen an der Straße, die durch ein Bahngleis vom Strand abgetrennt ist. Ein älterer Herr stoppt auf seiner Harley bei unserem Picknick und erzählt von seinen Touren zu den Nationalparks der USA, jetzt musste er wegen seiner Krebserkrankung neun Monate pausieren mit dem Motorrad und fängt langsam wieder an. Als er weiterfahren will, springt das blitzende Gefährt nicht an, wir wollen schon schieben, aber er schafft es mit dem Gefälle der Straße und blubbert weiter.

In Everett kurz vor Seattle finden wir einen RV-Park direkt neben der Station von Cruise America. Im Spätnachmittagslicht machen wir einen kleinen Abstecher nach Mukilteo, wo die Fähren auf die Insel Widbey Island losgehen, kommen vorbei an den riesigen Montagehallen von Boeing. Dagegen ist Airbus in Finkenwerder nun wirklich eine Klitsche. Mukilteo hat einen niedlichen kleinen Leuchtturm und eine hervorragende Fisch-and-Chips-Bude bei Ivar's, sowohl der Lachs in Bierteig als auch die Dips dazu sind klasse. Der Feierabendverkehr auf die Inseln summt an uns vorbei auf die Fähre, es hat ein bisschen was vom Fähranleger Zollenspieker, nur dass kulinarisch Mukilteo weit vor dem Imbiss an der Elbe liegt und auch die Fähre deutlich größer ist. Aber das sind wir mittlerweile gewöhnt, hier ist alles größer und besser und teurer.


Teil 2: Felsiger Südwesten



Freitag, 18. September 2015 - Flug Seattle-Las Vegas

Der RV ist abgegeben, die Busverbindung nach Seattle klappt hervorragend, wir warten im Starbucks um die Ecke von Hotel Max, in dem wir unsere erste Amerika-Nacht verbracht hatten, bis es Zeit für die Metro zum Flughafen ist. Der Flug nach Las Vegas ist kurz und unspektakulär, nur dass wir überrascht sind, dass wir fast die ganze Zeit über Wüste fliegen. Auf riesigen Sandflächen sehen wir Fließmuster, als wenn das mal Wasser gewesen wäre, aber alles ist knochentrocken. Hin und wieder erkennt man deutlicher, dass da mal ein Wasserreservoir war, dass aber jetzt trocken liegt. Nur selten gibt es mittendrin mal acht fabrikmäßig gleichfarbige grüne Kreise, wo eine Bewässerungsanlage den Anbau von Gemüse ermöglicht. Irgendwo in der Gegend des südlichen Oregon oder so sehe ich kleinteilig verteilt lauter silbrig in der Sonne glitzernde Installationen, Gasland vermutlich. Der schnurgerade Strich bis zum Horizont ist eine Straße. Da wandert ein längerer Strich durch die braune Ebene: Eine Eisenbahn wirft ihren Schatten in der Abendsonne auf den Sand..

Und mitten in dieser trostlosen, hellbraunen Ödnis eine Millionenstadt (jedenfalls wenn man die Metropolregion rechnet): Las Vegas. Glücklicherweise finden wir auf dem Flughafen ein Shuttle-Taxi direkt zu unserem Hotel und sind wenig später dann zu unserem Abendspaziergang auf dem Strip der Träume. Allerdings trifft uns die Flut der Eindrücke zwiespältig: Wenn wir nach Disneyland gewollt hätten, wären wir da hin gefahren. Nun sind wir hier (notgedrungen wegen der Übernachtung) und finden uns nicht zurecht in dieser Welt des Als-Ob. Das Hotel Excalibur mit seinem Disney-Schloss (s.u.) sei „abgerockt“, schreiben welche auf der Kundenbewertungsseite Tripadvisor, aber abends und beleuchtet ist dass Schloss eine völlig abgefahrene schräge Skurrilität, das hat schon wieder was. New York mit der Freiheitsstatue und der Eiffelturm sehen aus wie Edelvarianten entsprechender Fahrgeschäfte auf dem Hamburger Dom, hier natürlich (wie auch sonst) größer und glitzernder als alles, was ich aus Europas kenne an fake und Fassade.

Dem Wegweiser im Hotelzimmer entnehme ich, dass es in Las Vegas vierzehn Glaubensgemeinschaften gibt, unter anderem natürlich Lutheraner und Baptisten, Mormonen und die Kirche der Heiligen der letzten Tage (kenne ich von Karl May), außerdem Non-Denominational, eine Moschee, keine Juden. Und Scientology. Ich finde, die passen als einzige wirklich hier rein.

Das Disney-Schloss beim Hotel Excalibur in Las Vegas: Phantasie und Pappmaschee

 

 

Sonnabend, 19. September 2015: Las Vegas – Valley of Fire

Als wir morgens um halb elf aus dem Taxi steigen, sieht es vor dem kleinen Bungalow der Apollo-Filiale aus wie vor einer Jugendherberge. Kofferberge, bunt und in verschiedenen Stadien des Aufgebrauchtseins, und eine ebenso bunte Truppe teils jüngerer, teils weißhaariger Menschen. Drinnen ist es noch voller, aber wenigstens nicht so heiß. Handgepäck und kleine Tagesrucksäcke stapeln sich in jeder Ecke. Auf jedem der vier Dreisitzersofas quetschen sich vier Personen, andere stehen oder sitzen auf der Erde. Kids liegen bäuchling mitten in der Wuhling auf dem Teppich und gucken einen Zeichentrickfilm auf dem Tablet. Da sind Schweizer (es können kaum noch welche in den heimischen Bergen sein, sind alle hier, überall trifft man Schweizer), da Deutsche, der da sieht aus wie ein Franzose, aber er gehört zu einer größeren Familie, die sich mit einer zweiten in einer mir unbekannten Sprache unterhält, manchmal glaube ich ein deutsches Wort zu verstehen, aber deutsch ist es ganz sicher nicht. Ich sehe dann auf dem Buch der zugehörigen Frau den Titel in Hebräisch, es sind Israeli.

Ein interessantes Gemisch also, man wechselt ein paar Worte mit anderen Deutschen, Kontakt zu den Israeli ergibt sich nicht, es fällt mir auf, dass ich die immer wieder sehe, seit ich weiß woher sie kommen, einfach nur so. Wir brauchen fünf Stunden (!), bis wir die Wartezeit ausreichend erlitten haben, die Formalitäten erfüllt haben („...und sie wollen wirklich keine Versicherung gegen einen Unfall, bei dem sich ihr RV überschlägt? Ist schon drei Mal vorgekommen!“), die von dem schwarzen vollbärtigen Basketballer hervorragend performte Einführung in die RV-Bedienung genossen haben und losfahren. Im Vergleich zu dem ersten RV im Norden ist der hier deutlich größer, luxuriöser, hat gerade ein Mal ein Fünftel der Fahrleistung von dem Oldtimer da oben. Es dauert eine Weile, bis ich ein paar Grundfunktionen von der per Touchscreen zu bedienenden Radio-CD-MP3-Kombi rausgefunden habe (und bis zum Schluss bleibt es mir ein Rätsel, wie man so einen Quatsch einbauen kann, bei dem der Touchscreen in der allgegenwärtigen Sonne kaum zu erkennen ist). Wir steuern den obligatorischen Supermarkt an – nicht nur weil wir dort alles kriegen, sondern auch weil die immer so einen wunderbar großen Parkplatz haben, wo man mit dem RV gut rauf und wieder runter kommt. Die Standardausrüstung: statt überaus luftigem Weißbrot ebenso luftiges Graubrot, Gemüse, Plastikkäse (Cheddar), gallonenweise Wasser in Plastikkanistern, Wein. Den gibt es zum Glück noch in richtigen Glasflaschen. Der neue RV hat auch Gläser, im ersten gab es nur Plastikbecher, da mussten wir Weingläser aus dem Supermarkt nachrüsten... und den Korkenzieher auch.

Mittlerweile ist es Spätnachmittag geworden. Bis zum Valley of Fire ist es zwar nicht weit, nur knapp 60 Meilen, aber als wir dort ankommen, ist es dunkel. Es gibt zwei kleine Campgrounds hier, das wissen wir, aber der erste ist voll – sehr schade, die Atmosphäre dort mit den kleinen Feuern überall in den Feuertonnen zwischen hohen Felsen ist westernmäßig romantisch. Auf dem nächsten Platz, der nur wenige Kilometer entfernt ist, gibt es zum Glück noch freie Plätze, er hat keine Duschen und keine Anschlüsse für RVs, das macht ihn weniger attraktiv, zu unserem Glück. So können wir ziemlich geschafft um kurz nach neun versuchen, bei 30 Grad einzuschlafen. Geht.

Sonntag, 20. September 2015: Valley of Fire

Die Felsen, die auch um diesen Platz fünfzig oder achtzig Meter steil aufragen, glühen schon vor dem Sonnenaufgang von innen her rot. Je heller es wird, desto weniger Glühen, man kann nicht alles haben. Wir starten früh, um den Sonnenaufgang bei der Fire Wave zu erleben, einem kleinen Gegenstück zur berühmten Wave bei Page, aber zu der hier braucht man keinen Permit, keine Eintrittserlaubnis, die es ein halbes Jahr vorher schon im Internet zu ergattern gilt. Als wir auf dem Parkplatz der „Sieben Schwestern“ kurz halten, weist uns glücklicherweise der Deutsche aus dem Ruhrpott, mit dem wir vor dem Klo-Haus ein paar Worte gewechselt hatten, darauf hin, dass wir gerade an der Abzweigung zum Scenic Drive und der Fire Wave vorbeigefahren sind. Ist wohl doch noch ein bisschen früh für uns. Also einen Kilometer zurück und ab in die roten Felsen. Wir statten am Mouse's Tank einer Bergziegenfamilie einen kurzen Besuch ab und sind dann tatsächlich noch kurz vor Sonnenaufgang an der Fire Wave. Dieses kleine Felsenensemble ist von den Synatschkes an die Öffentlichkeit gebracht worden, den beiden Deutschen, die mir aus dem Internet durch ihre Referenz-Fotos von den Nationalparks und der Natur im Südwesten bekannt sind und die (zumindest die Frau) an dem Reiseführer beteiligt sind, der uns hervorragende Dienste leistet. Hatten wir uns bei früheren Reisen mit guten Ergebnissen auf Stefan Loose und seine Reiseführer verlassen, so ist es dieses Mal das Duo Grundmann/Synatschke mit dem „Reiseführer KnowHow“. Im Gegensastz zu Loose wird im „KnowHow“ das Valley of Fire ausführlich beschrieben, und wir finden die Fire Wave kaum eine halbe Stunde von der Straße entfernt locker, zumal sie seit kurzem mit offiziellen Wegweisungen versehen ist. Die Synatschkes haben sich mit der öffentlichen Werbung für dieses Naturschauspiel einen Ehrenplatz in der Riege der neugierigen Fremden in der Region Südwest-USA gesichert (wenn sie ihn nicht schon lange hatten), denn diese kleine Welle ist wirklich ein dolles Ding. Die roten Steinbänder, dazwischen hellerer Fels, ziehen sich um Kurven und an Hängen entlang, kehren wellenförmig wieder, „die Welle“ eben (s.u. links), und das Ganze ist eingebettet in eine großartige Umgebung. Nebenan liegen ganze Felder dunkel-graugrüner Gesteinskugeln, rund und von der Größe einer Murmel bis zur Bowling-Kugel, tausende, einige sind aufgesprengt und innen gesprenkelt, es wirkt wie eine Hinterlassenschaft aus äonenvergangenem Vulkanausbruch, irgendwie außerirdisch (oder zumindest nicht aus unserer Zeit). Später lese ich im Visitor-Centre, dass dieses dunkelgraue Gestein (aus der auch die die Region begrenzende Gebirgskette der Muddy Montains besteht) das ältere ist. Als vor zwei- bis dreihundert Millionen Jahren mal gerade kein Meer das Valley bedeckte, bliesen hier heftige Wüstenwinde. Sie verteilten Sand auf dem ganzen Gebiet, rötlichen Sand aus ziemlich fernen Gegenden, Dieser Sand lagerte sich ab, und in der jeweiligen Modefarbe der Saison war er mal heller und mal dunkler, daher die Schichten. Das Ganze verfestigte sich zu Felsgestein – und das sieht man zum Beispiel bei der Fire Wave ganz schön. Dann kamen noch andere Urgewalten hinzu, die ganze Landschaft faltete sich nämlich auf, im Kontext der Kontinentalverschiebung. Das untere, dunkle, vom roten Sand verdeckte Gestein kam wieder zum Vorschein, die Muddy Mountains stiegen empor. Bei der ganzen Angelegenheit scheint es ziemlich zur Sache gegangen zu sein, Vulkanausbrüche und flüssiges Gestein waren an der Tagesordnung, und die runden Klunkern stammen aus dieser Zeit. Das war flüssiger Fels, Felstropfen sozusagen, und er schloß kleinere Steine ein und erstarrte. Daher die Sprenkelung der aufgeplatzten Kugeln, manche sehen innen aus wie der in deutschen Gärten ehedem so beliebte Waschbeton. Da haben die Baustoffhändler also ihr Design her.

Das obernette Schweizer Ehepaar, mit dem wir ins Gespräch kommen, ist schon zum achten Mal hier im Südwesten unterwegs. Neben ihrem RV (der noch fünf Fuß länger ist als unserer) haben sie einen Jeep dabei, um mit dem Allradantrieb überall hin zu kommen, wo sie hinwollen. Leider gibt es bei den Leih-RVs keine Anhängerkupplung, so dass sie den PKW nicht einfach an den RV ankuppeln können wie viele Amerikaner das tun, sie müssen beide steuern: einer den RV, einer den Jeep. Touristenpech... wir beneiden sie trotzem, denn viele Tips (z.B. von Synatschkes) sind für uns nicht nutzbar, weil wir uns mit dem RV nicht auf die unbefestigten Pisten wagen können. Dankbar übernehmen wir von den Schweizern ihren hook-up-Platz (alle Anschlüsse) auf dem ersten Campground im Valley, Atlatl-Rock heißt der Platz, die Schweizer fahren weiter, und wir frühstücken erstmal mit Blick auf das „junge“ rote Gestein und mit tatkräftiger Unterstützung der ground squirrels, die mit ihren possierlichen Kunststücken unser Herz im Sturm gewinnen. Sie liegen platt auf dem Boden und strrecken alle viere von sich (was soll denn das? Aber es sieht soooo süß aus!), machen Männchen, und wenn dann zufällig eine Weintraube vom Tisch rollt, sind sie damit wie der Blitz unter dem nächsten Busch und knabbern an der Frucht, die im Verhältnis so groß ist, als wenn ich eine sieben-Kilo-Wassermelone abschleppe.

Nachmittags durchwandern wir den White Dome Trail, wo wie hier fast überall schon zahlreiche Western gedreht wurden und andere Filme – Star Treks "Veridian III" aus dem Film "Treffen der Generationen"  findet man im Netz. Das sind  Fotos aus dem Valley of Fire, Kirk starb, nachdem er seine Mission an Picard weiter gegeben hatte. Eine schöne Rolle, die diese Felsen da spielen. In dem Western „Die gefürchteten Vier“ spielten 1966 Burt Lancaster, Lee Marvin, Claudia Cardinale und Jack Palance mit. Ein Ruinen-Rest des Set steht noch (s.o. Mitte), eine Mauer der Hazienda mit drei Balken. Man sich gut vorstellen, wie drumherum die Banditen in den Felsen hocken und das traute Heim der armen Bauernfamilie unter Beschuss nehmen. Tatsächlich ging es in dem Film um Mexikaner und US-Amerikaner und die Revolution, Anfang des letzten Jahrhunderts, und man verstand den Film als kritische Anspielung auf den Einmarsch der Amerikaner in Vietnam. Das Verhältnis USA-Mexiko ist nach wie vor brisant und verwickelt, heute geht es weniger um die Revolution als um die Drogen, die zwar von US-Amerikanern konsumiert werden, die aber niemand liefern soll (dann käme aber ein Teil der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft schwer auf Entzug), und die amerikanische Waffenindustrie liefert die Hardware für den Kampf gegen die Kartelle, die den Amerikanern das liefern, was die haben wollen, aber nicht dürfen. Wie gesagt, es ist verwickelt. Hier auf dem White Dome Trail wird nun nichts mehr gedreht oder geliefert, nur eine weitere Herde Bergziegen klappert über das wild durcheinander gewürfelte Terrain. Sie drehen uns die Hinterteile zu. Respektlos. Aber auch niedlich, irgendwie.

 

Montag, 21. September 2015: Fahrt an den Lake Powell

Wie viele verschiedene Wüsten, Felsgebirge und Prärien gibt es? Zunächst fahren wir auf der Interstate 15 bis Mesquite an einer stachligen Ödnis mit mannshohen Distelbäumen vorbei. Dann kommt ab Hurricane (was für Ortsnamen!!) eine grünere, weite Ebene, nicht gerade fruchtbar, aber man kann hier leben, es ist armes Land, aber jetzt im Spätsommer auch schön, im Winter mag es grimnmiger werden. Dann kommen linker Hand die in Fels gehauenen Grenzanlagen des Alten Reiches: Hunderte von Metern steigen die alten Gemäuer steil an, mit mancher Zinne bewehrt und mit Wellenbrechern in die Ebene leckend wie riesige Felszungen, rot mit grauem Belag. Das Alte Reich ist schon vor langer Zeit verfallen,der König über den Bergen ist längst zu den Hohen Hallen gegangen. Seine Kinder, die Kaibab und Paiute, treffen ihn manchmal in den Wolkenhallen über den Felstürmen und Felsmauern, die noch mächtig, aber herrenlos stehen. Höher reichen die Hohen Hallen, höher als die Wolken, höher als der Himmel, und der König sitzt über allem und er lacht über die kleinen Wesen in der Prärie und ihre Errungenschaften und ihren Stolz. Manchmal sitzt er auf den verfallenen Zinnen, sieht aus wie ein knubbliger Herscher aus Stein. Und kleinlaut sehen wir aus der Prärie die hohen Felsen, die doch nur noch eine Ahnung hinterlassen von der Macht des Alten Königs. Fragt die Paiute, die wissen davon mehr. Die einzigen Paiute, die gern mal zu den Waffen gegriffen haben,  waren die Las Vegas Paiute. Das sei nur noch am Rande erwähnt.

Wieder im amerikanischen Alltag angekommen, erwerben wir im Visitor Centre des Grand Staircase Escalante State Park die Jahrerseintrittskarte für alle National und State Parks der USA, genannt „America the Beauty“. Kostet 80 Dollar, für ein Auto und so viele Leute, wie man darin unterbringen kann. Ist also mit einem RV echt günstig, umfangreichere Großfamilien kommen damit gut weg. Schlechte Nachricht: Es soll Regen geben, es heißt, der Anteleope Canyon bliebe morgen womöglich geschlossen. Das kann doch nicht sein, entfährt es Linda, aber der weißbärtige Alt-Hippie hinter dem Thresen brummt nur: „You don't want to be in a slot canyon when it rains, believe me.“ Recht hat er, gerade wenige Tage zuvor sind mehrere Wanderer in Utah in einem Slot Canyon ertrunken, weil sie den Hinweisen ihrer guides auf die Gefahr einer Springflut kein Gehör geschenkt hatten.

Am späten Nachmittag treffen wir Wolfgang und Gudrun wieder. Sie haben am Lake Powell einen RV-Stellplatz für uns reserviert. Ich hatte mir nicht vorgestellt, was hier für ein Betrieb ist, gerade rutschen wir noch auf den freigehaltenen Platz, das Gelände ist riesig, aber voll belegt mit den US-typischen Riesen-RVs oder Auflegern mit Riesen-Pickups davor. Am See Appartments und Ferienwohnungen, auf dem See Hausboote, wir baden in der Abendsonne bzw. im See unter der Abendsonne, alle drei Minuten eine neue Szenerie mit neuen Wolkenlöchern und rosa Schleiern und sun beams durch die Wolkenlöcher, wunderbare Kontraste. Das hier ist Amerikas beliebtestes Wassersportrevier, 1966 hat Präsident Lyndon B. Johnson den Glen-Damm eingeweiht, mit dem der Colorado zu einem weit verzweigten und fast achtzig Meilen langen See aufgestaut wurde, der Seglern und Jet-Ski-Fahrern und Wasserskiläufern und so weiter gut gefällt. Aber wie der Lake Mead, der weiter flussdabwärts bei Las Vegas aufgestaut wird, leidet auch der Lake Powell unter sinkendem Pegelstand, und das Kraftwerk an der Staumauer bringt nicht mehr wie selbstverständlich die erwartete Energie-Leistung. Und zum Baden muss man immer ein bisschen weiter laufen.

 

 

Wohin man die Kamera hält, ist eigentlich ziemlich egal: Antelope Canyon

 

Dienstag, 22. September 2015: Antelope Canyon

Im Navajo-Land bei Page, einem durch den Staudammbau entstandenen gesichtslosen Häuserhaufen, besuchen wir den Antelope Canyon. Wir sind früh dran, weil wir die Zeitumstellung beim Übergang der Grenze von Utrah nach Arizona nicht mitbekommen haben (muss einem doch gesagt werden!), und denken zunächst, weil alles so leer ist, wegen drohendem Regen falle tatsächlich alles hier aus. Aber dere Himmel ist nur bedeckt, Regen kommt keiner, und als es dann tatsächlich auch nach Arizona-Zeit neun Uhr ist, öffnet der Schalter. So kommen wir in die erste (noch kleine) Besuchergruppe unter der Führung von Gene, einem Navajo. Er erzählt unterwegs ein bisschen, er spricht noch Navajo (nicht alle aus seinem Volk tun das noch), und er spricht auch Navajo mit seinen zwei und drei Jahre alten Kindern. Seine Militärzeit hat er in Deutschland absolviert, aber davon hat er nicht viel behalten. Er ist ja schon über dreißig. Ansonsten macht er seinen Job routiniert gut, scherzt nach halber Tour: „Wie Sie ja wissen, sind die ersten hundert Bilder pro Apparat kostenfrei, danach...“ Ich habe 97 Bilder gemacht in der Stunde, die wir unten zubringen. Bin also im Limit... Er weist auf den „Wal“ hin und den „alten Häuptling“, Felsformen, die wir ohne seine Hinweise vielleicht nicht oder nicht aus dem günstigsten Blickwinkel gesehen hätten. Er fotografiert die Leute mit ihren eigenen Kameras (meine gebe ich nicht aus der Hand). Ansdonsten lässt er uns aber auch im erforderlichen Maß allein mit den Foirmen, mit der Vielfalt geschwungener Felswände, die sich zwanzig, dreißig Meter über uns erheben, kaum zwei, drei Meter auseinander, es ist wirklich ein Slot-Canyon, ein Schlitz in der Erde. Die gegenüberliegenden Wände tanzen miteinander, ein elegantes Ballett, schwingende Formen, Walzerdrehungen, eine gezeichnete Partitur für eine First-Nations-Sinfonie. Bisher gibt es auf CD nur eine weichgespülte Indianer-Flöten-Gitarren-Musik unter dem Titel „Antelope Canyon“, aber sie müsste eigentlich heftige Crescendi enthalten, auch mal ordentlich Blech, scharfe Kanten auch, und dann wieder fließende Streicher, parallel geführt in den Stimmen, huuiii, wie beim Schlittschuhlaufen. Es ist das größte, was die Natur mir bisher gezeigt hat.

 

Am Schluss hat Gene noch eine kleine Performance für uns: Er häuft einen Kegel aus dem Zuckersand am Boden des Canyons, mit einer kleinen Kuhle an der Spitze, gießt aus seiner Wasserflasche einen Schlubber Wasser drüber, noch etwas Sand, noch mal Wasser. Dann wedelt er den Zuckersand rund um den jetzt feuchten Kern des Kegels weg, und es bleibt ein stabiler nach unten abgerundeter Felsturm stehen. So eine Form haben wir draußen schon dutzendmal gesehen, in hundertfacher Vergrößerung. Wenn diese Kugel in der Erde steckt und durch Erdbewegung bricht, einen Riss bekommt, entsteht ein Slot-Canyon. Durch leichte Drehbewegungen lässt Gene seine Kugel reißen, und wir sehen den Antelope-Canyon in klein in seinen Händen. He's got the whole wide world... Hinterher spielt er verschämt noch ein bisschen auf einer großen Navajo-Holzflöte, oben, im Office, mehr gehaucht als geblasen, schön.

 

Mittwoch, 23. September 2015: Von Page zum Grand Canyon (North Rim)

Die Fahrt zum Grand Canyon führt auf der Navajo-Bridge noch einma über den Colorado. Ein paar Andenkenstände mit First-Nations-Produkten wie Schmuck oder Handarbeiten, daneben geschnitzte Holzflöten in allen Größen. Ich darf ein paar ausprobieren, ich würde wohl mit den Tonskalen klarkommen, auch wenn die pentatonisch anmutende Stimmung ungewohnt ist. Aber der happige Preis ab 60 Dollar für dreilöchrige kleine bis weit über 140 Dollar für „richtige“ Flöten schreckt mich zunächst ab, was ärgerlich ist – als ich später gern eine kaufen würde (koste es was es wolle...) finde ich keine mehr.

Weiter geht’s an den Vermilion Cliffs entlang, die rechter Hand das Hochplateau noch einmal auf einige hundert Meter höheres Niveau heben. Da gibt es Hoodoos, diese schlanken hohen Säulen mit großen Klunkern auf der Spitze, skurrile Felsgestalten, weiß ich aus Wanderführern. Aber ohne 4-Wheel-Drive geht da kaum was. Wir bleiben schön auf der asphaltierten Straße, die sich langsam etwas höher schraubt und uns zum North Rim führt, der Nordkante des Grand Canyon. Das Plateau ist bewaldet, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht, und finde es nun überraschend. Große Flächen sind vor ein, zwei Jahren verbrannt, schwarze Baumstümpfe ragen in den Himmel, dazwischen ein Teppich herbstlich gelb gefärbter Bäumchen, die wir zunächst für Birken halten (das kenne wir aus der Heide, dass Birken sich überall breit machen, wo man sie nicht hindert). Der hellgrau, fast weiß leuchtende Stamm erinnert auch an Birken. Es sind aber amerikanische Zitterpappeln (aspen), die vor allem in ganz Kanada weit verbreitet sind und sich genügsam auf schwierigen Böden ansiedeln – so hier auf den Brandflächen. Sie leuchten unverkennbar gelb und setzen sich schön gegen die grünen Nadelwälder ab. Die Forstleute sind darüber ganz froh, vielleicht ebnen die Espen den Weg zu einem weniger monokulturellen Mischwald.

Wir rutschen gerade noch so auf die beiden letzten freien Plätze des De-Motte-Campgrounds, weiter nach vorn hin zum North Rim ist sowieso alles voll. Da haben wir richtig Massel gehabt, mal wieder nicht reserviert, wie denn auch, wir hatten ja meist kein Netz. Und bei meinem letzten Anruf in der nationalen Reservierungszentrale von Page aus hatte ich erfahren, es sei sowieso gar nichts mehr frei, no way. Die zentralen Auskünfte stimmen entweder (am North Rim alles voll, stimmt) oder sie stimmen nicht (De-Motte angeblich alles voll, stimmte nicht – bis wir angekommen waren, dann ja).

Wenig später fahren wir die restlichen fünfzehn Meilen zum North Rim. Das ist die etwas höher gelegene nördliche Abbruchkante, ungefähr tausend Meter über dem sich untern schlängelnden Colorado. Das gegenüberliegende South Rim ist fast vierhundert Meter tiefer und viel überlaufener, hier sind wir auch nicht gerade allein, aber es ist doch wesentlich ruhiger als auf der Bastei in der Sächsischen Schweiz. Die Fotos können die Grandiosität des Schluchten-Labyrinths nicht wirklich einfangen, aber die Worte eigentlich auch nicht. Es ist schon riesig, wie da Felsen aufsteigen und es rechts und links hunderte von Metern senkrecht runter geht, man kann den Fluss unten gar nicht sehen, dazu ist die Schlucht zu schmal. Aber das wir hier sehr hoch sind, daran besteht auch optisch gar kein Zweifel. Allerdings ist der geduldig mit einem Dutzend weiterer Fotografen erwartete Sonnenuntergang am Bright Angel Point deutlich weniger spektakulär als erhofft. Ein alter Hase, der schon oft hier mit seinem Stativ stand, wenn die Sonne verschwand, erklärt: die Wolken (die heute nachmittag immer wieder über den blauen Himmel gesegelt sind) haben sich verzogen, sie werden sonst von der untergehenden Sonne rosa angeleuchtet und spiegeln das rötliche Licht wieder, so dass sich eine ganz andere Beleuchtung ergibt. Und jetzt ist die Sonne einfach plötzlich mal weg, Dunkelheit breitet sich in den Canyons aus, die Felswände verschwinden zunächst im Dämmerlicht und dann in der zunehmenden Schwärze. Es wird schnell kühl und nachts dann richtig kalt, so um fünf Grad, die als Mietwäsche deutlich überbezahlten Fleece-Decken sind völlig überfordert, da müssen wir uns schon richtig warm anziehen, um ins Bett zu gehen.

 

Donnerstag, 24. September 2015: Cape Royal Scenic Road

Wir geben nicht auf und wollen am nächsten Morgen noch einen Versuch starten, bei Sonnenaufgang vom Point Imperial aus die besonderen Lichtverhältnisse zu erleben. Als wir um halb fünf aufstehen, holen wir alle warmen Pullover und Fleece-Jacken aus dem Koffer, damit wir nicht schon vor Sonnenaufgang vor der Kälte fliehen müssen. Auf der Imperial-Felsspitze über dem Canyon und mit Blick auf den geheimnisvoll-geometrisch geformten Mount Hayden pfeift auch noch der Wind ganz schön. Wir sind nicht allein: Einige Paare und eine dreiköpfige Familie warten auch auf die Sonne. Den Jungen kennen wir schon, er heißt Tim und ist gerade so im Grundschulalter, gestern abend auf der Terrasse der North Rim Lodge war er schon unüberhörbar gewesen. Jetzt steht sein Vater ein paar Meter weiter unten und weiter vorn auf einer vorgeschobenen Felsnase (nichts für Kinder!) mit seinem Stativ und der gut ausgerüsteten Spiegelreflexkamera, die Mutter steht mit ihrem Stativ und ihrer Spiegelreflex am Geländer des Aussichtsplateaus, und Tim muss pausenlos plappern, um irgendwann mal ein bisschen Aufmerksamkeit zu ergattern. Seine Mutter ist aber eigentlich eher auf die Kamera orientiert. „Du musst jetzt schon noch ein bisschen Geduld haben“, sie behandelt ihn partnerschaftlich, wie einen Erwachsenen, von dem sie genervt ist. Moderne Erziehung. Wann denn endlich die Sonne komme? „Nur noch ein paar Minuten, ist ja gleich so weit“. Wie das denn komme, das die Sonne aufgeht? „Die dreht sich um die Erde“ - jetzt wird also auch noch falsches Wissen vermittelt, bloß weil die richtige Erklärung zu sehr von der Kamera ablenken würde. „Jetzt ist die Sonne doch schon da, können wir jetzt gehen?“ „Wir wollen das Licht doch noch ein paar Minuten genießen!“. Kurzes Schweigen. „Wie lange muss ich denn jetzt noch genießen?“ Das war ein Volltreffer, die Äußerung begleitet uns als wiederkehrendes Zitat den ganzen Urlaub lang. Wir sind froh, als wir beim Frühstück im RV sitzen, mit Blick über die Schluchten, direkt am Point Imperial – ein fürstliches Müsli mit königlicher Aussicht aus 2700 Meter Höhe. Die imperiale Spitze ist der höchste Punkt hier am North Rim.

Wir fahren die Cape Royal Road weiter und erleben an deren Ende einen spektakuläreren Überblick als bei der North Rim Lodge am vorigen Abend. Hinter den Schluchten zieht sich die große Ebene bis zu den Vermilion Cliffs, unten mäandert und glitzert der Colorado in der Sonne, wir bestaunen Angel's Window, einen von der Natur geschaffenen Fensterdurchbruch unter einer Felsbrücke, Format schätzungsweise zehn mal fünfzehn Meter, Durchblick auf den Fluss, alles ganz klasse. Das ganze 3XL-Format des Grand Canyon kommt von hier aus am besten zur Geltung. Die Landschaft ist hier nicht mehr so waldig, es ist eine halbaride Vegetation wie am Rande der Wüste, wilder Salbei, Cliff-Rosen und andere genügsame Blümchen, dazwischen hier und da ein Kaktus. Im Aufwind an den Felsschründen segeln ein paar Vögel, aber wir sehen keinen Condor und keinen Adler, die Condore haben ihren Horst eher drüben bei den Vermilion Cliffs, und hier gibt es hauptsächlich Rabenvögel und Geier. Hinterher, auf dem Campground,  gibt es Mango-Mangold-Pfanne mit Kokosmilch, Walnüssen und Erdnüssen, und die schmeckt so toll wie die Felsen ausgesehen haben. Vorgestern hatten wir einen Eintopf aus schwarzen und roten Bohnen, Paprika, Mais und diced tomatoes, mit reingeschnittenen Rindersalamischeiben, ganz westerngemäß und ebenfalls oberlecker. Nichts gegen die Pizza im 800 Degree oder an der North Rim Lodge, aber wir kochen besser...ob aus Dosen wie vorgestern oder ganz frisch wie heute. So frisch wie die Luft hier oben, wir sind eben auf 2500 Metern Höhe.

 

 

Freitag, 25. September 2015: Bryce National Park

Wir fahren knapp einen halben Tag zum Eingang des Bryce National Park. Vor den Toren des Parks liegt seit fast einhundert Jahren Ruby's Inn: ein Riesenkomplex aus Hotel und verschiedenen Motels und Gästehäusern, einer Bettenburg also mit sicher mehr als tausend Betten. Dazu gehört außerdem eine auf Wild-West-Dorfstraße getrimmte Shopping-Meile, ein Supermarkt, Tankstelle und Werkstatt, Verleih von Mountain Bikes und Quads, Rodeo-Tribüne und ein Riesen-RV-Camp, auf dem für uns kein Platz mehr ist. Wir sind froh, auf einem Ausweichplatz direkt am asphaltierten Bus-Parkplatz hinter den Motels unter zu kommen, full hook-up, alles gut. Nachmittag stromere ich ein bisschen herum in der künstlichen Kleinstadt, entdecke kurz hinter dem Veranstaltungssaal "Ebenezer's Barn and Grill" den eigenen Friedhof, den sich Ruby gegönnt hat. 2007 eingerichtet, beherbergt der Friedhof bis jetzt den ehemaligen Chef, seine 36jährig verstorbene Tochter (9 Kinder, ist auf dem Grabstein vermerkt), sowie einen seiner Angestellten. Ansonsten ist der fußballfeldgroße Rasen leer, grün und gepflegt, mittendrin eine riesige Tanne und die amerikanische Flagge im Wind. Dahinter geht Landschaft los, umzäunt, aber mit oiffenem Tor. Ich spaziere etwa zwanzig Minuten auf einer Ebene mit Nadelbäumen und heideähnlich bewachsenen Freiflächen, als ich von einer Gruppe mit neun Quads überholt werde: ich bin auf dem Ruby-eigenen Quad-Terrain gelandet. Kurz nach den Quads komme ich an der Abbruchkante an, dem rim, wo die Hochebene abbröckelt und erodiert in ein mehrere hundert Meter tiefer liegendes Tal, und auf dem Weg dorthin stehen die merkwürdigsten Gestalten. Teils sitzenden, teils stehenden Würdenträgern mit weißen Perücken ähnelnd, teils wie Gebäude zwischen Gotik und Giacometti, arbeitet die Natur seit Jahrtausenden an diesen Skulpturen, die es so nirgendwo anders gibt. Die speziellen Erosionsbedingungen und die ganz eigenen Farben des Bryce-Tales lassern sich schon hier am Rand des Quad-Platzes von Ruby erahnen. Ich bin ganz beseelt von meiner unerwarteten kleinen Entdeckung, und folge dem rim über einen Zaun und am Rand der bröselnden Kante ein Stück weit, noch ein Zaun, und zwischen mir und den Ausläufern von Ruby's Inn stehen nur noch ein paar Kühe. Euter haben sie nicht, sind wohl eher Bullen - ich beginne den Weg zum Gatter zu berechnen, das sich von mir aus hinter den Tieren befindet und zum Glück eine Lücke von einem halben Meter zwischen Boden und Zaun lässt, da passe ich wohl durch. Die meisten Tiere stehen  etwas rechts rüber und ignorieren mich beim Grasen, nur der eine links vom Gatter bewegt sich genau in die Richtung, in die auch ich vorsichtig gehe. Es ist ein großes Tier, das einzige mit Hörnern, und zwar riesigen, die mehr als oberarmdick am Kopf beginnen und dann waagerecht zur Seite mehr als einen halben Meter abstehen, spitz endend, also der sieht wirklich bedrohlich aus. Mir wird immer mulmiger, ich tu aber so, als wenn gar nichts ist, und bemerke zu meiner grenzenlosen Erleichterung, dass er mir gar nicht den Weg zum Gatter abschneiden und mich niederrennen will, sondern einfach nur zu seinen Kumpels trottet und mich gar nicht weiter zu sehen scheint. Ich ihn ja auch nicht, so gucken wir aneinander vorbei und schon bin ich unter dem Gatter durch in Sicherheit. War da was?... puuuhh..

Abends haben wir dann einen kulturellen Höhepunkt unserer Reise: Dinner und Show in Ebenezer's Barn and Grill. Das schützenhallenähnliche Gebäude hatte ich nachmittags schon gesehen, jetzt ist es erleuchtet, Busse stehen auf dem Parkplatz, so an die fünfhundert Touris aus aller Herrn Länder füllen die amerikanisch-festlich geschmückte Halle, hier könnte man auch diese Veranstaltungen zum Vorwahlkampf der Präsidentschaftswahlen durchführen, Flaggen sind genug da. Die Menschen kommen aus Frankreich, Deutschland, erstaunlich viele Niederländer (ein ganzer Bus?), ein paar Briten und Kanadier und Inder, und ganz viele US-Amerikaner, ist ja klar, die Touristen hier kommen ja auch nicht alle aus dem Ausland. An unsererm Tisch sitzen Nate und Clarence, ein schwarzes Paar aus Ohio auf einer Urlaubsreise zur Feier ihres dreißigsten Hochzeitstages. Sie haben drei erwachsene Kinder und sind erstmals in ihrem Leben so lange verreist. Beide sind total nett, man fotografiert sich gegenseitig, erzählt von den Kindern. Das Essen ist westerntypisch auf Blechtellern angerichtet, schmeckt aber richtig gut, große Steaks (die Männer) und Lachs (die Frauen). So etwas kriegst Du bei uns gar nicht, dieses Fleisch, und so saftig, der Fisch, also wirklich... Die Show ist eine Art Oktoberfest auf Western-Art, fliegende Lassos und knallende Peitschen, und die Bar-G-Wranglers, eine fünfköpfige Band mit drei Gitarren, Kontrabaß und Fiddle. Der Gesang ist konservativ-schön gesetzt, und sie singen gut. Es gibt Country-Klassiker von "San Antonio Rose" bis "Ghostriders in the Sky", und bei "Orange Blossom Special" kann der Geiger mal zeigen, was er drauf hat, und er hat wirklich was drauf, und jetzt noch mal doppelt so schnell.... Das ist gar keine Saloon-Truppe, sondern eine solide, gute Country-Band, old school,  aber ohne Schnörkel. An der Wand der Halle hängen Fotos von Western-Stars, ich erkenne die Cartwright-Familie aus "Bonanza", da ist James Stewart und - Ronald Reagan. Alles voll touristisch, amerikanisch und wenn man sich darauf einlässt macht es richtig Spaß. 

 

Sonnabend, 26. September 2015: Bryce

Morgens um neun fährt der Bus der Rainbow-Tours zu den Aussichtspunkten des Bryce National Parks. Die Tour ist umsonst für alle Inhaber des Annual Pass, der sich für uns schon mehr als bezahlt gemacht hat. Am Steuer sitzt Spike, der 75 Jahre alt ist und hier in Teilzeit weiter arbeitet, seit 13 Jahren ist er berentet. Früher hat er eine Niederlassung einer Getränkefirma geleitet, im Pepsi-Imperium. Er erklärt die Geologie und Botanik der Bryce-Region, gewürzt mit einigen Alt-Herren-Witzchen, aber auch manchmal recht selbstironisch. Er ist mächtig stolz auf seinen Ältesten, der als Pilot bei der Army schon zwei Einsätze im Irak hatte und einen in Afghanistan, und jedes Mal unversehrt wieder gekommen ist.

Der Bryce National Park ist gar kein Canyon, wie er fälschlich oft genannt wird. Es ist die Abbruchkante eines Hochplateaus, das ungefähr 9000 feet hoch ist, ungefähr 2700 Meter. Die klimatischen Verhältnisse haben hier ganz andere Bedingungen geschaffen als beim wenige Meilen entfernten Hochplateau, das vierhundert Meter höher ist und im Winter immer gefroren. Hier liegen die Temperaturen oft um den Gefrierpunkt, und demzufolge taut es und friert wieder, bis zu zweihundert Mal in einem Winter. Das fördert die Bodenerosion, es bröselt und bröckelt an allen Ecken und Enden, und es entstehen die typischen Säulen und Hoodoos, bei denen ein Kugelkopf aus härterem Gestein auf einer schlanken Säulentaille ruht, bis diese zerbricht und das Ganze zusammenstürzt. Die Säulengalerien sind zum Teil mehrere hundert Fuß hoch, und die Farben changieren von weiß über ocker bis rosa und tiefrot. Wie immer macht das Licht eine Menge aus. Es gibt so viele verschiedene Blicke, wie man Schritte macht, und die wandernde Sonne zaubert zusätzlich immer neue Kombinationen aus Licht und Schatten, aus hell und dunkel, und mischt neue Farben an. War das alles schon von oben atemberaubend, so nimmt es uns endgültig gefangen, als wir den Abstieg nehmen und untern mitten unter den Felsnadeln und einigen Bäumen mitten in einer faszinierenden Western-Szenerie stehen. Nach zwei Stunden im Bus mit Stops an den Aussichtspunkten und dem sich anschließenden mehrstündigen Spaziergang, zu dem wir uns von der Rainbow-Gruppe getrennt hatten, sind wir noch lange nicht sattgesehen. Der Fotoapparat hört auch nicht auf zu knipsen. Der Grand Canyon beeindruckt mit seinem XXL-Format, Bryce aber ist Ästhetik pur mit seiner Orgie aus Farben und Formen, bei der die Natur sich endgültig als Meister erweist. Mehr geht nicht.

 

Sonntag, 27. September 2015: Las Vegas 2.0

Wir wollen durch das Death Valley nach Californien fahren. An einem Tag kann man das kaum schaffen vom Bryce aus, und es gibt eigentlich nur einen vernünftigen Ort, an dem wir Zwischenstation machen können: Las Vegas. Gudrun und Wolfgang waren ja nicht dabei, als Linda und ich nach unserem Flug von Seattle in Vegas übernachtet haben, und wollen es doch wenigstens mal gesehen haben. Logistisch bietet sich der Stadtcampingplatz am Circus Circus Casino an. Ihn zu finden ist nicht ganz komplikationsfrei, weil er bis vor einiger Zeit zur renommierten Campingplatzkette KOA gehörte, aber als wir am KOA Las Vegas ankommen (per Laptop und Navi), liegt der weit draußen in einem gesichtslosen Wohn- und Gewerbegebiet, kaum vorstellbar, abends für einen Bummel über den Strip in die Stadt zu fahren, wo soll man das Wohnmobil parken? Da, wo der KOA-Platz früher war, ist aber nach wie vor ein Stellplatz für RVs, nur für KOA-Ansprüche war der auf Dauer zu klein und zu einbetoniert von allen Seiten. Jetzt wird er weiter geführt von dem Riesencasino Circus Circus nebenan, und von RV-Campgrounds haben die keine Ahnung und eigentlich interessiert es sie auch nicht, und das führt zu langwierigen Prozeduren einer schwerfälligen Großbürokratie bei der Anmeldung. Der Campground ist ein asphaltierter Großparkplatz zwischen dem heruntergekommenen Gewerbegebiet an der Industrial Road und einigen Großbaustellen von 20 bis 30 Stockwerken an den anderen Seiten. An das Casino-Gebäude von Circus Circus rangeklebt ist die große weinrote Glaskuppel, die die neue Indoor-Achterbahn umschließt, alles irgendwie schräg. Aber es gibt Stellplätze ohne Ende, alle mit full hook up (das bedeutet hier: Installationen aus der Goldgräberzeit, es geht mehr Wasser durch undichte Ventile verloren, als wir an einem Tag verbrauchen können). Der Kasten zur Entsorgung gebrauchter Spritzen im Waschhaus ist vermutlich nicht für Diabetiker angebracht worden. Ich versuche mich beim RV in unserem maroden Campingstuhl zu entspannen, aber es fällt ausgesprochen schwer bei dem schweren Grunddröhnen, das über dem Platz liegt: Dutzende von großformatigen Klimaanlagen in den Rvs brummen tieffrequent, die Monorail am Circus Circus Casino ist zwar stillgelegt, aber die Monorail auf der anderen Seite des Strips ist auch nicht weit, der Verkehr rauscht überall direkt am Platz vorbei, Baustellen machen ihre Baugeräusche, und man spürt das Dröhnen schon fast körperlich. Aber der Pool ist sauber und bei mehr als dreißig Grad am frühen Abend angenehm erfrischend. Außerdem erfahren wir beim plätschernden small talk mit einer Amerikanerin (so um die fünfzig) und ihrem Mann, der Eltern aus Deutschland und Norwegen hat, aber in Minnesota aufgewachsen ist, einiges über Redwood-Areale, die sie immer gern mit ihren bikes aufsuchen, leider für uns wohl etwas zu weit nördlich von San Francisco. Sie sind seit einiger Zeit immer mit zwei Motorrädern unterwegs, weil ihr Mann es leid war, nur hinter ihr als Sozius mitzufahren.

Am Abend rollen wir den Strip von der anderen Seite her auf. Hatten wir vor etwas mehr als einer Woche zunächst vom Süden her den Excalibur-Komplex mit seinem Disney-Schloss (soll aber eine Burg sein) und "New York New York" gesehen, fangen wir jetzt im Norden am Circus Circus an, später kommen kommen dann Treasure Island mit dem illuminierten Piratenschiff und das "Venetian" mit der romantischen Gondel-Lagune, alles pastellblau beleuchtet. Wir freuen uns, das Fontänenballett beim Bellaggio wieder zu sehen (auch wenn wir dieses Mal zu weit weg sind, um die Musik zu hören). Wir legen den Grundstein für ein kleines Ritual: Linda und ich waren beim ersten Bummel über den Strip zum Schluss in der „800 Degree“-Pizzeria gewesen, und auch jetzt beschließen wir den Abend auf der Terasse vor dem 800°, gucken Menschen zu, die sich höllisch vergnügen, trinken Bier und futtern Pizza. Die Pizza ist wirklich gut, das Bier ist kalt, ansonsten ist alles drumherum Instant, gefriergetrocknet, naturidentische Aromastoffe, E215, E378, E...garantiert ohne natürliche Zusätze. Wir fahren mit dem Deuce-Bus zum Circus Circus zurück, die Busfahrt kostet für uns vier ebenso viel wie die beiden Pizzen, die wir uns eben geteilt haben.

Auf dem Rückweg zum RV-Platz gehen wir dieses mal nicht am Circus Ciurcus vorbei, sondern spazieren durch den ganzen Casino-Komplex. Spielautomat an Spielautomat ( wie funktionieren die bloß? Wir verstehen nicht im Mindesten, was man da machen muss und was die drehenden Scheiben bedeuten und wie sich die Automaten unterscheiden, bis auf die bunten Displays und Touchscreens, sind wir zu blöd zum Spielen?), Restaurants, Shops, eine Indoor-Achterbahn mit vielfältigen sonstigen Freizeitangeboten, ein Massage- und Wellnessbereich (möchte ich mich hier vor den Augen Dutzender Spaziergänger kneten lassen?), kommt man hier auch noch mal wieder raus? Wir wandern über abgenutzten siebziger-Jahre-Teppichboden, es ist eher mäßig beleuchtet. Überall kommen wir an den Fahrstühlen zu den 30 Stockwerken vorbei, in denen die über 3000 Zimmer untergebracht sind. Es ist eine beklemmende Welt für sich, fast food – fast living. Kein Raum für Gefühle, nichts ist hier authentisch, und das einzige, was hier reflektiert, sind Edelstahl und Chrom an den Automaten. Im Internet wirbt das Casino: „Schlafen können Sie zu Hause! Mit ihren aufregenden Spielautomaten, vielfältigen Spieltischen, einem actiongeladenen Pokersalon und einem Hightech-Wettbereich sorgen unsere drei Las Vegas-Casinos für ultimative Spannung und Nervenkitzel!“ und fügt unten auf der Seite verschämt an: „Wenn Sie oder jemand Sie wissen, hat ein Problem. Spiele verantwortungsbewusst, rufen Sie bitte das 24-Stunden-Problem Spieler Helpline...“ So was kommt dabei raus, wenn man die Übersetzung einem Programm überlässt, weil es zu teuer ist, einen muttersprachlich deutschen Mitarbeiter das nochmal lesen zu lassen. Nicht nur Spielen, auch Sprechen und Schreiben sollte man verantwortungsbewusst handhaben.

Hier in der Nähe, in der Wüste von Nevada (Las Vegas ist ja eigentlich ein Teil der Wüste) wurden Waffen ausprobiert, auch Atomwaffen, bis Anfang der sechziger Jahre. Sie hatten alle das falsche Ziel, schoss mir durch den Kopf. Im selben Moment der innere Zensor: das ist aggressiv-machistischer Scheiß, so was soll man noch nicht mal denken. Aber das Denken wird in Las Vegas ja auch irgendwie systematisch und zielgerichtet ausgeschaltet. Ich kann also gar nichts dafür.

 

Montag, 28. September 2015: Im Tal des Todes

Bei der Abfahrt aus Las Vegas finden wir kurz vor der Wüste am Cheyenne Boulevard ein kleinstädtisches Einkaufszentrum mit fast leerem, RV-kompatiblem Großparkplatz. Nix wie rein zu Walmart – aber erneut finden wir bei der größten us-amerikanischen Supermarktkette nicht mal die Hälfte der Dinge, die wir suchen, vor allem nix Frisches, alles abgepackt und in Vollplastik. Also nix wie wieder raus aus dem Graus. Zum Glück gibt es schräg gegenüber noch Smith's, ihren freundlichen Supermarkt, und da haben sie alles, was wir noch suchen für unseren Vorrat: frisches Obst und Gemüse, eine Bäckerei – und es gibt ein Heer freundlicher Mitarbeiter, die uns gern beraten und gemeinsam herausfinden, was „Datteln“ auf englisch heißt („dates“, naja, das war nicht sooo schwer), und mit ihnen macht der Einkauf richtig Spaß und wir verspielen uns bis die Zeit drängt und die Wüste ruft.

Das Death Valley empfängt uns mit 40°, eine trockene Sauna. Über weite Strecken wirkt die hügelig-felsige Landschaft wie ein schlecht geführtes Baustofflager. Hier noch ein Berg schmutzig-braunes Geröll, dort grauer Stein, dann hellocker Hügel aus getrocknetem und erstarrtem Matsch. Erst am Zabriskie Point bekommt das Ganze Struktur, die Farben spielen miteinander, der Blick über das Tal wird von geschwungenen Erdfalten geführt, alles in gedeckten Erdfarben bis hellbraungelb – wenn es auf dem Mond so wäre, wäre es dort schön, aber was soll das hier auf der Erde? Bei der Fahrt durch den Artist's Drive sind die Farben noch einmal zum großen Ballett angetreten, außergewöhnlich: „Boaahh, eyy“ könnte man sagen. Aber es scheint kein Ort, an dem Menschen etwas verloren haben, eine Mondlandschaft von außerordentlicher Befremdlichkeit. Weiter, weiter...

In dieser Gegend haben vor hundert Jahren Männer in selbstgeschaufelten Schächten nach Borax gebuddelt. Das ist noch heute drin in Waschmitteln, Kosmetika und neuerdings auch in elektronischen Geräten. Die Gegend ist ziemlich durchwühlt worden, Wanderer müssen aufpassen, wo sie hintreten – aber wer wandert hier schon? Wir sind froh, als wir dieser unwirtlichen Gegend entkommen und über Hügelketten und weite Ebenen mit ausgetrockneten Seen endlich die Sierra Nevada erreichen. In Lone Pine finden wir einen zauberhaften Campground mit plätscherndem Bach und zwei, drei Zelten unter grünen Bäumen, im Hintergrund die gezackte weiße Silhouette der Sierra. Die kleine Straße, von der wir eben abgebogen sind zum Campground, führt direkt weiter zum Mount Whitney, dem höchsten Berg der USA außer Alaska (dort ist der höchste Berg Nordamerikas, der neuerdings auch offiziell wieder Denali heißt wie bei den First Nations schon immer).



 



Teil 3: California (dreaming?)


 

 

Dienstag, 29. September 2015: Über Turtle Creek Road und Mono Lake zum Yosemite Nationalpark

Am nächsten Morgen kommt Linda ins Gespräch mit einem sehnigen Typ, der mit Bike unterwegs ist und sicher über siebzig Jahre ist, aber fit wirkt, nur ein bisschen bitter. Er rät uns dringend, die kleine Straße noch weiter zu fahren, auf der wir zum Campground gekommen sind, es lohne sich in jedem Fall. Ob wir da mit unseren RVs langkommen? Klar, sagt er, es gibt auch eine Schleife, wo wir wenden können, er werde nach kurzer Zeit hinterher fahren und sehen, ob wir klarkommen. Er macht einen eher intellektuellen Eindruck, aber Menschen scheinen ihm nicht so zu liegen (wenn er auch einem kleinen Plausch nicht abgeneigt ist). Wir erzählen, was wir noch vorhaben, und er meint nur, in San Francisco habe er auch mehrere Jahre gelebt, aber die Menschen da seien doch nicht ganz schussecht, auf Dauer gehe das gar nicht. Auch im Yosemite hat er ein paar Jahre gelebt, die Natur scheint ihm deutlich mehr zu behagen als die Städte. Wir fahren los und sind völlig baff, was für eine Felsenszenerie wir dort finden, mittendrin die schmale, aber gut ausgebaute Straße, überhaupt kein Problem. Trotzdem kommt er eine Weile später mit dem Motorrad nach um zu gucken ob auch alles gut gegangen ist, und kehrt dann wieder um. Wir wenden an der beschriebenen Schleife, und als wir dann am Campground vorbei unsere Tagestour beginnen, steht er da und sieht hoffentlich unser Winken, er hat sich echt Mühe gegeben mit uns.

Von Lone Pine fahren wir nach Lee Vining immer am Fuß der Sierra Nevada entlang. Kurz vor Lee Vining kommen wir zum Mono Lake, ein großer See, nicht ganz so groß wie der etwas nördlicher gelegene Lake Tahoe, aber ganz eigen. Natriumcarbonat (soda) im Wasser bringt die türkisfarbene Farbe sowie bittersalzigen Geschmack hervor, und seit einigen Jahrzehnten kommen die bizarren Tuffsteingebilde hinzu, die früher im See versunken waren. Seit den vierziger Jahren wurde das Wasser, das sonst den See speiste, nach Los Angeles geleitet, um dort Rasen sprengen und Pools füllen zu können. Vielleicht haben sie auch was davon getrunken, ich weiß es nicht. Kam ja nicht direkt aus dem salzigen, bitteren See. Der Wasserspiegel sank um ungefähr fünfzehn Meter, und die Tuffsteinskulpturen tauchten auf. Der See verlor deutlich an Fläche, es staubte mächtig an den Ufern und die Millionen Vögel, die hier auf ihrer jährlichen Wanderung Station machten, kamen ganz durcheinander. Erst vor dreißig Jahren begann das Umdenken, Wasser wurde dem See wieder zugeführt und der Wasserspiegel stieg wieder – aber nicht so viel, dass die Touristen nicht weiter was zu Bestaunen hätten. Die Vögel sind's zufrieden, die Menschen auch, scheint eine win-win-Situation zu sein. Achtzig Prozent aller Möwen in Kalifornien kommen hier her, um hier zu nisten und ihre Jungen zu versorgen. Dann kehrten sie zurück in ihre Reviere am Pazifik. Das grüne Wasser mit den skurrilen Tuff-Formatioonen hat auch etwas außerweltlisches – aber nicht so feindlich und befremdlich wie im Death Valley.

Auf dem Tioga-Pass, der mit seinen über 3000 Metern Höhe nicht so schwer zu bewältigen ist, wie wir am Steuer des RVs befürchtet hatten, überqueren wir jetzt die Sierra Nevada. Wie immer haben wir keinen Campground reserviert, und wie immer rutschen wir gerade noch auf den großen, im Wald locker verteilten Naturplatz Crane Flats. Es gibt eigentlich keine Fläche, die irgendwie eben wäre, und man muss sich auf schräge Schlafplätze im RV einstellen. Bald wird es dunkel, man sieht überall kleine Feuer in den dafür vorgesehenen Tonnen, und dazwischen irrlichtern Taschenlampen zwischen hohen Bäumen. Bären haben wir hier bisher nicht gesehen, ist auch besser so.


Mittwoch, 30. September 2015: Im Yosemite

Die Wanderung zu den Vernal-Wasserfällen im Yosemite Nationalpark beginnt geruhsam. An den Happy Isles vorbei mit ihren granitenen Bachbett-Riesenklunkern geht es erstmal mit leichter Steigung zu der Brücke über den Merced-River (den ich eben „Bach“ nannte) mit schönem Blick auf schroffe Felswände (wirkt alles mächtig ober-alpin, dolomitös sozusagen). Und Sicht auf den sehr schmalen Wasserfall, der von da oben runterkommt, mit überraschend lautem Getöse auf den Fels klatscht, nachdem er ungefähr hundert Meter tief gefallen ist. Dann kommen die Stufen. Roh behauen und mit Trittsteinen dazwischen, große Schritte nach oben, sehr große, und schnell viel Schweiß in den Augen. Waren die Menschen früher größer??! Die anderen Mitwanderer sind doch eher zwischen zwanzig und vierzig und ähneln Gazellen, da fühlen wir uns ziemlich viel schwerfälliger. Es sind nur knapp zweihundert Höhenmeter, aber es braucht dann die Entschädigung durch ein großartiges Panorama. Steile Felswände an drei Seiten, noch weiter oben der Navajo-Fall, der kleine See oberhalb des Vernal-Falls mit seinen glattgeschliffenen, sanft aufsteigenden Ufern (Rutschen seit einigen Jahren verboten...). Und überall warten die kleinen ground squirrels (Streifenhörnchen) und die überraschend großen, grauen, winterschlafvorbereitungsfetten Baumhörnchen, zum Teil doch eher Baumhörner, und zeigen keinerlei Scheu. Das wäre uns eigentlich lieber, dass sie ein bisschen mehr Distanz halten, denn auf unserem Campground hingen amtliche Hinweise, dass Pesterreger bei den Baum- und Eichhörnchen aufgetreten seien. Im August war der Crane-Flat-Campground wegen der Infektion eines Nutzers vier Tage lang geschlossen gewesen. Wenn man innerhalb von sieben Tagen nach Besuch des Yosemite Schüttelfrost bekommt, Fieber und Kopfschmerzen, soll man dem Arzt mitteilen, dass man im Yosemite war. Dann wird der die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Wird er? Pest und Hölle!

 

 

Donnerstag, 1. Oktober 2015: If you're going to San Francisco...

Zum Glück haben wir für San Francisco erstmals einen RV-Platz reserviert, allerdings nur eine Zusage für eine Nacht bekommen können. Auch vor Ort können wir daran nichts ändern: Wir werden nach der ersten Nacht wieder umziehen müssen, dabei würden wir gern bleiben in Pacifica in dem RV-Park mit direktem Meerblick. Die vordere Reihe Stellplätze wird nicht mehr belegt, weil sie mittlerweile halb weggebröselt ist, die Abbruchkante der zwanzig Meter hohen Steilküste rückt langsam näher. Nach einer Regenfahrt durchs angeblich so knochentrockene Kalifornien kommen wir am frühen Nachmittag an. Linda entdeckt Delfine und einen Grauwal, der gemächlich vor sich hin prustend („Da bläst er!“ - Käpt'n Ahab in Moby Dick) längs der Küste schwimmt.

Mit der Vorortbahn BART kommen wir schnell an die Powell-Station im Herzen von SF, lösen unsere 3-Tage-Netzkarte und steigen direkt um die Ecke nach kurzer Wartezeit gleich in die Cable-Bahn ein. Die Abenddämmerung kommt schnell, und entsprechend eine kühle Brise wird zum Wind, und in kurzer Hose und T-Shirt (es schien doch noch eben so strahlend die Sonne!) fange ich schnell an zu bibbern. Mann, ist das kalt hier! Unsere Fahrt endet mitten in China-Town, die Bahn hat Feierabend (Fotos unten links). Macht ja nichts, das soll ja auch interessant sein in China-Town, gehen wir den Rest zu Fisherman's Wharf eben zu Fuß. Aber wir gehen wohl immer die falschen Straßen, die Geschäfte sind geschlossen (es ist eben mal sechs!), kaum Betrieb auf der Straße, öd und leer ist die Stätte. Später erfahren wir, dass von (insbesondere abendlichen) Besuchen in Chinatown wegen der zunehmenden Bandenkriminalität dringend abgeraten wird. Anscheinend haben sich alle anderen daran gehalten und sind weggeblieben. Nur wir spazieren nichtsahnend durch leere Straßen und klappern uns durch bis Fisherman's Wharf. Letztendlich retten wir uns in Jack's Crab Shack, erstens weil es da warm ist und zweitens weil wir was essen wollen. Es wirkt auf den ersten Blick wie eine ganz normale amerikanische Abfütterungshalle, aber es gibt auch ein Alleinstellungsmerkmal: im hinteren Drittel des Saals sitzen zwanzig Menschen mit blauer Schürze an Einzeltischen, vor sich eine Leinwand, und per Mikro gibt eine betriebsnudelige Mittfünfzigerin Anweisungen, wie man das malen muss, ein blaues Meer unten, einen blauen Himmel oben und ein Mond, der sich im Wasser spiegelt. Hochformat. So ähnlich ist die Geräuschkulisse bei Bingo-Nachmittagen in amerikanischen Seniorenheimen, weiß ich aus verschiedenen Filmen. Linda will eigentlich sofort wieder weg, aber es ist so kalt draußen, und irgendwann macht unerwarteterweise sogar die füllige Vielrednerin eine Pause. Das Essen ist wider Erwarten gut, Krebse, Lachs und Steak schmecken ganz ausgezeichnet. Wie immer bezahlen wir für vier Personen mit Tip ungefähr hundertzwanzig Dollar, und ob das mit dem Trinkgeld per Scheckkarte wirklich funktioniert, werden wir wohl nie herauskriegen. Aber alle scheinen zufrieden, und zurück zur Market Street fahren wir mit der Straßenbahnlinie F, das sind die Museumswagen aus San Francisco und aus New Orleans („A Streetcar named Desire“ fährt jetzt in SF zu seiner Endstation Sehnsucht). Alles auf Netzkarte.

Als wir mit BART wieder in Daly City ankommen, ist der Bus nach Pacifica gerade weg. Der nächste fährt in einer Stunde. Keiner will wirklich auf dem verlassenen Vorortbahnhof eine Stunde rumsitzen, also nehmen wir ein Taxi. Der junge Araber stellt sofort den Taxameter ab und wir treten in kurze Verhandlungen ein, zwanzig Dollar bis zum RV-Park sind okay. Auf unserer Frage danach, wo man beim RV-Park noch ein Bier trinken kann, zeigt er uns um die Ecke eine Bar in einem kleinen Einkaufszentrum, das sieht aus wie ein Fluchtpunkt für alle, die es wirklich nötig haben, und so fühlen wir uns nicht. Wir entscheiden uns also für die andere Option des Fahrers, uns beim nahegelegenen 7/11 rumzufahren, ich schlüpfe rein, greife einen Sixpack Corona aus dem Kühlfach, bis auf den Preis des Bieres ist der „Lieferservice“ in den 20 Dollar enthalten. Das kühle mexikanische Bier erfrischt unseren Abendrest an der Abbruchkante des Pazifik, mit Sternenhimmel und Meeresrauschen.

Freitag, 2. Oktober 2015: St. Quentin und Fisherman's Wharf

Vormittags müssen wir den RV-Platz wechseln. Netterweise haben die Ladies im Office für uns einen RV-Park zehn Kilometer nördlich der Golden Gate Bridge organisiert, und so rollen wir auf dem Highway One nach Norden und fahren bei strahlendem Sonnenschein über die schönste Brücke San Franciscos, der USA oder der Welt, je nach Blickwinkel. Sie korrespondiert einmalig mit der dunstigen Skyline der Stadt, die über die Bay flimmert, der goldene Schnitt für Brücken definiert sich nach dem Bauplan der Golden Gate. Wenn man rausfährt aus der Stadt, Richtung Sausalito, ist die Benutzung sogar umsonst.

 

In Larkspur rangieren wir die Rvs auf den Platz und gehen auf Rat der wie allüberall superfreundlichen Dame am Thresen zur Fähre nach San Francisco. Sie tuckert los, aus der kleinen Bucht von Larkspur raus, vorbei am Kult-Knast von St. Quentin (s. Bild oben). Johnny Cash hat das Gefängnis unsterblich gemacht mit seinem Live-Konzert (aber Metallica waren auch mal da). „St. Quentin, you've been living hell to me“, sang Cash unter dem tosenden Beifall der Weggeschlossenen. Das Gebäude ist martialisch umzäunt und umstachelt. Es gibt einen Neubau im architektonischen Stil des Original-Gebäudes, aber der alte Teil sieht schon mächtig runtergekommen aus. Kaum sind war daran vorbei, dreht der Katamaran auf und saust in unglaublichem Tempo Richtung Pier 1. Am besten man lehnt sich irgendwo an, sonst wirft einen der Fahrtwind einfach um (finde ich). Mitten durch zwischen Golden Gate Bridge und der Bay-Bridge zwischen San Francisco und Oakland (ist die lang!!) und vorbei an Alcatraz, dem anderen Kult-Knast.

 

In der quirligen Markthalle an Pier 1 holen wir einen Kaffee in Pete's Coffeeshop, rücken ein paar Stühle in die Sonne und genießen den double-shot-Cappuccino im Anblick der Bay-Bridge (Bild oben rechts), der Fähranleger, der alten und aufwändig sanierten Pier-Lagerhäuser mit trendigen shops. An den nächsten Piers sind sie dann weniger Schickimicki, dienen als Parkhallen oder die eine oder andere tatsächlich noch als Lagerhaus für Frachtschiffe. Die Holzkonstruktionen der Hallendecken sind filigran und manchmal schon etwas angenagt, und die Hallen sind echt groß, hundert Meter lang, zweihundert Meter. An Pier 39 bestaunen wir die Seelöwen, die auf den Pontons am Pier hausen und rumbellen und sich um die Massen von Touristen nicht scheren, die noch nie von so dichtem eine so große Menge Seelöwen beobachten konnten, eine fast urweltliche Szenerie mitten im hippen SF. Gegen Abend besetzen wir unsere reservierten Plätze im vegetarischen Restaurant „The Plant“ an Pier 3, am Wasser und ziemlich stylish. Es gibt Pizza mit schwarzen mission-Feigen und Rucola, und Gemüse-Masala. Dann fahren wir im Dunklen zurück mit der Fähre nach Larkspur, lassen die erleuchtete Skyline hinter uns und sitzen mit unseren Klapperstühlen noch einen Augenblick auf dem Asphalt zwischen unseren RVs, ein schon fast heimisches Gefühl... und keiner hat gefroren.

 

Sonnabend, 3. Oktober 2015: Hardly Strictly Bluegrass

Heute gibt es in San Francisco nur ein Ziel: den Golden Gate Park im Nordwesten der Halbinsel, auf der eine ganze Stadt liegt. Zum fünfzehnten Mal findet dieses dreitägige Open-Air-Festival statt, mit sieben Bühnen im ganzen Park verteilt, mehr als hundert acts und (angeblich im letzten Jahr) siebenhundertfünfzigtausend Besuchern. Es kostet keinen Eintritt, alles umsonst, man darf sich seine Kühltasche mit Picknick mitbringen, nur Tabak darf nicht geraucht werden – das gilt seit einigen Jahren in allen Parks von San Francisco. Der Neben lichtet sich rechtzeitig, als wir mit Bus die Golden Gate Bridge passiert haben. Die beiden älteren Herren vor uns wollen auch zum Festival: Der eine hat japanische Vorfahren und sieht mit seinem Sonnenhut ziemlich albern aus, quatscht aber unaufhörlich und lacht am meisten über seine Witzchen. Der andere sieht mit seinem rötlichen Backenbart im hageren Gesicht aus wie ein Hippie-Lord, über siebzig, eher schweigsam. Im Park treffen wir auf tausende eher durchschnittlich wirkender Menschen, sie sitzen auf Decken und Campingstühlen und sind echt relaxed, nur eine Handvoll Vorzeige-Hippies und der eine oder andere ZZTop-Bart. Der Ansager weist noch mal darauf hin: „Remember there is a law that it ist totally prohibitted to smoke tobbacco in public parks in San Francisco“ und das Wort „tobacco“ überdeutlich betont, geht ein Schmunzeln durchs Publikum, und die Schwaden aus den Pfeifen und Bongs ziehen ungerührt weiter duzrch den Park. No Sir, totally no tobacco in this pipe, I bet.

 

Die Musik ist leider manchmal etwas leise, vor allem bei den akustischen Folk-Auftritten. Wenn es tatsächlich Bluegrass ist, mit Gitarre und Fiddle und Banjo, verweht der Wind ein bisschen viel vom Sound. Ry Cooder tritt mit dem Grand-Ole-Opry-Ehepaar Ricky Scaggs und Sharon White auf und spielt Old-School-Country, das hätte ich eher in Tucson, Arizona erwartet als in San Francisco. Schon besser stimmt die Abstimmung bei Lera Lynn, einer jungen aufstrebenden Country-Stimme, die bekannt wurde durch einige wirklich schöne Lieder in der Fernsehserie „True Detectives“. Begeistert bin ich vom Sound bei Joe Jackson, der nun wirklich alles andere als Bluegrass spielt, aber ich habe noch keinen Open-Air-Auftritt mit so knackigem Klang erlebt, das Klavier und das unglaublich durchsichtige Schlagzeug brillieren. Jackson fängt an mit einigen seiner alten Songs, die ich schon so oft gehört habe und doch nie satt werden konnte davon, es ist immer so eine kleine Prise Wehmut und Bitterkeit drin, wie bei einem guten Cocktail, eine Prise Salz neben der Zitrone, wunderbar. Ich erinnere mich an die Fahrt mit der Staten-Island-Fähre. Die von der Südspitze Manhattans startet und den unvergleichlichen Blick auf die Skyline sowie die Freiheitsstatue bietet, und wie ich da 1984 auf dieser Fähre stand, den Ausblick genoss und über den Walkman Joe Jacksons „Night and Day“-Album hörte. „Is she really going out with him...“, großartig. Und auch hier jetzt wieder gut, mit zwanzigtausend eher intellektuell wirkenden Zuhörern in dem Halbrund des natürlichen Amphitheaters hinter dem Polo-Feld des Golden Gate Parks. Und als bei „You can't get what you want / till you know what you want“ das Gitarrensolo genauso druckvoll und blutig daherkommt wie auf dem legendären Album „Body and Soul“, anders, aber auch gleich, da bin ich happy. Der Wind ist stärker geworden, die mächtigen alten Eukalyptusbäume und Zedern tanzen mit. Strictly, Hardly und manchmal auch Bluegrass. Die sinfonische, künstlerisch ambitionierte Variante, Brooklyn Bluegrass irgendwie.

 

Im Rückblick tut es fast weh, was wir alles nicht gesehen beziehungsweise gehört haben: Kronos Quartet, Flogging Molly, Steve Earle, Michael Franty, Emmylou Harris... Auf dem Rückweg zur Bushaltestellte hören wir am Eingang zum Park drei junge Musiker, die auf dem Rasen zwischen Bürgersteig und Straße stehen und mit Gitarre, Kontrabass und Fiddle blitzsauberen Bluegrass zu Gehör bringen. Was sind schon Namen? Sie haben Spaß, der Geiger mit seinen zusammengebundenen Dreadlocks sieht eigentlich eher nach Reggae aus, aber wir hören Country, die Zukunft des Vergangenen, alles bleibt. Mehr als ein paar Dollar im Hut sind für die drei in diesem Jahr nicht drin, aber vielleicht im nächsten Jahr auf der kleineren Rooster-Bühne, im Vorprogramm? Man wird ja noch träumen dürfen...

 

Vom Bus aus sehen wir auf der Rückfahrt das berühmte Viertel um Haight/Ashbury. Um diese Kreuzung herum konzentrierte sich in den sechziger Jahren das Hippie-Leben. If you're going to San Francisco... Die Blumenkinder haben Geschichte geschrieben, sind aber mit dem, was sie da losgetreten haben, nicht alle so recht fertig geworden. In den siebziger Jahren war das Viertel berüchtigter Drogenumschlagplatz. Heute ist es aufgeputzt, aber noch erkennbar Haight Ashbury: Tibet und Tarot, viele kleine Läden, Indien und Indianer, Edelsteintherapie, Tattoo-Studios und Second-Hand-Läden. Jeder findet hier was, der nicht den Glitter und den Mainstream sucht. Es fehlt nicht dasVeggie-Sandwich von Subway, und auch nicht der TofuBurger von Vegan DeLight. Die Zeiten haben sich irgendwo doch geändert. Wir fahren durch.

Sonntag, 4. Oktober 2015: Highway Number One

Auf dem berühmten Highway Number One rollen wir an der Pacifik-Küste Richtung Monterey. Die Maut für die Golden Gate Bridge (die nur erhoben wird, wenn man von Norden Richtung City fährt) haben wir im Vorwege über das Tablet per Internet beglichen. Wer hier jetzt schon alles unsere Kreditkartennummer hat, da kann man sie ja gleich öffentlich aushängen... und nicht ein einziges Mal sollte ich die PIN angeben, dabei hatte ich doch extra wegen entsprechender Ankündigungen („die brauchste da unbedingt!“) eine neue Kreditkarte geordert, die alte hatte keine PIN.

 

Vor Eröffnung der Golden Gate Bridge verlief der Highway Number One übrigens hier eine Etappe per Schiff. Im jetzigen Museumshafen liegt ein Raddampfer, der neben der Einfahrt am Heck das Highway-Schild trägt. Ab Sausalito ging es dann auf der Straße weiter.

 

Die Küste südlich vom Siedlungsbrei San Francisco und Umgebung ist wild und zahm, trocken-sandig und farbig-blühend, von jedem etwas. Wir brauchen Zeit – es ist Sonntag, und auch die Kalifornier machen gern einen Ausflug an die See, der Highway Number One als Küstenstraße Nummer Eins ist heute auch Staustraße Nummer Eins. Besonders lebendig ist es in Santa Cruz, einem Städtchen mit Achterbahn an der Strandpromenade und mächtig viel Vergnügungspotenzial, nur leider (?) keine RV-Parkplätze, also stürzen wir uns nicht ins Getümmel. Bei Monterey finden wir im Carmel Valley einen kleinen RV-Park, der mit seinen laubgesägten Frosch-Schildern an jedem Stellplatz und mit der Open-Air-Lounge beim Office, die an den Eingangsbereich eines Seniorenheimes erinnert (inklusive Standardbesetzung mit drei alten Damen) so etwas ausstrahlt wie „german gemuetlichkeit“. Hat absolut was von Schrebergarten.

 

Monterey hat auch eine Fisherman's Wharf mit dem genreüblichen Mix „Seafood, Steaks and Sweets“. In einem Laden arbeitet die wohl an die hundert Jahre alte Fudge-Knet-Maschine stoisch vor sich hin, wir dürfen probieren (salziges Fudge, wegen dem Meer) und entscheiden uns doch für das lecker aussehende Eis, das man sich in den USA nur zum Monatsanfang leisten kann, wenn die monatlichen Bezüge überwiesen worden sind. Wir hatten diesen Monat noch keins. Dann sehen wir eine Weile den Pelikanen zu, die in der Bucht zwischen Fischerman's Wharf und Cannery Row fischen. Es macht die Möwen wahnsinnig vor Neid, wenn die Pelikane mit der Beute wieder auftauchen, so müsste man pfeilschnell senkrecht ins Wasser zischen können, jammern die Möwen, aber wir kriegen das einfach nicht hin... also versuchen sie den Pelikanen die Beute zu klauen, aber darin sind sie auch nicht wirklich gut, nur lästig.

 

Der Stadtteil Cannery Row ist ganz John Steinbeck gewidmet. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts wurden hier die Sardinen eingedost, anderthalb Millionen Dosen pro Jahr. In seinem Roman „Cannery Row“ (deutsch: „Die Straße der Ölsardinen“) hat John Steinbeck der Community und den kleinen Leuten von Cannery Row ein Denkmal gesetzt. Das Buch erschien 1945, und aus heutiger Sicht mag es etwas behäbig wirken, seine Slang-Diktion aufgesetzt, das einfache Denken der einfachen Leute etwas vereinfacht. Aber es ist durchzogen von der tiefen Sympathie für alle die ohne bleibenden Namen, ohne wirtschaftlichen Erfolg und ohne die basale Sicherheit im Leben. Mittlerweile ist die Cannery Row durchgentrifiziert, „veredelt“, wobei das Edle daran fake ist wie falscher Kaviar. Man kann ihn essen, aber das Gefühl der Exklusivität muss man sich irgendwie hinmogeln. Wir entscheiden uns, beim etwas abseits gelegenen Mexikaner zu essen, einem leicht abgeschrabbelten Restaurant, das über dem Meer hängt und seine beste Zeit hinter sich zu haben scheint (unten Mitte), nicht das John Steinbeck hier noch selber gespeist hätte, aber.... zumindest gelebt hat er ja in Monterey, nach dem Zweiten Weltkrieg, und das Gebäude könnte so aus den fünfziger Jahren stammen, wer weiß... Essensmäßig ist das unser Reise-Highlight. Von vegetarisch bis Shrimps und Steak ist alles höchste delikat und pikant, erfreut das Auge mit leuchtenden Farben, und es ist zudem seinen Preis wirklich wert. „Torito“ heißt das Restaurant, und im Rausgehen lese ich, dass es sich um eine Kette handelt, aber macht ja nichts – besser schmackhaft gekettet als durchschnittlich individualisiert.

 

Montag, 5. Oktober 2015: Schildkröten und Ferrari-Fahnen

Das Aquarium von Monterey ist immer wieder hochgelobt worden, von den Medien wie auch von meinen Verwandten, es ist ein absolutes „must“. Vierzig Dollar Eintritt pro Nase machen gespannt auf das, was uns geboten werden wird. Der erwartete Kick will sich aber nicht so recht einstellen. Die Vorzeigeunterwasserwelten, die über zwei Stockwerke reichen, sind beeindruckend, sicher. Aber viele Becken und Aquarien sind doch recht klein, die Fütterung der Pinguine macht einen eher kümmerlichen Eindruck und wird auch durch ein disney-artiges Showgehabe drumherum nicht wirklich aufgewertet, die Seeotter wurde man gern etwas direkter sehen als durch eine vollgespritzte Glaswand, einzelne Tintenfische können in ihrem kleinen Einzelbecken kaum die Tentakeln ausfahren. Das Aquarium besteht seit 30 Jahren, und vielleicht haben sich in dieser Zeit die Ansprüche weiter entwickelt, vielleicht erwarten wir ja zu viel. Vielleicht waren die Aquarien in Timmendorf oder St. Malo, die wir vor längerer Zeit gesehen haben, auch nicht wirklich toll, nur die Erinnerung färbt sie so, weil die Kinder damals klein waren und sehr begeistert? Das Aquarium mit Jupp und seinem Freund, den Schildkröten in Hannahs Zimmer, war ja auch nicht der Bringer... na ja, abgehakt.

 

Im Nachbarort Carmel war Clint Eastwood mal ein paar Jahre Bürgermeister. Hauptsache, man weiß seine Rolle zu spielen, egal ob Reagan oder Schwarzenegger oder eben Eastwood. Ob es seitdem eine Bürgerwehr gibt hier weiß ich nicht. Wir essen jedenfalls unter Ferrari-Flaggen eine wirklich gute Pizza. Der Ort erinnert unsere Freunde an Kampen, man riecht so etwas wie Exklusivität, und es ist echt hübsch hier. Kein Rummel, kein Kiosk am Strand, nur der formidable Sonnenuntergang (Bild unten links), die Bucht ist fantastisch und die Straßen sind schlecht. Zum Glück müssen wir nicht zurück auf den Schrebergarten-Campingplatz: wir haben gewechselt, hundert Meter höher und im Grunde direkt nebenan war ein zweiter Platz, mehr Blick, weniger Enge, keine Laubsägeschilder, alles gut.

 

Dienstag, 6. Oktober 2015: Big Sur

Der Highway Number One führt uns weiter, an Big Sur vorbei, einem Küstenabschnitt mit karger Natur (schon immer), hoher Kultur (seit Bau des Highway 1937 hergezogen) und viel Geld (zuletzt hergewachsen). Henry Miller hat hier gewohnt und Mickey Rourke, und Jane Fonda hat sich ein kleines Anwesen zugelegt. Die Millionen-Bungalows links und rechts der Straße zeichnen sich dadurch aus, dass man sie nicht sieht. Nur ab und zu glitzert hundert Meter über dem Pazifik eine halbrunde Panorama-Verglasung an freischwingender Großterasse (wie kommen die runter zum Baden??), und man bekommt eine Ahnung von dem nachmittäglichen Aperitiv in der immer goldener werdenden Abendsonne, dazu die Lektüre der neuesten Ausgabe des „New Yorker“ (man weiß ja schon gern bescheid, aber da leben im big apple, also wirklich...), und im Hintergrund die 88er Einspielung von „Aus der Neuen Welt“ mit George Solti, unnachahmlich, diese distanzierte Emotionalität. Ist eigentlich der Lexus schon wieder aufgeladen? Und schon plumpst die Sonne wieder in den Pazifik, perfekt ausgerichtet auf den Sonnenuntergang, diese Küste.

 

Wie gesagt, das kann man so ahnen. Aber noch fahren wir durch strahlenden Sonnenschein, blauer Himmel dadrüber, das Licht so leuchtend wie es sich für die Westküstenvariante des indian summergehört. Meile um Meile, Kurve um Kurve reiht sich Ausblick an Ausblick, und als die Straße erstmals wieder unten am Meer ankommt, finden wir auf Anhieb eine einsame Badebucht mit fünfhundert Meter langem Strand. Felsen drumherum, glasklares Wasser mit gefühlten siebzehn, achtzehn Grad (nicht so kalt wie befürchtet), Wellen nicht riesig, aber hoch genug, um ein bisschen Spaß zu haben und um zwei Surfer zu beschäftigen, die im Neopren-Anzug auf den richtigen Zug warten, den die nächste Welle vielleicht bringt, oder die überübernächste. Es ist eine absolute Idylle, wir entdecken eine kleine Grotte mit drei Ausgängen, einem Felsfenster zur Brandung, eines zum Strand. The west coach has the sunshine and the girls all get so tanned … I wish they all could be california girls...

 

Einige Meilen weiter sind alle Plätze am Strand belegt. Keine california girls, Seelöwen und die noch massigeren See-Elefanten drängen sich aneinander, einige richtig angeschmiegt, der eine oder andere bewirft sich lässig mit Sand, eine Flosse reicht dazu. Manchmal richtet sich ein Bulle mächtig auf, rülpst irgendwelche Kommentare in die Gegend, fällt augenblicklich völlig schlapp wieder in den Sand und rührt sich erstmal eine halbe Stunde nicht mehr. Was für eine Anstrengung. Eine durch und durch faule Gesellschaft, man könnte ganz neidisch werden, möchte gern mittenrein in diese community, wenn es da nicht so stinken würde. Und da ist auch dieser beunruhigende Gedanke, dass so ein durchschnittlicher Seelöwe einem ganz einfach das Lebenslicht ausblasen könnte, indem er sich auf einen drauffallen lässt. Platsch. Von den Zähnen ganz zu schweigen. Also bleibt es bei unserem hastigen Menschen-Treiben.

 

 

Mittwoch, 7. Oktober 2015: Der beste Burger in Pismo Beach

Wir gönnen uns auf der letzten Strecke einen Tag Strandurlaub in Pismo Beach. Der bei den Amis so beliebte Auto-Strand mit den vielen Quads und Pickups ist zum Glück etwas weiter südlich im Nachbarort Oceana. Der State Park Campground liegt an der Gemeindegrenze und ist weitläufig und unsortiert, ganz anders als der benachbarte Edel-Platz mit Golfrasen und Palmen, anders aber auch als der kilometerlange (Ab-)Stellplatz auf dem schmalen Streifen zwischen Eisenbahn und Highway 1, Urlaub auf dem Mittelstreifen sozusagen, nur für absolute Fans von allem was sich maschinenbetrieben bewegt. Unser Platz ist bunt szenekompatibel, Dreadlocks und Camouflage, alte kleine Wohnwagen (Bild unten) und überraschend viele Zelte. Hier ist es gelassen-lebendig und angenehm abgenutzt. Pismo Beach ist wie Timmendorf, nur etwas liebloser hingeklatscht, sehenswert in diesem Badeort ist eigentlich nur die Seebrücke auf zahllosen staksigen Holzpfählen mit dem rauschbärtigen Angler und dem alten Pelikan. Asphaltierte Großparkplätze an der Promenade und im Ortskern, bei Old Western Cinnamon Rolls gegenüber. Im irgendwie angenehm ungestylten, leicht abblätternden Diner „Cool Cat“ esse ich den besten Burger des Urlaubs (er heißt "The Duke", falls jemand es überprüfen möchte, und das dürfte sich auf Duke Ellington beziehen). Und der Sonnenuntergang am Strand erhält durch zahlreiche Vögel (Möwen, Austernfischer, Brachvögel und Reiher) eine ganz besondere Kitsch-Note, da hat sogar Pismo Beach ganz kurz etwas Romantisches (Bild unten). Ist aber schon wieder vorbei.

 

 

Donnerstag/Freitag, 8./9. Oktober 2015: Abschied vom Urlaub

Die letzte Tagestour bis nach Los Angeles soll noch mal ein bisschen Sightseeing bieten, auf uns warten Städtchen mit verheißungsvollen Namen: Santa Barbara, Malibu, und dann rein nach LA. Aber Santa Barbara verweigert konsequent jede Parkmöglichkeit für RVs, wir sind froh, dass wir aus den engen Straßen überhaupt wieder rausgelassen werden und nicht zum fahrenden Holländer werden, ewig dieselben Kreisverkehre und Einbahnstraßen passierend... weiter. Gated communities machen mit ihren stabilen Toren deutlich, dass wir nicht willkommen sind. Auch Malibu ist weitgehend privat, Zuma Beach erinnert vom Namen an die LP „Zuma“ von Neil Young, die 1975 erschien und mit deren Song „Cortez the Killer“ Navid Kermani so gute Erfahrungen machte, als er Neil Young als einzige Möglichkeit entdeckte, seine kleine Tochter vom Schreien zum Hören zu begleiten („Das Buch der von Neil Young Getöteten“). Hier erinnert nur der Wegweiser an solche existenziellen Ereignisse. Ein kleiner Imbiss bei Spruzzo's entschädigt uns: schöner Blick, gutes Essen, klasse Name für ein Restaurant (Bild unten).

 

Dann beginnt der Blech-Planet, der unter dem Namen Los Angeles firmiert. Wir nähern uns von Ventura aus, Erinnerungsfetzen an Tom Petty kreisen im Kopf: Ventura Boulevard, and it's a long day livin in Reseda...and I'm free, free falling... aber das ist eine andere Welt, hier rollt Auto an Auto, vom Freeway auf den Highway, erst vier Spuren, dann acht (in jede Richtung). Blech, Beton und drumherum Parkplätze, riesige Parkplätze, mit ein paar Büros dazwischen. Wir brauchen zwei Stunden für die Strecke von Santa Monica bis Long Beach, und an der Strecke ist nichts schön, aber auch wirklich gar nichts. Überrascht werden wir von dem überschaubaren Unter-Zentrum in Long Beach mit seinen paar Hochhäusern und dem luxuriösen RV-Park unter Dutzenden von Palmen. Etwas verschämt belegen wir zwei Plätze, obwohl unsere RVs nicht halb so groß sind wie die anderen auf dem Platz, die von der Größe her alle locker als städtische Linienbusse oder im Überlandverkehr dienen könnten. Wobei Linienbusse nicht an jeder Seite einen ausfahrbaren Erker haben, mit dem man die Nutzfläche noch einmal um ein paar Quadratmeter vergrößern kann. Und ich habe auch noch keinen Linienbus gesehen, der statt Kofferraum eine Klappe hat, hinter der sich der Zweitfernseher verbirgt, mit dem man draußen das Baseballspiel verfolgen kann, vom Campingsessel aus. Und dauernd dröhnt die Klimaanlage.

 

Am nächsten Morgen erreichen wir überraschend zügig die RV-Abgabestation und sind entsprechend früh am Tom-Bradley-Airport LAX. Viel zu früh, der Air-France-Schalter macht erst in fünf Stunden auf, und der Wartebereich vor den Schaltern ist voll, eng, reizlos und es gibt nichts Vernünftiges zu essen. Nur gut, dass wir Sitzplätze ergattert haben und lesen können. Als wir Stunden später dann „drinnen“ weiter warten, ist das wesentlich angenehmer. Der Duty-Free-Bereich ist architektonisch ausgesprochen einfallsreich gestaltet und ist mit dem neuesten elektronischen Design-Schnickschnack aufgepeppt. Auf einer zehn Meter hohen Bildsäule läuft ein schwarzweißer Stummfilm, der extra für dieses Format hergestellt ist: eine Hochhausfront aus den zwanziger Jahren, ein Mann und eine Frau verfolgen sich durch die Stockwerke und die Fassade rauf und runter... nett gemacht. Wir essen die letzte Pizza bei 800 Degree, die auch hier im Fast-Food-Bereich vertreten sind und wie wir schon von zwei Besuchen in Las Vegas kennen (ich sagte ja, einiges wird schnell zum kleinen Ritual). Wir spielen die letzte Runde Doppelkopf, während draußen zum letzten Mal die Sonne untergeht, zum letzten Mal für uns in den USA zumindest. Sundown, you better take care... when I feel like I'm winning when I'm losing again...

                                            The End

Randbemerkung: Die Fotos, die diesen Text ergänzen, sind eher Illustrationen. Sie wurden nicht ausgewählt, weil sie fotografisch am meisten zu bieten haben, sondern weil sie die Vorstellung visualisieren, die man sich von der Reise und den Gegenden machen kann, die wir besucht haben. Noch ein paar Fotostrecken zu unterschiedlichen Themen oder Regionen dieses Urlaubs findet man auf dem BilderBlog

ingoengelmann.jimdo.com

(s. unten).