Übersicht:

Eine zweisame Woche in New York, dann eine Woche nahe Chicago mit Simon und seiner Freundin bei seinen ehemaligen Gasteltern aus dem Highschool-Jahr. Zuletzt zwei Wochen mit dem Wohnmobil durch den Yellowstone Nationalpark und Wyoming. Stadt.Land.USA.

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Teil 1: New York

 

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Sonntag, 05. Juli 2009

Als wir ankamen, gestern Abend, wurden wir mit einem vom Flugzeug aus hervorragend zu überblickenden flächendeckenden Feuerwerk begrüßt. Independence Day. Dann mussten wir erstmal warten – aber die Koffer kamen nicht, also gehen wir ins Hotel und hoffen.

 

Am nächsten Tag sind die Koffer da. Nur 24 Stunden nach uns, und in meinem war ein Zettel, dass er untersucht worden ist. Daher die Verspätung? Es sieht aber gar nicht so aus, als wenn auch nur eine einzige Socke umgedreht worden wäre. Alles wird gut.

 

Heute war hier in New York der erste Tag der Orientierung und Kontaktaufnahme. Vom Hotel zur Hudson-Promenade (fertiggestellt im Jahr 2008, also die Farbe ist gerade erst getrocknet) sind es nur zwei, drei Minuten. Da sind sie, die Jogger und Walker und Skater, auch die Frau im gelben Top, gut durchtrainiert, die merkwürdige Dinge mit einem Hulahoop-Reifen anstellt, sich in einen Kokon aus gedrehtem/gestopptem Reifen einspinnt, in eine eigene Welt aus Körperselbst und Abkapselung. Ein Schwarzer auf Inline-Skatern, der eher uninspirierte Töne aus seiner in der Morgensonne blitzenden Trompete in die Sonntagsfrühe stößt. Und die alte Dame mit den innovativen Ballon-Laufschuhen, die statt Walking-Sticks einen altmodischen Gehstock benützt. Wir sind auf der Promenade Richtung Süden an dem neuen Hudson-River-Wohnpark und dem Financial Centre vorbeispaziert, inklusive kurzem Blick auf Ground Zero, die tragischste Baustelle der Neuen Welt, und Stippvisite beim Irish Hunger Memorial. Vorbei an der Touristen-Schlange für die Schiffsfahrt zur Freiheits-Statue. Die Wartezeit wird den Touris verkürzt von diversen black men mit Steeldrums oder Ukelele, die von Summertime bis zu Rodrigos Gitarrenkonzert (2. Satz, Aranjuez…)eine breite Palette beliebter Melodien darbieten.

 

Wir sind lieber mit der liebenswerten Staten Island Ferry gefahren, wo die Wartezeit im Fährgebäude qualitativ ungleich gewichtiger von einem jungen Gitarristen untermalt wird, der neben Beatles-Bearbeitungen lateinamerikanische Klangbilder vom Feinsten malt. Auf den Steinbänken im schlicht (d.h. einfallslos) gestalteten neuen Fährgebäude sitzen weiße Juden mit langen Schläfenlocken und breitkrempigen Hüten neben der schwarzen, rausgeputzten Lady und dem Freak mit Baggy-Hose, the big apple eben.

 

Abends dann essen in der gemütlich-normalen „Favela Cubana“ mit Congas als Barhockern, und anschließend ein klangvoller Gang über den Washington Circle mit Jazz-Standards von einer vierköpfigen Akkustik-Gruppe, Retro bis in die Kleidung, zwei Gitarren, Kontrabass, Gesang. Ein bisschen weiter ein Percussion-Könner an Plastikeimern, Kochtöpfen und Backblechen, und noch diverse andere Kleinkünstler im Village. "There's music on Clinton Street all through the evening" brummt Leonard Cohen in dem fabelhaften Song "Famous Blue Raincoat". Und dann müde ins Bett...

 

Im Fernsehen dominiert das Gedenken an Michael Jackson (gerade gestorben – wirklich tot?), Cereal-Werbung mit drei Figuren: Der Pionier (weiß), die Hausfrau (weiß), der augenzwinkernde Fröhliche (schwarz). Dann wieder memories of Michael. Im Apollo-Theatre: Tribute to Michael. Und Basball, Golf, Baseball.

 

Objects in the mirror are closer than they appear” (Aufschrift am Taxi-Rückspiegel). Könnte man mal einen Essay drüber schreiben.

 

Montag, 06. Juli 2009

Vormittags versuchen wir mit der Subway zum Central Park zu fahren. Nicht ganz einfach, die frisch gekaufte Vierfach-Karte lässt das Drehkreuz kalt, es bewegt sich kein Stück. Macht aber nix, denn gleich daneben ist ein office booth mit einem beeindruckend gelangweilten officer. Wortlos schaltet er uns den Eingang frei. Was da nun nicht funktioniert hat (wir? New York?) bleibt offen.

 

Am Park gefällt uns die schöne, durch moderne und ältere Mittelhochhäuser gut gegliederte Skyline von Central Park South. Im Park selbst genießen wir sparsamen Bop-Jazz von einem Trio aus Klarinette, Bass und Schlagzeug, nahe dem children’s zoo. Zweijährige tanzen zum Jazz, während ihre Nannys nicht wirklich interessiert wirken, die Musiker sind hochprofessionell, üben die hier oder brauchen sie das Zubrot? Cotton Club goes kindergarten. Kranich und Schildkröte beleben den Park (naja, so besonders beleben tut speziell die Schildkröte ihn nicht, sitzt da halt so auf einem Stein am Teich).

 

Gegen Abend nehmen wir die Subway (erfolgreicher am Drehkreuz), um unter dem East River rüber zu fahren nach Brooklyn. Direkt an der „Watchtower“-Zentrale der Zeugen Jehovas beginnen wir den Rückweg, zu Fuß über die Brooklyn-Bridge zur abendlich beleuchteten Skyline Manhattans. Als wir kurz vor unserem Hotel um zehn Uhr die Canal Street erreichen, ist hier alles verrammelt und verriegelt, Markstände und Buden wirken verlassen, kaum Passanten. Im Dunkin-Donuts-Imbiss versorgen sich Damen mit fragwürdiger Provenienz (eher am Beginn ihrer Schicht) mit Eistee und Sandwichs.

 

 

Dienstag, 7. Juli 2009

Linda hat eine Blase an der Fußsohle. Also sind eher sitzende Vorhaben angezeigt. Wir wählen die Circle-Line: Mit dem Schiff einmal um Manhattan, drei Stunden, interessante Perspektiven auf Battery, Bronx und alles dazwischen. Der Mann am Mikrophon unserer Barkasse dürfte um die siebzig sein, seine Erklärungen oszillieren zwischen Ironie und einer leicht ermüdeten Abgeklärtheit, er spricht langsam und sogar wir verstehen ihn gut. Leider ist es sehr diesig, da ich trotzdem dringend und ununterbrochen fotografieren muss, werde ich wohl eine qualitativ unbefriedigende Ausbeute machen. Das herzbewegendste Bild: der kleine rote Leuchtturm am Fuß der Washington Bridge. Eigentlich sollte er abgerissen werden, als die Riesenbrücke gebaut wurde, er war irgendwie überflüssig geworden, aber es gab sogar ein beliebtes Bilderbuch über ihn, und die New Yorker sorgten dafür, dass er bleiben durfte. Gut so.

 

Am späten Nachmittag besuchen wir das „Hudson Place Festival“ direkt um die Ecke bei unserem Hotel. Im Innenhof der New York Vinery tummeln sich mehr als hundert Leute beim After-Work-Concert. Hierher kommen renommierte Musiker, in zwei Wochen wird Marc Ribot erwartet (den alten Kumpan von Tom Waits hätte ich ja zu gern gesehen und gehört!!), heute spielt die Band „Sway Machinery“, nie gehört, angekündigt sind sie als „Old Blues“. Sie entpuppen sich als muskalische Schiffschaukel zwischen Balkan-Blues-Rock und Ska, mit einem mehr als mächtigen Bass-Saxophon, das mit dem Schlagzeug die Rhythmus-Gruppe bildet. Der Sänger ist ein mächtiger Kantor, manchmal rätsele ich, ob er hebräisch singt (tut er, glaube ich), und manchmal spielt er Gitarre, erinnert mich dann an The Police. Außerdem gibt es ein Alt-Saxophon und eine Trompete (geblasen von einem Palästinenser/Syrer/Araber). Das Publikum meist jung und trendy, und die Musik laut, sehr laut (eine ältere Dame, der die Musik sehr gefiel, hatte Ohropax im Gehörgang). Der Hund eines jungen Mannes wollte nur eins: weg. Durfte aber nicht.

 

Abschließend ein Spaziergang durch Little Italy, das nur noch wie eine mittelmäßige Geschäftsidee der Pizza-Connection wirkt, und China Town, das immer noch die Lebenswelt der asiatischen New Yorker zu sein scheint. Alles im Gehbereich um unser Hotel, sehr praktisch.

 

Mittwoch, 8. Juli 2009

Wir gehen durch Greenwich Village (Thompson Street und Broaday) zum Flatiron-Building, das in seiner etwas skurrilen Dreieckigkeit beeindruckend und gelungen wirkt. Dann vorbei am Empire State Building (wir haben keine Lust auf erhabene Ausblicke), wir drängeln uns durch das Gewimmel am Times Square und nehmen auf der sheep meadow im Central Park ein Sonnenbad. Von dort geht es dann weiter zum Dakota-Building, John-Lennon-Gedenkminute. Ich sehe das Gebäude, in dem er gewohnt und vor dem er erschossen wurde (und in dem der Film „Rosemary’s Baby“ gedreht wurde) und bin irritiert: Wie kann ein psychisch nicht wirklich stabiler Typ wie Lennon sich in so einen düsteren gothic-Schuppen einkaufen? Wenn man noch nicht depressiv ist, wird man es hier auf sicher unmittelbar. Die Lage direkt gegenüber den strawberry fields im Central Park mag ja nett sein, aber wäre es nicht doch passender gewesen, etwas in der Penny Lane zu suchen?

 

Donnerstag, 9. Juli 2009

Vor dem Frühstück eine Runde Sport, that’s the american way. Der Fitness-Raum Im Hotel ist belegt, besser so, wir walken zum Hudson River Walk, heißt ja auch schon so, obwohl hier wird eher gejoggt. Die strahlende Morgensonne lässt die gegenüber, auf dem anderen Flussufer liegende Skyline von Jersey City glitzern. Pier 45 auf unserem Flussufer hat neue Holzbohlen und einen frischgrünen Rasen, und da machen wir die Grundübungen der Kraft aus dem Quan-Dao-Kung-Fu, einer Zen-Shaolin-Melange mit deutschen Einsprengseln. Etwas weiter hinten guckt uns die Statue of Liberty zu, direkt gegenüber in New Jersey liegt der Retro-Fährhafen der ERIE-LACKAWANNA-LINE. Im Quartiersblatt Village Voice bietet ein Psychotherapeut seine Dienste an unter Verweis auf seine siebzehnjährige Zen-Erfahrung. Das hilft hier weiter, wie wir bestätigen können. Ein bisschen Zen ist in Manhattan nicht verkehrt.

 

Nach dem Frühstück spazieren wir zur New Yorker Außenstelle der Rock’n’Roll Hall of Fame, in der eine von Yoko Ono zusammengestellte Ausstellung über John Lennon zu sehen ist. Vielleicht verstehen wir dann das mit dem Dakota-Building, in dem Lennon von 1974 bis zu seinem Tod 1980 gewohnt hat, ein bisschen besser. Es beginnt mit einem Viertelstundenfilm, der durch die Rockgeschichte führt, zwei Leinwände vorn, und an jeder Seite eine, aber keine wirklich gute Soundanlage, hätte ich hier besser erwartet. Es geht los mit Muddy Waters und Chuck Berry, über die Beatles und Led Zeppelin geht es bis Aretha Franklin, was in den letzten zwanzig Jahren gelaufen ist, bleibt unerwähnt, war wohl nichts Wichtiges. Jimi Hendrix darf sein „Star Spangled Banner“ zelebrieren, und Michael Jackson wird hier mal nicht nur deswegen erwähnt, weil er gerade gestorben ist.

 

Beim Rundgang durch die Dauer-Ausstellung der Hall of Fame kommt man an einer Martin-Gitarre von Eric Clapton vorbei, an einer Fender Stratocaster von Lennon (er hatte 26 Stück davon), an einem Kleidchen von Janis Joplin. Lauter so Rock-Schnickschnack. Interessant wird es durch den Kopfhörer: Eine Funkverbindung sorgt dafür, dass man vor jeder Vitrine und jedem Ausstellungsstück genau das Stück Musik hört, das hierher passt. Ein Schritt nach links: Metallica. Zwei nach hinten: Nirwana. Rock’n’Roll liebte schon immer Technik, auch wenn er dadurch zeitweise im künstlichen Synthesizer-Klangbrei ertrank. Hier ist die Technik genial gelungen. Der Kopfhörer macht genau das, wozu man einen Kopfhörer braucht: Musik.

 

Dann die John-Lennon-Ausstellung. Sie ist sozusagen staubfrei. (Meine Assoziation: Yoko Ono kuratiert – also Japan – also Tatami-Reismatten – also Schuhe aus). Beim Betreten des Saales geht man über eine klebrige Folie, und schon ist der Staub von den Sohlen ab. Wenn man den Leuten schon nicht zumuten will, die Schuhe auszuziehen…Wenn man beim Originaltextzettel von „Woman“ oder „Imagine“ stehen bleibt, fängt der Kopfhörer die entsprechenden Töne aus der Luft, und man hört, was Lennon da aus der Luft gefangen hat, in der die Töne schon immer rumschwebten, nur keiner hat sie gehört. Er konnte sie aufnehmen und aufschreiben. 1974 war er echt schmal (nach achtzehnmonatiger Trennung von Yoko 1973/74), dann schnell muskulöser und mit breiterem Gesicht, Yoko hat ihm sichtlich gut getan. Die Kollektiv-Inszenierungen: „Give Peace a Chance“, in der Letterman-Show erklärt Lennon als selbsternannter messiah dem Conferencier die Unterdrückung der Frau („Woman ist he Nigger of the World“), so ganz echt und authentisch wirkt das nicht, eher getrieben (wer treibt ihn?). Warum tritt der eher introvertiert-scheu wirkende Lennon so offensiv extravertiert auf? Ich mag ihn. Aber sein Leben bleibt gebrochen, flirrend, oszillierend. Herbst im Central Park – ein kleiner Film, ich gönne ihm die Ruhe der fallenden Blätter, die Kinder in der Nebelsonne, „You may say I’m a dreamer / but I’m not the only one“. Der Träumer bleibt ohne Halt, imagine

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Teil 2: Chicago - Naperville

 

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Freitag, 10. Juli 2009

Bernie holt uns mit Simon und Kathi vom O'Hare International ab, dem Flughafen von Chicago. Auf dem Weg holen wir Essen vom Chinesen, der hat auch vegane Speisen (das ist ja jetzt wichtig wegen unserer jungen Leute). Bei Bernie und Mike zuhause angekommen, in ihrem dreistöckigen Stadthaus im Golfplatz-Vorort von Chicago, überreichen wir die Gastgeschenke: Weihnachtsbaumkugeln mit dem Hamburger Wappen (sie werden sie lieben!) und das eigens gefertigte Fotobuch mit Bildern aus der Nordheide. Endlich müssen wir „richtig“ englisch sprechen, nicht nur eine Frage (die man sich dann auch noch lange vorher ausdenken kann). Bernie kann auf charmante und konziliante Weise sprechen, so dass man erst gar nicht so merkt, dass es eigentlich immer um ihn geht, wie auch immer der Ton gerade ausfällt. Mike hat ein eher schroffes Auftreten, immer gerade raus und nicht gezagt, so kommt ihm wenigstens keiner unkontrolliert zu nahe. Dabei mag er es ganz gern, wenn man etwas über ihn wissen will: was er für Musik mag, warum er Naperville eigentlich ziemlich blöd findet mit all diesen „stinking rich people“, warum er lieber wieder nach Chicago reinziehen möchte. Am nächsten Tag lernen wir seine Familie kennen, weil Kyle sein Highschool diploma erhalten hat und alle sind da und feiern das mit Barbecue und Wurfspielen auf dem Rasen. Kurt, Kyle's Vater, liebt diese Familientreffen, solange sie noch funktionieren – wahrscheinlich muss er in ab sehbarer Zeit an die Westküste, wird versetzt, und dann ist die Familie auseinander gerissen, aber so ist es nun mal.

 Sonntag, 12. Juli 2009

Wir fahren nach Chicago, um Kathi bei der VoKü (VolksKüche) in Pilsen zu treffen. Pilsen ist ein ehemals kleinbürgerlicher Stadtteil, früher kamen die Leute hier aus der Tschechoslowakei, aus Pilsen eben. Heute ist hier alles fest in mexikanischer Hand, bis auf McDonalds und einige andere Außenposten der us-amerikanischen Kultur. Einige Gebäude und neighbourhoods scheinen ziemlich run down, runtergekommen, aber in den meisten Straßenzügen versuchen Familien ohne großen finanziellen Spielraum im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Haus und Vorgarten zu pflegen.

 

Kathi hat mit einem anderen Aktivisten ein veganes Reis-Gemüse-Mahl zubereitet, nur zu zweit dieses Mal, wegen der Ferien (auch Aktivisten brauchen Urlaub). Das Essen wird mit einem kleinen Karren zu dem nahegelegenen Platz transportiert, wo unter den spärlichen Bäumen auf Steinbänken schon ein paar ältere südamerikanisch aussehende Männer sitzen. Kaum steht das Essen und eine Kiste Bananen auf einer Bank, und der Haupt-Aktivist mit dünnen roten Haaren und etwas Bartflaum hat sich eine Schale mit Reis und Gemüse genommen, schlendern die dunkel gegerbten Männer näher, sichern sich einen Bananenvorrat (Spende eines Lebensmittelladens im Quatier), füllen ihre Schale mit Reis und Gemüse. Es werden kaum Worte gewechselt, diese VolksKüche ist wirklich für das Volk, nicht für die Szene der Aktivisten. Gegenüber ist „La Casa des Pueblo“, der Palast des Volkes, und das ist ein Supermarkt.

 

Mit Kathi spazieren wir durch den Stadtteil. Große Wandgemälde zieren die Häuser, Bilder von Azteken , Mariachis und mexikanischen Bauern, Kämpfern für die Sache des Volkes, Geistern und Göttern. Auf dem Schulgelände der Benito-Juarez-Schule erklärt uns Grace, die den Park sauberhält und selbst mexikanische Vorfahren hat, die Skulpturen: Da ist Eduardo Zapata, der die Kämpfer angeführt hat, und dort auf dem Wandgemälde ist Benito Juarez selbst, der erste Präsident Mexikos, dem eine weiße Lady Lesen und Schreiben beigebracht hatte und nach seinem Highschoolabschluss wurde er Anwalt, der erste Anwalt des Volkes. Die Skulptur dort stellt einen Azteken dar, und diese weiße Frau da hat Geld für Waffen und Ausrüstung gesammelt. Grace ist stolz auf das Land, aus dem ihre Familie kommt, und auf das Land, in dem sie lebt. Darüber soll ihre schroffe Art nicht hinwegtäuschen, so ist sie nun mal, und sie hat deswegen ihren Job in der Schule verloren. Nun hält sie den Park sauber. Wir machen noch ein paar Fotos mit ihr und spazieren weiter. In einem mit Gewerbe durchsetzten Quartier sammelt ein älterer weißer Herr Müll und Dosen auf, es sei hier nicht gepflegt, er möchte seinen Teil dazu beitragen, dass sich das ändert. Später erzählt uns Mike, der selbst Eisenbahner ist, dass die Eisenbahnstrecke früher die Grenze war zwischen dem mexikanischen Pilsen und dem schwarzen Nachbarstadtteil. In den Bandenkriegen starben fast täglich (nächtlich) Menschen. Nun sei es ruhiger geworden.

Montag, 13. Juli 2009

Ruhetag in der Vorstadt Naperville: Supermarkt Jewel Osco ("Jewel began as a group of door-to-door salesmen selling tea and coffee from the back of horse-drawn wagons in 1899"), Barnes & Noble ist die allüberall schon angekommene Buchhandlung, Spaziergang am Ufer des DuPage River, mittags Pizza.

 

Die Buchhandlung war spannend. Da gab es das Büchlein „To Bee or not to Bee“ von John Penberthy („Es schien, als wenn jedes Mal, wenn er begann etwas zu genießen, jemand kam und es kaputt machte“): die Geschichte einer Arbeitsbiene, die zu Bewusstsein kommt und sich fragt, was diese ganze Plackerei soll mit den Pollen, wenn man die Blumen und die Wiesen nicht genießt. Es hat einen Hauch von „Pu der Bär“, aber ich schrecke vor dem Kauf doch zurück, weil in einem eh überladenen Fluggepäck auch zweihundert Gramm zusätzliches Buch zu viel werden. Obwohl es zum halben Preis zu haben wäre...

 

In der Psychologie-Abteilung fordert Herr Siegler auf „Fire your Therapist“. Unter dem fetzigen Titel geht es um Ratschläge, was man noch tun kann, wenn einem die Therapie nicht mehr so recht weiterhilft. Frau Wurtzel schreibt einen Erfahrungsbericht unter dem Titel „Prozac Nation“ und versieht ihn mit dem Untertitel „Young and Depressed in America“. Ein wichtiges Buch, schreibt einer im book review einer Provinzzeitung im Mittleren Westen. Mag schon sein, aber weiterhin nimmt ein bedeutender Anteil der amerikanischen Bevölkerung dauerhaft Prozac ein, das stimmungsaufhellende Antidepressivum, immerhin ein nicht zu unterschätzender Chemie-Cocktail. Ein weiterer Ratgeber konzipiert unter dem Titel „Potatoes, not Prozac“ das Modell eines „Full Ctatastrophe Living“. Daneben stehen die seriösen Bücher von Irving Yalom („Theory and Practice of Group Therapy“, habe ich mit Gewinn früher mal auf deutsch durchgearbeitet) oder das „Psychodynamic Diagnostic Manual“ PDM, das aus Bethesda, Maryland, kommt, wo auch das Walter Reed Militärkrankenhaus ist. Nur mal so erwähnt, ob es da Zusammenhänge gibt, ist offen geblieben. Mein Arbeitsplatz heißt auch Bethesda. Barnes & Noble in Naperville, der Kleinstadt auf Rang 2 der lebenswertesten amerikanischen Kleinstädte. Platz 1 soll irgendein Städtchen in New Jersey sein, aber das kann man sich ja gar nicht vorstellen, hier ist Amerika, direkt neben Chicago. Abends trinken wir eine Flasche Wein mit Michael, in der Küche, ein überaus netter Abend. Und Naperville wird dabei auch immer netter.

 

Dienstag, 14. Juli 2009

Wir treffen uns mit Simon am Field Museum of History, einem klassizistischen Säulen-Tempel direkt am Lake Michigan. Kathy fährt mit dem Fahrrad weiter, den Lakeshore Drive entlang am Seeufer. Zu dritt besuchen wir Sue, den großen Dinosaurier in der Haupthalle des Museums, und sehen uns Dioramen indischer Säugetiere und amerikanischer Büffel an, alles gut gemacht, aber etwas verstaubt und nach Vorkriegszeit riechend. Die kleinen Fotoausstellungen „Vom Yellowstone zum Yukon“ und über indische Festrituale sind herausragend. Alles andere ist groß, bemüht um Besonderheit, aber nicht wirklich bemerkenswert, ich erinnere mich an das Bremer Überseemuseum und das Naturhistorische Museum in Berlin und finde, die sind auf Augenhöhe.

 Wir entscheiden  uns kurzfristig, Simon und Kathi zu einer politischen Versammlung zu begleiten. Es geht um die Bewegung gegen die Todesstrafe. Anlass ist der Stillstand im Fall Troy Davis, der seit 17 Jahren in Georgia in der Todeszelle sitzt. Er wurde aufgrund einer ganzen Reihe von Zeugenaussagen verurteilt, aber bis auf wenige (alle von Polizisten) wurden die anderen mittlerweile zurückgezogen. Alle Anträge auf Wideraufnahme des Verfahrens wurden bis zum Supreme Court, dem höchsten Appellationsgericht der USA, zugelassen – und dort abgelehnt. Wir suchen in der Innenstadt nach der Anschrift, die auf Flyern angegeben ist. Etwas überrascht betreten wir an der angegebenben Stelle ein Hochhaus mit schöner Art-Deco-Innenarchitektur, vornehm und geschmackvoll. Gar nicht szenemäßig. Da stehen ein paar Info-Tische von amnesty international und MADP, den Missourians to Abolish Death Penalty, den Bürgern von Missouri zur Abschaffung der Todesstrafe. Also sind wir wohl richtig. Und plötzlich stehen wir inmitten einer großen Kirche, eine methodistische Kathedrale, in ein Hochhaus hineingebaut (oder um die herum ein Hochghaus gebaut wurde), mit Glasfenstern bis zum Dach und allem, was eine Kathedrale haben muss. Ein Alleinstellungsmerkmal: Der schwarze Reverend in dem schwarzen Talar singt über das Kanzel-Mikro den Blues. Wer jemals daran zweifelte, dass Chicago Hochburg (oder Jammertal?) des Blues war und ist, hier kann er es hören. Ein Weißer spielt eine sparsame E-Gitarre dazu, und der Reverend raspelt die Songs, dass es John Lee Hooker zum Grooven gebracht hätte. Es geht irgendwie um den Süden, die Schwarzen und das harte Leben. Yeah, man!

 

Danach berichten drei Männer und eine Frau von ihren Erfahrungen im Knast. Alle waren zum Tode verurteilt, saßen zum Teil weit über zehn Jahre in der death row, der Reihe von Einzelkäfigen für die Todgeweihten. Dann wurden sie freigesprochen. Wie kam es zu den Fehlurteilen? Da war Korruption im Spiel, Wahlchancen von Richtern und Sheriffs sollten durch law and order verbessert werden, und man brauchte Täter für unaufgeklärte Morde. Jetzt berichten die vier über ihre Angst, ihre Wut und schwarzes Schicksal in den USA: Natürlich, alle vier sind schwarz. Es sind ungeschönte, erschütternde, teilweise überraschend kraftvolle Manifestationen, mit viel Power. Einige Monate nachdem wir wieder in der Heimat sind wird Troy Davis hingerichtet. Nicht alle haben das Glück einer Wiederaufnahme, einer nachträglichen DNA-Identifikation, einer neuen Richter-Generation.

 

 

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Teil 3: Yellowstone Nationalpark, Wyoming

 

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Freitag, 17. Juli 2009

Von Chicago nach Salt Lake City fliegen wir, zunächst über das grüne Illinois mit seinen schnurgerade rechtwinklig verlaufenden Schotterstraßen zwischen riesigen Maisländern. Dann der Missouri und die Great Plains in rot und braun. Unterschiedliche Farbschattierungen, graphisch gestaltet mit riesigen Farm-Maschinen, die ich zwar nicht sehe, aber es kann nur so sein. So gerade verläuft nur eine maschinell gezogene Grün-Grenze. Riesige Kreise sind schraffiert, breite Streifen heller und dunklerer roter Erde, wozu soll das gut sein? Riesige Rechtecke in der Größe Dutzender Fußballfelder sind heller als die Erde drumherum, sieht klasse aus, macht überhaupt keinen erkennbaren Sinn und scheint alles extrem trocken und öde zu sein.

 

Schon in Chicago auf dem O'Hare-Flughafen waren uns die vielen auf den Flug nach Salt Lake City wartenden jungen Männer mit adretter Kurzhaarfrisur (nicht nahezu rasiert, sondern retro-ordentlich) in schwarzem Anzug, mit weißem Hamd und Krawatte aufgefallen. Jeder hatte ein schwarzes Schild mit weißer Namensprägung am Revers. So kannten wir sie schon aus Buchholz: die redseligen Mormonen, missionsfreudig und direkt dem „Reader's Digest“ entsprungen. Nun sind sie auf dem Weg nach Hause ins trockene Utah. Trocken nicht nur im felsigen Gelände, sondern auch im übertragenen Sinn. Im gesamten riesigen Walmart-Supermarkt finden wir nicht eine einzige Flasche Wein, nur Bier erlauben uns die Mormonen. Aus Rache nehmen wir das mexikanische Corona.

 

Sonntag, 19. Juli 2009

Nach dem Ruhetag am Bear Lake, wo die Ortschaft mit dem irreführenden Namen „Garden City“ mit einem typischen Auto-Strand lockte (parking auf dem Sandstrand, ein Pickup neben dem nächsten, ist das Größte!) geht es weiter zum Grand Teton Nationalpark. Der Snake River hat ein schönes Tal in die Felsen gekerbt, zur Kajak-Einsetzstrelle muss man schön kraxeln, und es gibt auch einige leichte Stromschnellen – aber ein Rafting-Schlauchboot nach dem anderen, das ist doch etwas übertrieben. Sieht eher nach Seniorenausflug aus.

 

Wir baden im Jackson-Lake, und auf dem Coulter-Campground erwischen wir abends gerade noch den vorletzten Stellplatz für unser RV (recreational vehicle = Wohnmobil). Ein leichtes Unwohlsein ergreift uns: War es tatsächlich so schlau, keine Reservierung vorzunehmen? Ist hier etwa alles voll?

 

Montag, 20. Juli 2009

Endlich im Yellowstone, und wir haben nach vergeblichen Anläufen auf überfüllten Campgrounds in Fishing Bridge noch einen Platz für vier Tage bekommen (im Führer: „teuer & unattraktiv“), Vier Nächte Strom und Wasser, das ist es, was zählt...

 

Am Nachmittag erkunden wir die Umgebung. Der trail in Richtung Yellowstone Grand Canyon (15 miles, wir gehen aber nur so zwei Kilometer weit) führt uns vorsichtig an Floras und Fauna heran. Fauna: ein etwas verunsicherter, wohl noch sehr junger Biber, etliche Eichhörnchen und zwei Hirschkühe. Also eigentlich tierisch wenig. Von Landschaft und Atmosphäre her ist es ein Traumpfad. Grüne Wiesen inmitten lichter Wälder, wunderwarmes Abendsonnenlicht, wir sind da.

 

Dienstag, 21. Juli 2009

Old Faithfull, der berühmte Riesen-Geysir, tut seine Pflicht. Keiner hätte was Anderes erwartet. Aber er tut sie knapp fünf Minuten, nachdem wir uns durch die Kassenschlangen durchgearbeitet haben, und das ist nun mal wirklich nett. Sehr zuverlässig, Mister Gewissenhaft!

 

Es sitzen so an die tausend Menschen in drei Bankreihen im Halbkreis um Old Faithfull herum, und er spuilt ungefähr vier Minuten lang sein Programm ab (die Fontäne auf der Binnenalster, ähnliches Format, tut's den ganzen Tag über...). Dann macht er wieder ein paar Stunden Pause. Von der Geysir-Gewerkschaft kann sich die IGBCE (Bergbau, Chemie, Energie) noch einiges abgucken.

 

Wir verlassen schnell den Hauptweg und entfernen uns so von den ca. neunhundertfünfzig anderen Touristen, die nach Beendigung der Treue-Show die Hauptstraße durch das Geysirfeld nehmen. Am Solitary Pool sind wir ganz für uns und lassen uns alle fünf Minuten erschreckenvon dem plötzlichen Aufblubbern: Wie der Bund der Gefährten am Tor zu den Höhlen von Moria (Herr der Ringe, Erster Band) erwarten wir dfen Angriff eines aus alten Vorzeiten stammenden Wesens, aber es gibt nur Schwefeldampf und dann ist wieder Ruhe.

 

Der Rest des Weges steht dann doch in jedem Reiseführer. Sieht aber tatsächlich gut aus. Der abschließende Kaffee wird im Old Faithfull Inn genommen, wirklich ein imposantes, knorriges Holz-Hochhaus. Die großen Fenster in der Haupthalle wie auch das über drei Stockwerksgalerien nach oben reichende Foyer erinnern an die Thronhalle von Rohan (Herr der Ringe, Zweiter Band): ganz aus Holzstämmen, Balken und Brettern erbaut, mit dem Flair einer alten Ritterburg oder Kurpfalz. Auf der Terasse warten die Leute auf den nächsten Auftritt von Old Faithfull, eine ältere Lady erzählt uns von ihrem Jahr in Bad Kissingen, vor langer Zeit, ihr Mann war bei der Army. Morning Glory (heißt hier auch ein Pool). In Bad Kissingen heißt das Schönbornsprudel.

 

Mittwoch, 22. Juli 2009

Auf dem Weg zum Grand Canyon des Yellowstone River werden wir mehrfach ausgebremst und aufgehalten. Grund immer derselbe: Bisons. Als erstes taucht ein einzelner Bison am Horizont auf, und was man hat das hat man, es kommt also zu einem heftigen Fotografier-Anfall. Ganz unnötig, wie sich erweisen wird. Ein weiterer Bison räkelt sich auf dem Parkplatz am Mud Vulcano. Dann sehen wir hinten im Hayden Valley eine ganze Herde schwarzer Punkte, ein Dutzend Bisons, wir sind schon ganz stolz auf unsere Bison-Begegnungen. Aber dann geht es gar nicht mehr weiter. Die Straße ist blockiert: Eine ganze Herde Bisons überquert die Fahrbahn. Wir sind das dritte Auto in der Schlange, wenige Meter vor uns ziehen sie von links nach rechts. Kleine Jährlinge lernen über die Straße zu gehen, sie kriegen einen kleinen Stups mit der riesigen Bisonmutterschnauze und schon wackeln sie über den Asphalt. Die alten, verwitterten, weisen Tiere sichern den Treck (das sieht zumindest ganz so aus): ein Stück vor und hinter der Herde grasen sie ganz seelenruhig, völlig beiläufig, nur manchmal schweift eines dieser dunklen Bison-Augenpaare über die weite, hügelige Ebene oder starrt einen ganz unverwandt an, wenn man näher herangeht. Wenn sie erkennen, dass der Weg des kleinen Menschen in respektvollem Abstand an ihnen vorbei führen wird, grasen sie sofort ruhig weiter. Die Silhouette eines Büffelbullen sieht aus, als sei sie gestaltet von einem etwas an Klischees haftenden Macho-Designer, dem ein zu hoher Testosteron-Spiegel zu schaffen macht: Der riesige Kopf sieht mit dem Fellsack am Hals aus, als wenn der Bulle zu den Texas-Hardrockern von „ZZ-Top“ gehört. Dann kommt der riesige Oberkörper mit dem dichten Fell, der mächtige Brustkorb über den fellbepuschelten Vorderläufen wirkt wie aufgepumpt. Die Hüften und der Hintern dann schlank, geradezu zierlich, ohne die langen Fellzotteln, sozusagen Kurzhaarschnitt. Auch die Hinterläufe wirken nahezu nackt, rasiert wie die Beine eines Schönheitstänzers. Nur der Schwanz hat wieder eine Fellquaste. Bison sein ist rein optisch nicht einfach, von den Bewegungsmustern wirkt es eher beschaulich: grasen, wiederkäuen, im Staub wälzern, die Schwanzquaste leicht von links nach rechts schwingen lassen. Ansonsten einfach wirken lassen, den Oberkörper mit dem Kopf vor allem, das reicht. Besonders gut kommt es, wenn zur Information der anderen Wesen drumherum (Koyoten, Menschen oder andere Quälgeister) immer wieder ein tieffrequentes Brummen ertönt, ganz unten aus dem Brustkorb, so ein Klang wie ein entferntes Fluggeschwader mit respektheischender Bombenlast, nur so angedeutet.

 

Nach der Wanderung im grandiosen Grand Canyon mit seinen beiden Wasserfällen stellen wir unser RV auf einen leeren Parkplatz in der Nähe und kochen uns was zu essen. Der Blick aus dem Wohnmobil schweift über eine Grashügellandschaft, sehr schön. Stühle und Campingtisch stehen schon auf der Wiese bereit, damit wir dort unsere Pasta in der Abendsonne genießen können. Ein Wanderer geht vorbei und ruft uns zu: Ob wir wüssten, dass hinter dem RV ein Bison kommt? Wir konnten die Bisonkuh nicht sehen, aber sie ist nur noch wenige Meter weit weg. Sie beachtet uns eigentlich weniger, aber unsere gespannte Aufmerksamkeit ist dem kaum sechs Meter entfernten Tier sicher. Aus dem Auto heraus – denn kaum haben wir sie gesehen, haben wir uns in das schützende Blech zurückgezogen. Der zugehörige Bulle kommt ein paar Minuten später vorbei, er macht einen etwas größeren Bogen, und so können wir unsere Mahlzeit dann zu uns nehmen, mit dem Teller in der Hand – sich gemütlich hinzusetzen ist im Augenblick nicht so dran...

 

Als wir in der Dunkelheit zum Fishing-Bridge-Campground zurückfahren, ruft Linda mir plötzlich auf der schmalen zweispurigen, hölzernen Brücke über den Fluß (der fishing bridge) zu, dass ich anhalten soll. Ich habe noch gar nichts gesehen, aber sie hat erkannt, dass sich das Scheinwerferlicht in den Augen des Bisons gespiegelt hat, der in aller Seelenruhe auf uns zu kommt. Er hat überhaupt kein Licht an, deshalb habe ich ihn nicht gesehen. Es wäre aber wohl auch nichts passiert, weil er sich an die Straßenverkehrsordnung hält und uns nicht auf unserer Seite entgegenkommt. Genug Bisons für heute, finden wir.

 

Auf unserer Grand-Canyon-Wanderung hatte uns ein Ranger berichtet, wie die Landschaft erdgeschichtlich entstanden ist. Der Yellowstone-Fluss hat sich so V-förmig sein Tal gegraben, weil dieses vulkanische Gestein sehr porös ist und leichter ausgespült werden kann als Granit oder so. Da wäre sonst eher ein U-förmiges Tal entstanden, in härterem Gestein. Vor 640.000 Jahren hat sich unter dem heutigen Kessel eine riesige Gasblase gebildet und ist explodiert, weil sie sich unter Druck immer stärker erhitzt hatte. Damals entstand der Kessel, und ebenfalls bis in diese Zeit geht die spezielle Durchlöcherung der Erdschichten zurück, aus der noch heute Geysire sprudeln, Pools Schwefel ausdünsten und Mudholes blubbern. Und keiner weiß, ob sich so eine Explosion noch mal wiederholt, und wann.

 

Am nächsten Tag besuchen wir so eine Schlammloch-Gegend, den Mud Volcano. Als wir auf dem Holzsteg den Rundweg mitten durch die stinkenden Pfützen fast hinter uns gebracht haben, stockt der Fußgänger-Verkehr auf dem boardwalk: Direkt neben dem Weg steht ein Bison, still und unbeweglich, scheint sich da ausgesprochen wohlzufühlen und einen Ortswechsel in ab sehbarer Zeit nicht für wünschenswert zu halten. Wir warten, aber er rührt sich nicht. Die warme Luft, die da aus der Erde kommt, behagt ihm offensichtlich. Wir geben schließlich nach und treten auf dem Holzsteg den Rückzug an. Bisons gehen vor. So verbindet sich hier die vulkanische Vergangenheit mit der animalischen Gegenwart zum integrierten Yellowstone-Erlebnis.

 

 Donnerstag, 23. Juli 2009

 Um zehn Uhr treffen wir uns mit Brad, dem Ranger. Eine Gruppe mit ungefähr zwölf Teilnehmern wird von ihm den Storm Point-Wanderweg entlang geführt. Brad mit seiner schmucken Ranger-Uniform ist ein naturbegeisterter Lehrer aus Colorado, der seit vielen Jahren seinen Urlaub als Ranger im Yellowstone Nationalpark verbringt. Er ist nicht etwa Biologie-Lehrer, wie wir vermuten, sondern ganz am Ende gesteht er, dass er Geschichte unterrichtet. Also eine Abwechslung, auch für ihn. Er führt uns an der einen von den drei Bison-Herden des Nationalparks vorbei, die hier am Indian Pond wohnt (die anderen beiden sind im Lamar Valley und, wie schon gesehen, im Hayden Valley). Der Teich hier ist vulkanisch entstanden und warm genug, dass er auch im Winter nicht zufriert. Daher können die Bisons hier bleiben: immer Trinkwasser, keine meterdicken Eisschichten im Winter wie auf den „normalen“ Gewässern des Nationalparks.

 

Ein Stück weiter kommen wir an der Siedlung gelbbäuchiger Murmeltiere (yellow bellied marmottes) vorbei, die durch die Gegend rollen, als wenn wir gar nicht da wären. Wer in den Alpen mal Murmeltiere beobachtet hat, weiß wie flink die in ihren Erdhöhlen verschwinden, wenn man am Horizont auftaucht. Nicht so hier, wo Brad jeden Morgen mit einer Gruppe von bis zu fünfzig Personen vorbei kommt. Murmeltiere, die das aushalten, werden irgendwie anders... ein lebendiger Dorfplatz, auf dem sie herumwuseln und ihren eiligen Geschäften nachgehen, putzig.

 

Als die Gruppe am Storm Point, einer Felsennase über dem See, pausiert, mache ich mich auf einen kleinen (möglicherweise so nicht recht erlaubten) Abstecher zu den Felsen unten am Ufer. Ein buntes Muster fasziniert mich, das aussieht wie eine uralte Indianer-Malerei. Es sind aber bunte Gesteinsschichten, die hier vom Wind wieder freigeschliffen worden sind und eine land art im ganz ursprünglichen Sinne hervorgebracht haben.Ein Bärengesicht blickt mich an, anderes ist eher abstrakt.

 

Wir lernen den feuchten Wald kennen und den trockenen, können bald spruce (Fichte) und fir (Tanne) an den Nadeln unterscheiden (square, sharp – spruce / flat, flexible – fir). Die Losung auf dem Weg hält er für die Hinterlassenschaft eines Koyoten. Und Waldbrände müssen sein, erklärt Brad, sonst könnte der Wald nicht überleben. Er spricht ein breites Colorado-Amerikanisch, das wir gut verstehen können. Alle mögen Brad, wir auch. Selten haben wir einen so kurzweiligen 2 1/2-Stunden-Spaziergang erlebt. Am Ende muss uns Brad einen Umweg über eine bunte Blumenwiese führen, weil die Bisons uns den Weg versperren. Auch diese Hürde meistert Brad souverän und ist unseres Danks gewiss.

 

Freitag, 24. Juli 2009

Wir verabschieden uns von Fishing Bridge, passieren noch einmal den Grand Canyon und laden in Canyon Village schnell noch zwei Vier-Gallonen-Kanister Wasser ein. In Tower Falls, wo wir den Nationalpark schon fast verlassen haben, steht eine Menschenmenge an der Kante, neben dem Parkplatz, wo der Abhang beginnt: „Bear! Bear!“ heißt es, aber wir müssen erst noch einen Parkplatz für unseren RV finden, und als das gelungen ist, ist er schon verschgwunden, hundert Meter unten im Tal, wo das Gebüsch einen Bach säumt und dann in lichten Wald übergeht. Wir wandern Richtung Auto, und da taucht er wieder auf, ein Stückchen weiter bachaufwärts, genau unter unserem Standort. Es ist ein ausgewachsener Braunbär, er schubbert seinen Rücken an einem Baum und haut mit seiner Pranke einen anderen morschen Baumstamm einfach um – auf der Suche nach Insekten oder einfach nur aus Show? Jedenfalls rockert er ein bisschen rum und trollt sich dann. Der Parkplatz leert sich.

 

Ganz für uns haben wir dann den Adlerhorst, den wir zufällig entdecken, als wir uns interessante Felsformationen ansehen wollen, die über der Straße abbrechen und aussehen wie gebildhauert. Über dem tief eingeschnittenen Tal erheben sich ein paar Felsspitzen, und auf einer haben die Adler ihren Horst gebaut. Zwei junge Tiere sitzen in dem Riesennest, mehrere hundert Fuß über über dem Yellowstone River. Einer wagt es und fliegt den Eltern nach, der andere traut sich nicht und bleibt sitzen, wedelt nur pro forma mit den Flügeln. Man kann ihm die Zurückhaltung nicht verdenken, es ist verdammt steil und geht tief runter ins Flusstal. Da einfach rauszuspringen und darauf zu vertrauen, dass das schon klappen wird mit dem Fliegen, das wäre auch nichts für mich.

 

Weiter geht’s durch den Shoshone National Forest, durch Cooke City (ein paar abgeschrabbelte Cowboy-Bars, und schon ist man durch), dann den beeindruckenden Chief-Joseph-Scenic Byway entlang ins Grasland von Wyoming. Open range da, wo die Herden frei laufen dürfen, und Zäune ohne Ende rund um Cody.

 

 

Mittwoch, 29. Juli 2009

Vor der Abfahrt aus Cody besuchen wir morgens noch schnell (mehr aus Pflichtgefühl) das Buffalo-Bill-Centre of History. Es erweist sich als sehenswertes, respektvoll gestaltetes Museum mit einer interessanten Abteilung über die Indianer der Ebenen (Schoschonen, Apsarokas und andere). Angegliedert ist das Whitney Museum of Western Art. Die photorealistischen Gemälde, die James Bama von First-Nations-Kriegern unserer Tage wie auch von Rodeo-Reitern und anderen Westernhelden gemalt hat, sind echt gut. Die romantisierenden und zum Teil heroisierenden Schinken aus früheren Zeiten sind allerdings nicht gut zu ertragen, allenfalls historisches Interesse hilft. Eine Computersoftware, mit der man sein eigenes Gemälde aus Bausteinen (Bisons, Westernreiter, Berge usw.) kreieren kann und es sich dann per mail nach Hause schicken (!) beeindruckt. Gute Idee...

 

Wir fuhren dann weiter nach Thermopolis, zu den Hot Springs des Wind River. Auch beim Campground „Fountain of Youth“ gibt es warme Quellen, drei nebeneinander liegende Pools haben jeweils unterschiedliche Temperaturen, aber alle nahe an Badewannenqualität. Aus den Boxen am Rand tönen morgens Deuter-ähnliche Synthesizer- Wolken, den Tag über dann Westernmusik von Johnny Cash bis Kenny Rogers. Abends steht dann der Campingplatz-Boss selbst auf der handgezimmerten Bühne, er hat sich eine wirklich gute Gesangsanlage gegönnt und spielt eine blitzsaubere Western-Gitarre. Die Gäste stehen bis zum Hals im warmen Pool, eine Dose Miller Lite auf dem Beckenrand, ein paar beeindruckende Biker dabei mit langer Mähne und ihren Ladies, die anderen sind mit Pickups gekommen, mit denen sie ihre Aufliegerwohnwagen von Ort zu Ort ziehen. Um zehn Uhr ist Ruhe. Am nächsten Morgen gibt es Gottesdienst, und der Campingplatzboss schlüft in eine neue Rolle als Prediger. Auf dem Tafelberg von Thermopolis kann man prima rumkraxeln, und eine Büffelherde haben sie auch im Hot Springs State Park.

 

Dann trauen wir uns auf einen Campingplatz ohne Strom und Wasser, der Popo Agie River sprudelt vorbei, einen beruhigenden Klangteppich unter den Tag legend. Ein Stück weiter verschwindet der Fluss für einen Kilometer in den sinks, um dann wieder aufzutauchen. Eine unheimliche Höhle, in der er verschwindet... Eine Wanderstunde weiter treffen wir auf die Popo Agie Falls, einen kleinen, aber wunderschönen Wasserfall, und wir haben ihn ganz für uns. Die Bergwiesen mit den Salbeibäumchen, dem Indian Paintbrush, den Sego Lilys fasznieren uns, schachtelhalmähnliche Pflanzen und welche wie Schafgarbe und Löwenzahn, mit roten, violetten, gelben und gemischtfarbigen Blüten. So grün und widerstandsfähig zugleich und so farbenfroh, das macht auch an einem trüben Tag gute Laune (wenigstens einigen von uns).

 

Auf dem Campground gibt es außer uns noch einen genremäßig irgendwie undefinierbaren Hook-Up-Anhänger mit einem Dutzend Campingstühlen, wir kriegen nicht raus, ob da jemand wohnt oder es Straßenarbeiter von der Großbaustelle zwei Kilometer weiter sind. Ich bin ganz froh, dass außerdem noch ein weiterer Platz mit einem kleinen Zelt belegt ist, Eltern mit ihren beiden Kindern. Allein am Wildbach im rauen Wyoming, wo die Verkehrsschilder sämtlich Einschusslöcher aufweisen (wo soll man den sonst üben?), das wäre mir der Wildnis etwas zu viel.

 

Auf dem Weg (im weitesten Sinn schon zurück) nach Utah waren wir in Richtung eines kleinen Sees, Brown Lake, den Sheep Loop entlang. In einem idyllischen Tal am Anfang der Schlucht hat sich der Pinkerton-Agent (ein Detektivbüro, bei dem auch mein Krimi-Autoren-Idol Dashiel Hammett gearbeitet hatte), Rinderdiebjäger und Farmer Cleophaas Dowd eine kleine grüne Insel geschaffen, mit seiner Frau und ihren sieben Kindern. Ich ahne, wie das Tal jedes Frühjahr vom Schmelzwasser des Sheep Creek überschwemmt wurde, wie alles im Winter unter einer tiefen Schneedecke erstarrte, und im Sommer kamen die Viehdiebe. Ein hartes Leben. Er bildete seine Cowboys gut aus, einer hatte wirklich viel gelernt dort, und erwarb sich später zweifelhaften Ruf als der „Sundance Kid“. Ein anderer von Dowds Leuten erschoss die Western-Legende Jesse James. Das Gelände steht zum Verkauf...

 

Dann weiter zum Brown Lake, einem aufgestauten See auf einer Hochebene, die Berge drumherum ragen hoch auf, aber nicht steil, eher sanft ansteigend bis zur Baumgrenze, und höher blitzt noch hier und da ein Schneefeld. Überall brummen die ATVs (All Terrain Vehicles, auch bekannt als Quads, ansonsten ist es ungemein ruhig, kaum Stellplätze belegt (nur so vier, fünf in Sichtweite), Wasser gibt es im Bach oder im See. Abends werden wir eingeladen zu „s'mores“, über dem Lagerfeuer erwärmte Marshmellows zwischen Schokokeksen, eine leckere Schweinerei und ein Gegengewicht gegen allzu gesunde und vegane Lebensweise, an die wir uns ansonsten zu gewöhnen beginnen. Der Spaziergang am nächsten Tag führt zwar nicht um den ganzen See herum, wie geplant, wir werden abgedrängt durch eine Wasserlandschaft, die eine kleine Sehenswürdigkeit birgt: eine Biberburg wie im Bilderbuch, mit langem Staudamm, der einen kleinen Extra-See aufstaut, Holzgerüst mit Schlamm verklebt, eiune Riesenarbeit. Zum Glück stören wir niemanden, nur ein paar Murmeltiere, die sind allgegenwärtig.

 

 

Freitag, 31. Juli 2009

Zurück in Salt Lake City spannen wir noch einmal den Bogen zwischen den Polen: dem Temple Square, wo Dutzende von jungen Frauen in langen Röcken offensiv jeden ansprechen und missionieren und wo die romantisierend-kitschig-reaktionären Familienszenen in den Ausstellungshallen uns die Stimmung verderben – und auf der anderen Seite dem kleinen Volksküchen-Restaurant abseits der Mormonen-City, wo vegan gekocht wird und jeder das bezahlt, was er kann und für angemessen hält. Da haben wir uns wohl gefühlt.

 

Und dann sind wir wieder nach Hause geflogen.