Übersicht

 

Auf Reisen begegnet man ganz persönlich der ganzen Welt - ein Spannungsfeld zwischen eigener Person und allen anderen. Reiseberichte sind irgendwie immer persönlich, nur so kann ich die Welt in einigen Einzelheiten erkennen und diese zusammenzusetzen versuchen. 

 


Masala-Land
Reise nach Delhi, Agra und Rajasthan 2010

Freitag, 19. März 2010 - Hinflug
Abflug im trüben Hamburg, der Flug vergeht wie in einem solchen, also im Fluge, denn Zeichentrickfilme wie „WallE“ und „Ice Age 3“ oder der Streifen „Up In The Air“ mit George Clooney (mehr braucht man von dem Film nicht zu wissen als „mit George Clooney“) lassen kaum Zeit zum Dösen. In Dubai kommen wir um Mitternacht an, die Stadt ist hell erleuchtet, wüstengelbe Laternen überall, nur die Hochhäuser stehen schwarz und stumm ohne jede Neonerleuchtung mittendrin. Der Flughafen ist groß und pompös, nicht unbedingt schön, aber edel, so soll er wohl vor allem aussehen, daher ist Edelstahl das meistverwendete Material, überall Säulen in matten und glänzenden Streifen aus diesem edlen Stahl. Die Fenster reichen über mehrere Stockwerke in der hier in Dubai so beliebten Form von Segeln, das berühmte Hotel Burj Al Arab dürfte das seit zehn Jahren bekannteste Beispiel sein. Im International Airport herrscht trotz der nächtlichen Stunde ein überaus reges Treiben: besonders im etwas älteren Teil mit seinen nachgemachten Riesenpalmen und der geschmacklosen güldenen Schmuck-Deko oben an den Säulen, die wie missglückter Weihnachtsschmuck aussieht, sitzen größere Gruppen fremdartig gekleideter Menschen auf dem Teppichfußboden und wartet auf den Flieger nach Djakarta, nach Khartoum oder Jeddah. Besonders die Indonesier suchen die Nähe ihrer Landsleute, sitzen dichtgedrängt, viele liegen mitten in dem Knäuel und schlafen, es wirkt wie die Heimfahrt einer Gruppe vom Bauarbeitern, Putzfrauen und Kindermädchen nach getaner vielmonatiger Arbeit im fremden Land, nach Hause! Menschen aus Schwarzafrika, aus arabischen Ländern, aus Ostasien und ein paar Langnasen dazwischen tragen Burkas, Saris, Burnusse, Kaftane, Tschadors, Dotis, mit Turban oder Fez, Schleier oder Baseballkappe, oder mit Jeans und T-Shirts auf verschiedenfarbiger Haut. Der Raucherraum ist heftig vernebelt, die Wände changieren in ocker und gelblich, zwanzig Raucher auf drei mal vier Metern, das ist abschreckend – aber nicht abschreckend genug. Die vier Stunden bis zum Weiterflug werden nicht lang, auch wenn man den Raucherraum nur solange benutzt, wie eine Zigarette nun einmal dauern muss.
Drei Stunden später, nach einem dunkelrot brennenden Himmelsrand kurz vor Sonnenaufgang, kommen wir in Delhi an. Anderthalb Stunden haben Simon und Hari Singh, der Chef des örtlich verantwortlichen Reisebüros, warten müssen – also eine völlig normale Spanne. Der Flughafen in Delhi ist irgendwie funktional und abgeschrabbelt-benutzt, und bis das Gepäck da ist, dauert es einfach etwas länger. Die Fahrt zum Hotel bietet erste Eindrücke vom Verkehr in Delhi mit ihrer ganz eigenen Hup-Sprache, die kein Wörterbuch kennt und doch jeder versteht, nur eben jeder auf seine ganz eigene Weise. Das bunte Straßenleben, die Saris in ihren kräftigen bis schrillen Farben, Salwar Kameez – Hosenkleider in elegantem Schnitt und nicht so bauchfrei wie ein Sari, India Gate und die großen Verkehrskreisel des Regierungsviertels, die noch auf den alten Herrn Lutyens zurückgehen, britischen Stadtplaner und Architekten in Neu-Delhi am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Dann kommen wir am Hans Plaza an, das nur zufällig so heißt wie mein Vater mit Vornamen. Tatsächlich bedeutet „hans“ auf Hindi „Schwan“, also „Zum Schwanen“, das ist doch auch wieder ganz heimelig… Das recht noble Hotel bietet Marmorfußboden allenthalben und kalten Wind aus der Klimaanlage, im Zimmer gibt es Stoffpantoffeln für die kalten Füße, während draußen 37 Grad sind, und es gibt einen tollen Blick aus dem siebzehnten Stockwerk über Delhi und den Connaught Place, das Zentrum der Stadt, über ein Häusermeer und hier und da eine kleine Kuppel über einem Tempel oder eines der nicht so sehr zahlreichen Hochhäuser, und viele, viele Bäume. Delhi gilt als grüne Stadt, und manches fängt gerade an zu grünen, es ist schließlich Frühling. Das Hotel hat aber auch den etwas kühlen oder abgestandenen Charme einer stellenweise karg möblierten Wohlstandskulisse. Das Restaurant bietet neben dem Versuch von Stil und einem Hauch von Design auch etwas von der Wartesaalatmosphäre, die ich aus anderen, gerade aufstrebenden Ländern kenne, wo sich noch der leise Zweifel hinten im Herzen regt, wozu denn dieses ganze Design-Getue gut sein soll, wenn es doch nur um Essen und Sitzen geht und sowieso alles immer so schnell zustaubt. Die Wärmehauben für die warmen Buffet-Speisen könnten auch im Hotel Sellhorn oder in der Heiderose stehen.

Sonnabend, 20. März 2010: Gautam Nagar
Simon besorgt eine Auto-Rikscha (der nette Name Tuktuk scheint etwas antiquiert, obwohl er lautmalerisch zu passen scheint, allerdings sind heute alle Tuktuks mit Autogasantrieb ausgerüstet, der Umwelt zuliebe). Wir fahren damit nach Gautam Nagar, wo Simon lebt und arbeitet. Er handelt den Fahrer auf 70 Rs runter, das ist etwas mehr als ein Euro, und wir sausen zwanzig Minuten durch den Verkehr, es wird wenig auf das Angebot markierter Fahrspuren geachtet, die Huptöne sind immer besser zu verstehen – „jaja, ich hab dich gesehen!“, „hau ab, du Trödelheini, hinduistischer!“, „scher dich nach links, hier kommt ein Sikh!“ und was sich sonst so alles für Bedeutungen in einem kleinen dreitönigen Signal verbergen können. Solange der Abstand zum nächsten Fahrzeug fünf Zentimeter nicht unterschreitet, wird hier noch lange keiner nervös. 60.000 Tuktuks gibt es in Delhi, alle dreirädrig, gelb und grün lackiert, viele unter dem Lack massiv rostig, und alle gebaut von Piaggio aus Italien, die nicht nur mediterrane Motorroller fertigen, sondern in einem indischen Werk auch diese kleinen rollenden Handkoffer. Bei einigen von ihnen soll es tatsächlich ein „meter“ geben, einen Taxameter, der auch läuft. Meistens wird der Preis aber vorher ausgehandelt, und Touristen sind willkommene Opfer verhandlungserfahrener Chauffeure.
Gautam Nagar ist ein Bilderbuchviertel, wenn man sich ein Bilderbuch vorstellen kann, in dem es nur kantige Stahlbetonbauten mit drei, vier Stockwerken gibt und die Gässchen dazwischen sind staubig und vermüllt und darüber hängt ein beängstigendes Gewirr von Elektroleitungen, die Hälfte sicher seit langem nicht mehr in Betrieb, aber wer kann das schon auseinanderhalten? Jedenfalls ist es ein Kabelchaos wie hinter meinem Computertisch, nur älter und brüchiger. Magere Hunde, fliegende Händler, schwarzgeräucherte Garküchen in Häusernischen, Baustellen und Schutthaufen überall, die Gullis wurden vor ein paar Tagen gereinigt und der Modderhaufen, der rausgeholt wurde, liegt nun erstmal neben dem Gulli mitten auf der Straße, das stinkt doch eher penetrant. Auf einem eingezäunten, wüstenähnlichen Spielplatz stauben ein paar Kricket-Schüler mächtig herum. Wir essen Samosas, gemüsegefüllte und fettgebackene Teigtaschen, pikant gewürzt, 15 Rs (20 Cent) das Stück. Die Küche sieht irgendwie mittelalterlich aus. Das Grundstück daneben, ein paar Fußballfelder groß, halten wir irrtümlich für eine gemeindenahe Müllhalde, aber so sieht einfach ein herrenloses Grundstück aus, um das sich keiner kümmert, und das der Plastiktütenflut ungeschützt ausgesetzt ist. Altpapier wird gesammelt, gebündelt und nach Gewicht verkauft, Bauschutt wird von organischen Abfällen getrennt und weitergeleitet von dezentralen Sortierstellen, aber Plastiktüten sind allgegenwärtig und nachhaltig nutzlos, und sie vergehen nicht. Also fliegen sie durch die Gegend, leicht und windgängig, und gehen im Windschatten der Bebauung nieder, Plastikberge, die man einfach nicht mehr sieht, nicht wahrnimmt, nicht beachtet, dann wird es schon nicht so schlimm. Im Kanal nebenan grunzt eine Herde Schweine, anthrazitgrau, riesig und mit kleinen Ferkeln, süß... Ein totes Schwein liegt im §Wasser und gammelt vor sich hin. Heute stinkt es hier nicht so stark wie sonst manchmal, sagt Simon.

 

Der Erwerb einer indischen SIM-Karte für Gerlindes Handy zieht sich hin, es fehlen die erforderlichen Fotokopien von Reisepass und Visum, man braucht ein Passfoto, dafür ist sie aber spottbillig, kosten nur 200 Rs, also wenig mehr als drei Euro. Ein Stück weiter hinter den klapprigen Obst- und Gemüseständen, dem Tattoo-Shop und den winzigen Lädchen mit Kartoffelchips, Wasser in Flaschen und verschiedenen Konservendosen, verkauft ein Sikh Kebab und fertigt Fotokopien an, so dass nach knapp einer Stunde die SIM-Karte erworben ist. Sie Funktioniert aber auch am nächsten tag noch nicht, obwohl der junge Spund im örtlichen Vodafone-Kiosk das hoch und heilig versprochen hatte, und später erfahren wir, dass er uns eine falsche SIM-Card aus einem anderen Bundesstaat angedreht hat, die läuft in Delhi nicht. Missverständnis oder Betrug? Wer weiß das schon? Und passt ein so hässliches Wort wie „Betrug“ überhaupt bei einem Betrag von drei Euro?
Simons Wohnung beziehungsweise die seiner Sechser-WG ist gut ausgestattet. Herd und Kühlschrank, eine Durchreiche von der Küche zum Wohn- und Esszimmer, ein großer Plastik-Tisch mit sechs Stühlen (dasselbe Modell wie im deutschen Durchschnitts-Baumarkt), dazu ein Matratzenlager wie in unserem WG-Fernsehzimmer damals in Hamburg im Mittelweg, bestimmte Dinge bleiben, vererben sich transgenerational und immateriell. An der Wand ein esoterischer Wochen-Spruch und eine große Indien-Karte, gestrichen ist die Wand weinrot mit orangenen Sprengseln, total schick. Der Kontakt zu den Nachbarn geht unmittelbar, und zwar durch den Lichthof, um den die Wohnung herumgebaut ist, die WG ist zwar mit lichtdurchlässigen Press-Plasten davon abgeschottet, aber zur Luftgewinnung stehen die beiden Fensterklappen darin immer auf und man hört das Fernsehprogramm vom Stockwerd drunter prima mit. Draußen bimmeln der Obstverkäufer mit seinem Schiebekarren und der Eismann mit seiner Fahrrad-Lasten-Rikscha, auf der er den Eiskasten transportiert. Kinder kreischen, Mopeds hupen in den schmalen Gassen, indisches Leben. Jetzt weiß ich endlich, was ich da immer durch das Handy gehört habe, wenn wir telefoniert haben zwischen Buchholz und Gautam Nagar: er saß nicht mitten auf einer großen Kreuzung, sondern einfach auf seinem Balkon, und der wirkt eigentlich idyllisch.

Sonntag, 21. März 2010: Delhi, der Überblick
Erste „private“ Stadtrundfahrt mit Auto, Fahrer und Guide Bicky. Wir beginnen mit dem Humayun-Mausoleum. Die Ruhe des Parks um das Grabmal des zweiten Mogul-Herrschers, der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts regierte, wird durch die kleine Heerschar von Touristen aus Indien, Europa und Japan nur unwesentlich gestört. Wir sollten uns allerdings sputen, weil in einer Viertelstunde der Park gesperrt wird, der Ministerpräsident komme mit einem Staatsgast. Davon bekommen wir allerdings nichts mit, es handelt sich wohl um eine indische Viertelstunde… Aus Bicky, unserem Führer, werden wir nicht wirklich schlau: er spricht für seine 21 Jahre ein erstaunlich gutes Deutsch, habe drei Jahre an der Nehru-Universität studiert, aber er war noch nicht in dem von ihm verehrten Land der Dichter und Denker, „Hermann Hesse“ erwähnt er, „Goethe, Martin Luther King…“. Und er ist stolz auf seine 1,5 Milliarden Landsleute (seine Zahlenangabe) in diesem unübersichtlichen Subkontinent. Allerdings hält er nicht viel von den für ihn so konservativen Moslems, von den Sikhs spricht er in distanziertem Respekt, auch wenn die nicht Gott verehren und an das Paradies glauben, sondern einem von ihren vierzehn Gurus nachfolgen.
Und Bicky kriegt das hin mit der SIM-Card. Ich misstraue seinen vielen Versprechungen und Versicherungen ein wenig, so hätte er als guide eigentlich wissen sollen, dass der Lotus-Tempel (der große, moderne Baha’i-Tempel, den wir als zweites besuchen wollen) bis Ende März sonntags geschlossen ist und wir vergeblich vor dem Tor stehen. Der Pilgerweg der Hindus, die auf der Straße vor dem Baha’i-Tempel zu ihrem eigenen Heiligtum schlendern, wird nur nebenbei erklärt, hätte uns mehr interessiert, die bunten Sonntagskleider auf staubiger Straße interessieren uns und auch ihr Ziel, aber schon sind wir weg. Das Qutb Minar, höchstes Minarett Delhis und möglicherweise sogar ganz Indiens, geht auf erste Baustufen im zwölften Jahrhundert zurück. Drumherum stehen Reste der ersten Moschee und hinduistischer Tempel, jeweils mit charakteristischen Wand- und Säulenmustern, und bei den hinduistischen Tierbildern haben die Moslems alle Köpfe entfernen lassen, man mache sich kein Bildnis von Lebewesen! Atmosphärisch ähnelt das Gelände dem allerdings deutlich älteren Forum Romanum, überall Trümmer und Gebäudereste, vieles zerstört durch ein Erdbeben „im Jahr 1789, dem Jahr der französischen Revolution“, wie Bicky global einordnet. Bicky kriegt das mit der SIM-Card hin, in einem kleinen Laden an der Aurobindo Marg, einer lebendigen und wohlsituierten Gegend nahe dem Edel-Stadtteil Hauz Kaas, aber auch hier werden Fahrräder auf dem Bürgersteig repariert mit einer altertümlichen Speichenmontiermaschine, das Baugerüst wird aus Bambusstangen zusammengepfriemelt, und der Verkehr ist auch am Sonntagnachmittag erheblich.
Abends machen wir einen Spaziergang vom Hotel zum nahegelegenen Connaught Place, einem Kreisverkehr mit mehr als hundert Metern Durchmesser, drum herum mehrere Zirkel runder Gebäudegalerien, und im Innenkreis finden wir eine bunte Mischung aus United Colours Of Benetton, Cerruti und Wellblechhüten samt Lepra-Bettlern. Bei so viel Fremdheit nehmen wir ein kaltes Getränk im vertrauten Ambiente von McDonalds – und erst hinterher denke ich darüber nach, dass die Fanta bei McDo ja halb aus Eis besteht, und Eis wird ja möglicherweise doch aus Leitungswasser gewonnen, und das meiden wir nach Möglichkeit (und wenn wir dran denken), um keine ungewohnten Bakterien ihr verdauungsirritierendes Werk machen zu lassen. Zu spät. Die Nacht wird schüttelfrostig und fiebrig.

Montag, 22. März 2010: Malade
Eigentlich wollten wir heute auf Chauffeur und Auto verzichten, um uns einige Stadtviertel zu erlaufen. Erfahrungsgemäß ist das der beste Weg, Städte zu erfahren: ohne Führer, ohne Fahrer und nicht durch die Windschutzscheibe. Aber das indische Leitungswasser macht uns einen Strich durch die Rechnung, ich habe ja auch mal beim Zähneputzen den Mund mit Leitungswasser ausgespült (fahrlässig!!), und dann der Softdrink gestern bei McDonalds mit dem vielen Eis (verboten!!). Also dösen, im Bett liegen, schwitzen und ab und zu frösteln, der übliche Durchfall. Erst nachmittags um drei wagen wir eine Tour mit Fahrer zu dem gestern geschlossenen Lotustempel. Aber bis auf heiße Fußsohlen (Schuhe aus, und auf dunklen Gehwegplatten in praller Sonne barfuß wandern) bringt das nicht so viel, Tempelsocken erhalten als Konzept eine neue Sinndimension, ab morgen werden wir welche dabei haben. Der moderne, riesige und eher schmucklose Tempel selbst sagt mir nicht viel, aber das kann auch an meiner eingeengten Wahrnehmung liegen (wo ist die nächste Toilette?).

Dienstag, 23. März 2010: Old Delhi
Delhi reicht uns in Tranchen von zwei bis maximal vier Stunden, es überrollt uns sonst massiv. Vormittags besuchen wir die Jama Masjid, die große Freitagsmoschee, und sehen ein bisschen was von Old Delhi mit seinen überfüllten Gässchen. Die Moschee überzeugt durch die mächtige Gesamtanlage, auch der Ausblick von einem der Minarette auf die Altstadt und das Red Fort ist lohnend. Ansonsten ist das Bauwerk eher grobschlächtig-schmucklos, und die Kittel, die den ausländischen Frauen ausnahmslos aufgezwungen werden, dürfen getrost als eine religiös unterlegte Spielart von Fremdenfeindlichkeit angesehen werden – sie lassen jede unförmig wirken, vor allem wenn man wie Gerlinde auch noch einen Rucksack darunter trägt und irgendwie an Quasimodo erinnert, den buckligen Glöckner von Notre Dame…

Danach fährt uns ein sanft aufgezwungener, smarter Rikscha-Radfahrer („das muss man doch auch einmal erlebt haben“ – warum denn bloß?) mit seinem Scorpions-Hemd durch Old Delhi. Er setzt uns ab bei – McDonalds, schon wieder, und verspricht, gleich wieder da zu sein. Wir warten dann nach dem Kaffee zwanzig Minuten vor der Tür auf ihn, vergeblich, und machen uns gerade auf den Rückweg, da ist er wieder da – es habe da einen zweiten Ausgang gegeben, da müssten wir uns wohl verpasst haben (na ja, dieser zweite Ausgang scheint aber doch schon unter dem dritten Mogul-Kaiser zugemauert worden zu sein, wir haben ihn jedenfalls nicht gesehen). Am Jain-Tempel versucht ein Wächter uns 100 Rs Eintritt abzunehmen („but it’s free, Sir“) und verbietet uns (mir scheint zunächst, als Rache) unsere Schuhe statt in die Aufbewahrungsgarderobe mit dem Eulenspiegelschen Schuhe-Chaos in den Rucksack zu stecken. Wen wir das nicht wollen, sollten wir gefälligst einen anderen Eingang benutzen – bei ihm nicht! Erst später stelle ich fest, dass wir auch alles andere deponierern müssen, Rucksäcke und Ledergürtel, weil kein tierisches Produkt in den Tempel reingetragen werden soll. Jainismus hat streng tierschützerische Aspekte, manche essen keine Gemüse, bei deren Ernte Kleinstlebewesen beschädigt werden könnten, also keine Kartoffeln, und manche Mönche fegen den Weg vor sich, um kein Lebewesen zu zertreten. Aber Butter gibt es bei den Jains, also keine vegane Lebensart (wie wir später in Bikaner erfahren), irgendwie inkonsequent, vielleicht eine besondere Art von Pragmatismus. Im tempel geht es auch eher lebensnah zu: Glocken werden dauernd angeschlagen, Kinder dürfen damit spielen, kleinere Zimbeln scheppern, unter den bloßen Fußsohlen piekst der Reis, der allenthalben in kleinen Schälchen rumsteht und auch mal zu Boden geht, Opfergaben wie kleingeschnittene Kokosmuss stehen herum, es wirkt wie eine Mischung aus Wartesaal und Schrein, mit leichten Anwandlungen von heimgefertigtem Vergnügungspark, der Garten ist sympathisch buntlackiert gerändert, ein wenig Schrebergarten-Feeling auf indisch, alles sehr wenig verbiestert.
Ansonsten bietet Old Delhi ähnlich wie neulich der Connaught Place Nahrung für meine Zwei-Indien-Hypothese: Es gibt zwei halbe Indien. Die eine Hälfte ist nie fertig geworden, die andere Hälfte fällt langsam wieder auseinander. Manchmal geht das eine in das andere nahtlos über. Gegenüber unserem Hotel steht ein ca. 15stöckiger Beton-Rohbau, der vor vielleicht zwanzig Jahren hochgezogen wurde, und als der Rohbau fertig war, war das Geld alle. Oder es hatte keine Baugenehmigung vorgelegen oder so. Mittlerweile hat der Bau fast die Patina der Weltkrieg-II-Bunker bei uns zuhause, und man kann ganz schlecht an dem Klotz vorbeisehen. Bei so viel Widersprüchlichkeit braucht man die Ruhe der Tempel und die Verheißung freundlicher Wiedergeburt, um die Realitätseinengung und Ichbezogenheit (maya) zu überwinden, man braucht brahman. Für Hindus stellen die zwei Indien von Unfertigkeit und Verfall keine Bedrohung dar. Mich stört’s. Mein Problem.
Gegen Abend spazieren wir zum Bengali Market, der in keinem unserer Touristenführer auftaucht und den Gerlinde gestern kennen lernte, als sie unseren Fahrer bat, ihr eine Einkaufsmöglichkeit für Bananen und Wasser zu empfehlen. In einem irgendwie friedlichen wirkenden Nebeneinander sehen wir Obst- und Gemüsestände und die ganze Gewürzpalette, ein handbetriebenes Kinderkarussell (ein fast zweieinhalb Meter hohes „Riesenrad“), einen Sikh-Tempel – und die ersten Slums, die wir so nahe erleben. Hütten aus Wellblech, Pappen und Plastikplanen, hier und da ein kleines Feuerchen, viele Menschen überall, und es mag zynisch klingen, aber sie wirken fröhlich. Wir drehen um – hier haben wir nichts zu suchen, und der Fotoapparat wirkt wie ein Herrschaftsinstrument. Eine Schrottplatzatmosphäre wie vor fünfzig Jahren auf dem Pariser Flohmarkt in Clichy, dem „marché aux puces“ – und wie dort Dinge angeboten wurden, von denen man nicht so genau wusste, ob oder was man damit anfangen soll, gibt es hier den Autotürenspezialisten, der auf dem Hüttendach sechs oder sieben Lagen zerbeulte Autotüren lagert, ein paar Dutzend, die alle so aussehen, als wenn sie dort schon fünfzehn Jahre liegen und eigentlich mehr aus Rost bestehen als aus Blech. Staub überall, Sand und Bauschutt – okay. Baustellen allenthalben, aufgerissene Bankette und verwüstete Gehwege – okay. Angezapft aussehende, wirre Elektroinstallationen zwischen den Häusern – okay. Balkone, die seit Jahrzehnten der Entsorgung defekter Haushaltsgeräte dienen – okay. Aber dieser kleine Slum mitten in Delhi, fußläufig eine Viertelstunde von unserem Luxushotel entfernt, damit hatten wir nicht gerechnet. Die Wellblechsiedlung am Connaught Place hatte uns schon irritiert, aber sie diente sozusagen einem „guten Zweck“: die Wanderarbeiter, die an der neuen Metrolinie zum Flughafen arbeiten, müssen ja irgendwo wohnen. Wenn die U-Bahn fertig ist (angeblich noch in diesem Jahr, aber lass es ruhig ein, zwei Jahre länger dauern) sind sie schon wieder weg. Auch dieser Slum könnte, wenn es die Stadtplanung oder eine darin verwickelte korrupte Behörde beschließt, aus „hygienischen Gründen“ über Nacht verschwinden. Die Menschen, die darin leben, aber nicht. Sie werden bleiben, hier oder ein paar Blocks weiter, auf dem Bürgersteig schlafend oder in einer anderen Plastiktütenhütte.

Mittwoch, 24. März 2010: Fahrt nach Agra
Mittwoch ist ein religiöser Feiertag (es gibt sooo viele Götter!), und die Abfahrt nach Agra führt uns durch ein eher ruhiges Delhi, immer entlang der entmutigend unfertig wirkenden, kurz nach Verlasen des Zentrums aufgeständerten Metro-Baustelle. Die Bahn soll bis zum Flughafen gehen, das sind fast zwanzig Kilometer. Über weite Strecken sehe ich nur die mächtigen Betonpfeiler, sie streben zehn, fünfzehn Meter in die Höhe, hier und da verbindet sie dann oben schon der schmale Betonpfad, auf dem einmal die Metro sausen soll. Also – bis zu den Commonwealth-Spielen im Oktober 2010 wird das wohl nix mehr werden, auch wenn schon einige Haltestellen dort oben ihre künftig Dächer tragenden Stahlgerippe in den Himmel recken. Dann wird das Häusergebrösel weniger, Glaspaläste internationaler Firmen stellen sich zu einem gesichtslosen Gewerbegebiet zusammen, und dann kommen wir nach Utta Pradesh (Eingeweihte sprechen nur von „Juu Piie“), dem nächsten Bundesstaat. Erst mal müssen alle die taxes entrichten, in einem wenig offiziell wirkenden Backsteinschuppen. Für Personenbeförderung gibt es eine Extra-Steuer, und es würde mich nicht wundern, wenn sie etwas höher ausfällt, wenn ausländische Gäste transportiert werden, aber das kriege ich nicht mit. Unser Chauffeur regelt das diskret. Der Highway Nr 2 ist gut ausgebaut, eine vierspurige Autobahn, aber in den Dörfern und Städtchen nicht kreuzungsfrei, da verstopfen die kreuzenden Kamelkarren oder die örtlichen heiligen Kühe das Zentrum und der Highway geht mitten durch, wie hieß dieser amerikanische Schinken mit Burt Reynolds? „Auf dem Highway ist die Hölle los“, und Roger Moore war auch dabei, Jackie Chan, Dean Martin… So prominent ist die Besetzung hier nicht, aber spannend ist es auch. Fußgänger und Rikschas, Tuktuks und Fahrräder, Motorroller und ein Toyota-Van, das sind wir. Man fährt defensiv und informiert sich gegenseitig mit Hilfe der Hup-Sprache: weist sich auf langsam fahrende Fahrzeuge hin oder weist ein langsam fahrendes Fahrzeug darauf hin, dass es langsam fährt, was aber der langsam fahrende Fahrer meist selbst schon lange weiß, aber es geht nun mal nicht schneller, man weist darauf hin, dass man keine Zeit zum trödeln hat und, was viel wichtiger ist, auch überhaupt keine Lust dazu, oder man hupt den eindeutigen Ton überschäumender Lebensfreude, es wird also alles gehupt, was eben so mitteilenswert ist. Das nützt nicht viel, aber es gibt eine vertraute akkutische Umwelt bei grundsätzlich eher feindlicher Welt, ist also vergleichbar mit dem Pfeifen im dunklen Keller.
Nach vier Stunden erreichen wir kurz vor Agra in Sikandra das Grabmal des dritten Mogulkaisers Akbar. Er war ein mächtiger Herrscher und ein großer Freigeist, was sich in seinen Versuchen zeigte,. Die Religionen miteinander zu versöhnen und sich in seinen Bauten sowohl muslimischer Ornamente zu bedienen als auch hinduistischer Motive. Auch christliche Kreuze tauchen auf. Akbar wird noch heute von vielen verehrt. „Dies ist der Garten Eden, tritt ein und lebe ewiglich“, dieser Koran-Satz steht über dem Eingang. Wie alle Mausoleen, die wir in diesen Tagen erleben, sei es das des Humayun in Delhi oder später das Taj Mahal und andere, kleinere, so strahlt auch dieses eine Ruhe au, an der sich in vierhundert Jahren nichts geändert hat. Die Touristen können das nicht wirklich stören. Die Hirsche im Park des Grabmals in Sikandra mit ihren spiraligen Hörnern, Pfauen und Streifenhörnchen drömeln vor sich hin, Inder sind andachtsvoll, Europäer angesichts der hohen Temperaturen langsamer in ihren Bewegungen als sonst, wunderbar.
Am Abend gehen wir in Agra aus unserem in Jahrzehnten demütigen neokolonialistischen Dienstes am europäischen Touristen etwas abgeschrabbelten Hotel einmal um den Block. Touristen die gehen – ein Anblick, der jeden Rikschafahrer zutiefst beleidigt. Sie weisen beredt auf ihr Existenzrecht hin, während sie neben uns herfahren, bieten ihre Dienste an, und es ist schwer, sie einfach zu ignorieren, zumal wenn es ein älterer Ji (Herr) ist, dessen ergrautes Haupthaar und Bart akkurat gestutzt sind und seine hageren Wangen betonen. Aber wenn einer minutenlang neben einem herfährt, nervt es einfach nur noch. Wir kommen an einer kleinen hinduistischen Feier vorbei, es ist ja immer noch dieser Feiertag, ein ummauertes staubiges Grundstück mit einem kleinen Schrein ist im Rahmen der Möglichkeiten aufgebrezelt: Blumenketten um den Schrein, Räucherkerzen räuchern das Ganze ziemlich ein, eine kleine Bühne ist aufgebaut. Ein Herr bittet uns, als wir durch eine Mauerlücke linsen, herein und erklärt mit einer grandiosen Handbewegung zum Schrein hin: „God is here!“. Zwei Dutzend ältere und ein paar jüngere Inder sitzen um den Altar, einige in weiß, die anderen in leuchtenden Saris und Männer-Uniform (Tuchhose, kurzärmeliges Hemd). Auf der kleinen Bühne sitzen sechs Musiker mit Harmonika, Trommeln, Orgel und Zimbeln sowie einer Art elektronischem Schlagzeug und singen religiöse Gesänge, sich immer sehr ähnelnde Melodien, die sich ständig zu wiederholen scheinen oder aber doch auch Unterschiede zeigen, wir können das nicht so gut heraushören. Eine professionelle Soundanlage verhilft der Musik zu einer erheblichen Lautstärke. Nach einer Viertelstunde verabschieden wir uns mit der traditionellen leichten Verneigung über zusammengelegten Handflächen, „namaste“, und zum Abschied bekommen wir jeder eine Banane als Geschenk. Sie schmeckt, als wäre sie von Gott direkt selbst gepflückt. Noch stundenlang hören wir die eintönige, aber fesselnde Musik, gegen Mitternacht wird die Lautstärke etwas runtergedreht. Es geht, glaube ich, bis in die Nacht weiter. Vive la trance.

Donnerstag, 25. März 2010: Taj Mahal
„Das Taj Mahal ist eine Träne im Antlitz der Ewigkeit“ hat der indische Nobelpreisdichter Rabindranath Tagore gesprochen. Na ja, Dichtermund, sagte ich mir, und das er wohl etwas auf die poetische Tube gedrückt hat. Wir kennen aus dem deutschen Fernsehen schon die Geschichte von Shah Jahan, der seiner Lieblingsfrau Mumtaz nach ihrem Tod im Alter von 34 Jahren (und nachdem sie ihm 14 Kinder geboren hat)dieses Grabmal bauen ließ. Ein Grabmal groß wie eine Kathedrale, nur damit man einen Sarg darin abstellen kann. Ram, unser örtlicher Führer, hat viel Respekt vor der Liebe von Shah Jahan, der dann später von seinem eigenen Sohn im Red Fort von Agra eingesperrt wurde, wo er vom luftigen Balkon seines Palast-Gefängnisses aus jeden Tag einen privilegierten Blick auf das Taj Mahal hatte (und wahrscheinlich jedes Mal bei dem Blick einen tiefen, tiefen Seufzer tat). Aber wie poetisch verbrämt oder bollywoodmäßig verkitscht man die Geschichte auch betrachtet: das Taj Mahal ist das großartigste Gebäudeensemble, das ich je gesehen habe. Insbesondere der weiße Marmor-Bau des eigentlichen Grabmales ist genial. Woran ich mich auch erinnere – nichts kommt dem gleich. Die Kathedrale von Chartres ist wunderschön, besonders die Giebelrosette. Die von Le Corbusier entworfene Kirche von Ronchamp am Südende des Elsass bezaubert mit ihren Lichtbündeln aus asymmetrischen fensterschlitzen. Die älteren New Yorker Wolkenkratzer (Woolworth, Flatiron Building usw) sind stylish und stilsicher schön. Der Markus-Platz in Venedig oder der Domplatz in Mailand mit den angrenzenden Jugendstil-Einkaufspassagen – schöne Bauten, Plätze, es gibt viel Schönes auf der Welt. Vergiss es und fahr zum Taj Mahal.

Die Witterungsbedingungen waren nicht ideal: ein paar Wolkenvorhänge verschleierten die Sonne bei ihrem Aufgang, so dass das berühmte erste hellrosa Licht fehlte. Egal, das Spiel von Wolken und Sonne hatte genügend Reiz. Der wunderbare weiße Marmor aus Makrama, fast vierhundert Kilometer entfernt in Rajasthan gelegen, unterscheidet sich vom italienischen Marmor aus Carrara dadurch, dass er keine Poren hat und kein Schmutz oder Staub sich darauf halten kann. Er ist auch extrem splitter- und bruchfest, und das kam den italienischen Steinmetzen zugute, die die Fassade und die Innenwände über und über mit pietra-dura-Arbeiten übersät haben: Einlegearbeiten mit Halbedelsteinen aus aller Welt, Lapislazuli, Onyx, Jade, und vor allem immer wieder der einheimische Carneol, der als einziger lichtdurchlässig ist und deswegen von der Sonne zum Leuchten gebracht werden kann. Der Marmor mit seinen grauen Schattierungen, die die Fläche so lebendig und atmend erscheinen lassen, hat mich besonders angesprochen, ganz aufgeweicht war ich. Irgendwie war mir auch poetisch zumute, und ich nahm meine voreilige Kritik am Dichterwort zurück. Gut gesagt, Tagore!
Am Nachmittag besuchten wir das Red Fort von Agra. Ein riesiger Komplex, roter Sandstein über und über, beeindruckend und inspirierend, aber was soll nach dem Taj Mahal kommen?

Freitag, 26. März 2010: Fahrt nach Jaipur über Fatehpur Sikri
Wir fahren von Agra los in Richtung Jaipur. Zunächst kommt aber erstmal Fatehpur Sikri, die Geisterstadt des Akbar. Der in Sikandra beigesetzte Akbar wollte der Enge und dem Betrieb von Agra (das damals die Hauptstadt des Landes war) entkommen und baute sich eine Datsche fünfzehn Kilometer weiter. Leider gab es da nur Salzwasser in den Brunnen, und es war deutlich heißer als in Agra. Trotzdem ließ er sechs Jahre lang bauen, einen kleinen Palast noch für seine muslimischer Lieblingsfrau, und einen hinduistischen Tempel für die andere Lieblingsfrau, und einen Sommersitz und einen Wintersitz, es war schon ein beeindruckender Bau mit hunderten von Räumen. Aber Akbar wohnte dort nur wenige Jahre, dann musste er nach Lahore im heutigen Pakistan, sich gegen feindliche Angriffe wehren, und als das erledigt war ging er doch wieder nach Agra zurück und der Palast stand leer, über hunderte von Jahren. Wenn das der Rechnungshof gewusst hätte… jetzt beleben ein paar Busse voller Touristen den Wahnsinnspalast im Nichts. Und wir verabschieden uns hier von Ram, dem eifrig neue Vokabeln in seinem Handy speichernden deutschsprachigen Führer.
Ram hatte uns gerade noch erklärt, wieso man heutzutage ganz sicher wissen könne, dass das mit der Wiedergeburt stimmt. Vor einiger Zeit erklärte ein Mann, dass er an genau dieser Stelle vor diversen Jahren ermordet worden sei. Er nannte Namen und Umstände dieses Mordes, die niemandem bekannt sein konnten, nur einem Beteiligten. Tatsächlich war an dieser Stelle damals ein Mord geschehen. Nun war das Mordopfer nach seiner Wiedergeburt (das ist der Beweis!) wieder dahin zurück gekehrt. Es hatte alles in der Zeitung gestanden, und so hat man jetzt endlich handfeste Beweise für die Richtigkeit der hinduistischen Weltanschauung. Ram findet auch klasse, was Osho (hierzulande bekannter unter seinem vorigen Namen Bhagwan Shree Rajneesh) über Sexualität sagt: man soll alles ausprobieren, was einen interessiert, denn nur so kann man sein Bewusstsein reinigen von all den unerledigten Triebzielen und werde bereit, die Ewigkeit aufzunehmen. Schön, wenn einem offiziell alles erlaubt wird, das gefällt den Leuten, hat ihnen ja auch in Europa gefalle, den Leuten mit der Holzkette um den Hals. Der Westen war wohl nicht reif für diese Erkenntnisse, sagt Ram, Osho sei ja dann in Amerika verfolgt und vergiftet worden, und dann sei er gestorben. Vielleicht ist er ja aber schon wieder da, wiedergeburtstechnisch.

Weiter geht die Fahrt nach Jaipur. Wir kommen in ein Hotel, das von außen aussieht wie ein Brutalo-Beton-Kasten der sechziger, aber innen mit erstaunlichem Geschmack eingerichtet und mit gelungenen Indo-Grafiken geschmückt. Die Fahrstühle sind von 2002 und früher hatte das Hotel einen anderen Namen, das verweist möglicherweise auf eine Übernahme durch eine neue Hotelkette und einen gelungenen Relaunch.

Sonnabend, 27. März 2010: Amber Fort und die Elefanten
Der Tag beginnt unter fachkundiger Leitung von Vinney, dem Führer aus der Brahmanenkaste, mit schulterlangen Locken und in Jeans und T-Shirt, was ihn für Indien richtig auffällig macht. Er ist 25 Jahre alt und studiert Betriebswirtschaft. Ansonsten kennt er sich wirklich richtig gut aus. Wir fahren frühmorgens zum Amber Fort nahe bei Jaipur. Das örtliche Fort ist Pflicht, wie es in Agra war und in Jodhpur sein wird, aber hier gibt es etwas ganz besonderes, ganz Einzigartiges, dafür ist Jaipur berühmt: hier reitet man auf Elefanten zum Fort hinauf. Man könnte auch zu Fuß gehen, aber irgendwie wäre das stillos, gar nicht so richtig Maharajah-mäßig. Es gibt in diesem Teil Indiens eigentlich keine Elefanten. Diese hier sind nur die Touristen da, leichte Arbeit, etwas stupide, jeder Elefant trägt zwei Touris auf dem Rückengestell und den Elefanten-Mahud. Allerdings sehen die Holzstöcke nicht freundlich aus, und manche Mahuds haben auch verbotene Eisenspitzen dran, mit denen den Elefanten die Wunden beigebracht werden, die meist gnädig durch Stofffransen überdeckt werden. Malerisch, das Ganze, aber auch echt daneben. Ungefähr fünfzig oder sechzig buntbemalte Grauhäuter tapsen den Serpentinenweg zum Fort hoch. Was mich am meisten beeindruckt: mit einer unnachahmlichen Eleganz setzen sie ihre Füße, mit einem leichten Knick im Kniegelenk, das sieht tänzerisch und spielerisch aus, und gleichzeitig wuchtig. Ich verstehe jetzt, warum es im „Dschungelbuch“ ein Elefantenballett gibt, aber dieses hier ist viel eleganter.
Ansonsten ist das Fort riesig, mit feinen Steinmetzarbeiten in Sandstein und Marmor, mit Wandmalereien und den allgegenwärtigen Türmchen und Anbauten und Winkeln und Ausblicken, und hier noch ein Tempelchen reingebaut und dort ein Gittermuster im Fenster, alles aus Stein gehauen, und wenn die Fotos nicht in der richtigen Reihenfolge abgespeichert sind, finde ich nie wieder heraus, was wo war…
Zurück im Hotel treffen wir Simon, der nach ein paar Tagen anderweitiger Verpflichtungen jetzt hinterher gereist ist mit dem Zug. Stundenlanges Klöhnen im Hotelgarten, ehe es mit Vinney am nachmittag weitergeht. Er führt uns in die Pink City von Jaipur, die rosa getünchte Altstadt mit dem berühmten „Palast der Winde“, der wenig mehr als eine Fassade ist, Bollywood im Maharaja-Style. Wir sehen den Park mit riesigen, gemauerten und teils zehn, fünfzehn Meter hohen astronomischen Bauwerken, die vor Jahrhunderten schon die Feststellung der Zeit auf zwei Sekunden genau ermöglichten und mit denen man schon damals alle Sternbilder und astrologischen Wichtigkeiten fand.
Vinney kennt alle, an der Kasse und im Park und unterwegs, und alle kennen ihn. Er führt das darauf zurück, dass er eben alle paar Tage als Reiseführer da lang kommt, etwas anders aussieht und der Brahmanenkaste angehört. Ja, das ist eben auch nicht unwichtig, auch in Jeans und mit langen Haaren. Er kennt sich gut aus mit den 300.000 hinduistischen Göttern, mit Vishnu und seinen verschiedenen Reinkarnationen, und mit Jaipur. Er führt uns auf ein Flachdach neben einem Tempelchen mit musizierenden Mönchen, von dem aus man den Hauptplatz vor dem Eingangstor zum Basar überblicken kann, ein schöner Blick auf einen wuseligen Platz, Asien pur: Fußgänger, Fahrrad-Rikschas, Tuktuks, Kühe, Busse, Trecker, alles durcheinander und mit ständigem Hupen und irgendwie sehr organisch, und wir haben den Duft der Blumenketten in der Nase, die Vinney am Blumenstand unten erstanden und uns umgehängt hat.
Nach einer Pause im Barista, dem indischen Starbucks, das Lavazza gehört, der italienischen Espresso-Firma, geht es dann zu der Verkaufs-Schau, an der man kaum irgendwo vorbeikommt und die uns doch immer sehr beklommen macht. In Delhi war es das einzige Geschäft in der Stadt, wo die armen Kashmir-Bauern ihre Produkte direkt an den Mann bringen konnten, man tat also ein gutes Werk für die krisengeschüttelte Grenzregion, und kurz später betraten wir einen anderen showroom und erfuhren, hier bekomme man die originalen Produkte der armen Kashmir-Bauern usw., wir mussten lernen und uns einen eigenen Eindruck verschaffen und herausfinden, was wir glauben wollten und was nicht. In Jaipur brachte Vinney uns nun in eine Juwelier-Werkstatt, sehr traditionell und original, hier werden die Schmuckstücke aus Gold, Brillanten und Rubinen ohne Kleber hergestellt wie früher, nicht so wie der kurzlebige Schmuck heutzutage, und jedes Stück ist ein Unikat, es wird nur einmal hergestellt, eigene Designs, und wir überlegten die ganze zeit, wie wir aus diesem edlen Setting heil wieder herauskommen. Dann streiften wir durch die beiden Stockwerke – oben die Edelteile, Unikate, eigene Entwürfe, unten der Modeschmuck, Massenware, aber eben deutlich billiger. Und blieben oben hängen, ein Kettenanhänger aus Gold mit Brilli und rotem und grünem Edelsteinpulver überzogen, Jade und Rubin, wunderschön und das Teuerste, was wir je an Schmuck gekauft haben. Prompt gibt es Probleme mit der Kreditkarte: sie ist im Hotel, also werden wir mit der Firmenlimousine dahin gefahren, aber das mitgenommene ambulante Lesegerät weist die Karte zurück. Also wieder in die Werkstatt, und plötzlich klappt alles, wir können uns entspannen und genießen das Abendessen im Roof-Top-Restaurant unseres Hotels über den Dächern von Jaipur, wie immer ist irgendwo eine Hochzeit mit Feuerwerk am Horizont, und der Dal schmeckt ganz ausgezeichnet, und das indische Kingfisher-Bier ist auch ganz prima. Eine schöne Stadt – und ein eins-A-Führer.

Sonntag, 28. März 2010: Fahrt nach Jodhpur, Basar
Sieben Stunden dauert die Fahrt nach Jodhpur, es gibt mehr Lastwagen-Verkehr als je zuvor auf dieser Strecke, und jeder Bus und jeder Trecker sieht zu, dass er schnell nach Hause kommt, das führt zu ewigen Überholabenteuern. Aber Bihar, unser Fahrer, meistert das souverän und ruhig. Der Stress lohnt sich: wir kommen an in 1001 Nacht, erster teil. Das Ranbankan-Hotel ist in einem ehemaligen Palast untergebracht, der allerdings erst ungefähr hundert Jahre alt ist, also ein indisch-neokolonialistisches Stilgemisch, der Pool in wunderbarem Türkis könnte sowohl einem kleinen Mogul als auch einem britischen Offizier gefallen haben, wer weiß? Der Garten drumherum mit dem Restaurant und der kleinen Bühne für die Musiker ist traumhaft.
Zunächst geht es aber nochmal in die Stadt. Kemal, unser Führer, ist ein gesetzter Herr in den fünfzigern, der seinen Anflug von Grau im Haar indienüblich mit Henna zu überdecken versucht, was aber zu einem leichten transgender-Anflug in seiner ansonsten untadeligen Erscheinung führt - er wirkt etwas feminin, dieser fast orangene Ton im Haar… Sein Ohrring zeigt an, dass er zur Krieger- und Kämpfer-Kaste gehört. Er führt uns durch den Basar um den vor hundert Jahren erbauten clock-tower, den die Firma errichtet hat, die auch Big Ben in London anfertigte. Es wird dunkel und die Läden machen schon langsam zu, daher bringt er uns zu einer echten Sehenswürdigkeit, wie er versichert: ein altes Stoff-Warenhaus, kein Verkaufsladen, ein Lagerhaus, das seine Waren in alle Welt verschickt. Es ist ein verwinkelter Bau, sieben oder acht Stockwerke, die aber gegeneinander verschoben sind, da führen mal fünf Stufen in einen etwas höher gelegenen Nebenraum, das muss wohl das Nachbarhaus sein, wo die Wand durchbrochen wurde, und überall Stoffe, Decken, Tücher. Da hinten geht es noch höher. „We are a ware-house, no traders!“ wird uns immer wieder versichert, als wenn wir den Unterschied wirklich verstanden hätten und als ob es uns irgendetwas bedeuten würde. Dann werden uns von einem begnadeten Verkäufer, der pausenlos reden kann, ohne plapperig zu wirken, und das nur für uns macht, weil er gerade Lust hat, ein paar von diesen wunderschönen Tagesdecken auf dem Boden auszubreiten, weil wir nun gerade extra aus Deutschland in sein Haus gekommen sind.
Es geht um Bettüberwürfe, um große Decken, Granfoulards, this one was for Richard Gere, he was here, do you want to see the foto?
Widerstand ist zwecklos. Es sind in der tat wunderbare Stücke, von Wüsten-Folklore bis zu Designs für die Fifth Avenue. Kenzo bestellt hier, DKNY, die ganze Welt der Mode, sie lassen hier zum Teil nach ihren Entwürfen anfertigen und dann kleben sie ihr eigenes Firmenetikett drauf und verkaufen das Ganze in Paris oder New York für das zehn- und zwanzigfache dessen, was es hier kostet. Eine Fotokopie wird herumgereicht: ein Kästchen in einem Artikel von GEO-Saison Jahrgang 2008, in dem exakt dieser store beschrieben wird und betont, wie sagenhaft preiswert die tollen Stücke hier sind. Das überzeugt uns, wir vertrauen GEO, und als wir die Preise hören, staunen wir sowieso: es ist wirklich wenig, was wir dann für die beiden Decken bezahlen, die wir aussuchen, die eine Tagesdecke aus gelbem Seidenstoff mit Blumenstickereien und die andere in dem Blau des Wüstenhimmels mit einer Unmenge kleiner Spiegelchen, die eingestickt sind in ein ebenfalls blaues Stickmuster, und alles wird uns nach Deutschland geschickt (inzwischen sind sie angekommen, eine Woche später als zugesagt, aber sie sind da!).
Später sitzen wir im Garten, essen indische Currys und Dals und hören indische Live-Musik, und genießen die milde Abend-Wüsten-Hitze. Immer noch ein Traum.

Montag, 29. März 2010: The Blue City
Jodhpur sieht von oben aus wie ein Puzzle, lauter kleine Quadrate und rechteckige, kubische Bauten, alle mit Flachdach als Zimmer für den Abend, wenn die Sonne nicht mehr glüht und es milde wird im Wüstenklima. Eine Inkarnation arabischer Architektur für die heißen Gegenden, nur ein paar Hochhaussünden dazwischen, ein paar Hotels oder Geschäftshäuser. Im Hintergrund liegt malerisch der Palast des Maharajah, dem sie alles genommen haben, das war in den siebziger Jahren: mit einem Federstrich hat Indira Gandhi die Reichen enteignet, das Fort war er los, nur sein kleiner Palast blieb ihm, knapp 340 Zimmer, und um überleben zu können, wandelte er die Hälfte in ein Hotel um und beschränkte sich auf die restlichen Kämmerchen. Den Bilddokumenten zufolge ist er aber trotzdem nicht in die Hartz-IV-Falle geschliddert, sein silbernes Geschirr konnte er auch noch behalten, ein Video-Film im Fort Meheranghar zeigt den weiterhin luxuriösen Lebensstil des alten Maharajah. Aber wo sein Sohn gekrönt wird, wenn der Alte mal nicht mehr sein wird, das ist offen (womöglich im Palast-Hotel?), denn das Fort mit dem marmornen Krönungsstuhl im Innenhof ist in eine Stiftung umgewandelt und steht für repräsentative Zwecke nicht mehr zur Verfügung. 1952 war der jetzige alte Maharajah dort als Kind gekrönt worden, seitdem hat sich viel verändert in Indien.
Das Fort Meheranghar liegt über Jodhpur und bietet nach allen Seiten atemberaubende Ausblicke – vor allem auf die Blue City, das Brahmanenviertel. Lichtblau ist die Farbe der Brahmanen, hellblau in den verschiedensten Schattierungen sind die Häuser im Viertel der Priester und Gelehrten, die an den Hang geklebten Würfel, ein Gewirr aus Blautönen. Das Kastenwesen ist offiziell seit einigen Jahren abgeschafft, im Gegensatz zu früheren Zeiten wäre es heute ohne weiteres zulässig, dass sich irgendwelche Nicht-Brahmanen hier einkaufen und einziehen in eines der blauen Würfelhäuser. Aber kein Brahmane verkauft an einen Krieger oder Kaufmann oder gar an einen Ausländer ohne Kastenhintergrund, und so bleibt man weiter unter sich, ob gesetzlich geschützt oder nicht. Das Kastenwesen ist eine macht, auch wenn es offiziell gar nicht mehr existiert.
Das Fort wird von der Stiftung ständig renoviert, saniert, vorbildlich gepflegt. Darauf sind die Jodhpuraner stolz. Der Trust ist auf die Idee gekommen, alle Eintrittsgelder, Fotogebühren, Lifteinnahmen in die Erhaltung des Gebäudes zu stecken (eine Idee, die in Indien nahezu revolutionär wirkt). Man fährt mit dem Lift fünf Stockwerke hoch bis auf die oberen Höfe, die Burg ist mächtig und riesig, und sie ist in der Tat gut erhalten. Man steigt dann noch mehrere Etagen zu Fuß hoch und genießt den Blick. Überall Glasfenster mit belgischen Buntglasscheiben, zweihundert Jahre alt, überdimensionale Weihnachtsbaumkugeln hängen an einer Decke, Marmor und Edelstein, Spiegelsaal zur Meditation und aus Silber getriebene Elefanten-Passagier-Kabinen für die Tigerjagd, der Luxus ist unfassbar. Gegenüber der Burg, etwas tiefer, liegt der „Friedhof“, ein kleinerer Palast für die Toten, Stätte der Ruhe und Einkehr, bei uns würde man „Schloss“ dazu sagen und es würde ein Herzog darin residieren, hier dient es dem Andenken. Sonst nichts.

Bevor Jodhpur mit dem Fort zur Hauptstadt wurde, herrschten die örtlichen Maharajahs in Mandur, einem Ort am anderen Ende von Jodhpur. Wir erleben einen vorwiegend von Affen bevölkerten Park, in dem einige pompös-befremdliche Bauwerke wie aus Phantasy-Fiction-Filmen stehen. Es wirkt wie eine fremde, untergegangene Kultur auf einem unerforschten Planeten. Jeder Bau hat einen sechs oder acht Meter hohen, etwas plump wirkenden Turm, wie er typischerweise auf hinduistischen Tempeln zu finden ist, aus rötlichem Sandstein, mittlerweile mächtig nachgedunkelt. Es wird dämmerig, die Abendsonne verleiht dem ganzen Szenario einen unwirklichen Schein. Die Schreine sind offen nach allen Seiten, zum Teil verfallen, überall Affen, Kühe und Hunde. Ein Bettelmusiker spielt auf seinem einsaitigen geigenähnlichen Instrument „Frère Jacques“ – wir sind als Europäer enttarnt… Da wird es auch nicht viel helfen, dass ich mir später am Abend eine Kurts kaufe, das indische Langhemd, gefertigt nach den Grundsätzen von Mahatma Gandhi in Heimarbeit und unter indischer Regie. Abends essen wir im „On the Rocks“, einem Gartenrestaurant nahe unserem Hotel, das wir schon mittags ausprobiert und genossen haben. Unter großen Bäumen und mit indirekter Beleuchtung unter dem Tisch (die ausgeschaltet wird, wenn man bezahlt hat) fühlen wir uns wohl, auch wenn uns die nebenan stattfindende hinduistische Hochzeit mit konzertlautstarker Bollywood-Musik bedröhnt.

Dienstag, 30. März 2010: Kamele und ein ungemütlicher Palast
Auf der Fahrt von Jodhpur nach Bikaner gibt es in der Wüstenödnis kein geeignetes Restaurant für europäische Zungen und Gaumen. Wir schließen uns unserem Fahrer an, der an einer Trucker-Garküche hält. Die Lastwagenfahrer liegen und sitzen auf den geflochtenen Bettstellen, die wir auch aus Innenhöfen der Wohnhäuser kennen, sie essen im Sitzen und fallen dann um, ein Schläfchen machen. Es wirkt auf uns verrufen wie eine Opium-Höhle, unsere Klischees werden prompt innerliche aktiviert, dabei ist es einfach nur fremd. Die Küche ist zerbeult und verrußt, für uns gibt es den einzigen Plastiktisch mit den dazugehörigen weltweit gleich designten Plastikstühlen (wie vom heimischen Baumarkt). Es gibt ein Tali, das sind verschiedene Currys in kleinen Metallschälchen, dazu Roti, das dünne Fladenbrot, und frischgeschnittene Zwiebeln mit Chilisauce. Wir sorgen für Lacher der uns beobachtenden Inder, aber es ist okay, dass wir da sind, und es schmeckt ganz ausgezeichnet, wenn man alles weglässt, was uns zu scharf ist. Für vier Personen bezahlen wir insgesamt etwas über zwei Euro.
Kurz vor Bikaner biegen wir ab zum Camel Research Centre. Genaugenommen handelt es sich um eine Dromedar Research Centre, aber das wird hier nicht so genau genommen: die zweihöckrigen Kamele gibt es in Indien kaum, dazu muss man nach Kasachstan reisen, oder nach Usbekistan und China, hier in Indien sind es einhöckrige Dromedare. Aber da sie auf englisch auch „one hump camels“ heißen, ist die sprachliche Verwirrung allseitig und nicht rein indisch. Die Dromedare gucken genauso hochmütig und desinteressiert an unseren menschlichen Alltagssorgen wie es Kamele tun. Die Tiere werden hier im Zentrum „erforscht“, aber es sieht eher so aus, als wäre es ein Public-Relation-Zentrum für alles, was mit Kamelen zu tun hat: Speiseeis aus Kamelmilch, Schnitzereien aus Kamelknochen (das sieht so ähnlich wie Elfenbein aus und ersetzt es in der Souvenirindustrie), Teppiche und Mäntel aus Kamelhaar (so einen Kamelhaarmantel hatte eine Großtante von mir, das war eine Legende, der war wertvoll). Einen Shop gibt es auch, natürlich. Auch die Aufzucht von Kamelen ist ein Geschäft, irgendwoher müssen die Reit- und Zugtiere ja kommen. Eine Station zur Förderung der Kamelrechte ist es nicht unbedingt. Die aggressiven Kamelbullen sind angeleint, die Vorderfüße zusammengebunden wie bei Karl May („angehobbelt“), wirken nicht glücklich, wie sollten sie auch, aber was weiß denn ich, wie gefährlich so ein Tier werden kann und wie man es artgerecht halten könnte? Ein ungutes Gefühl bleibt. Allerdings ist dann der Anblick der Kamelherde, die aus der Wüste (wo sie tagsüber rumlaufen) zum abendlichen Saufen zum Zentrum zurückkommt, wirklich beeindruckend. Ein paar hundert Tiere (meist Stuten, deren Junge sie blökend begrüßen) fegen um die Ecke, es staubt mächtig, und schon stehen sie an den langen Tränken und schlürfen das Wasser in kürzester Zeit in sich hinein. Die Kleinen blöken, die Bullen produzieren mit ihrem Gaumensack ein bedrohlich tief-blubberndes Geräusch, es ist schon was los hier…
Wir steigen im Lallghar-Palace ab, ein weiteres Palast-Hotel, aber hier passt einiges nicht. Der Bau hat wunderschöne Flure, zu unserem Zimmer müssen wir durch die Schwimmhalle mit ihren riesigen Glasfenstern, alle Räume sind fünf Meter hoch, selbst das Bad, Marmorfußböden gehören in einen Palast, aber unser Zimmer ist geschmack- und lieblos eingerichtet. Vor dem Schein-Kamin steht auf einem weißen Kühlschrank der Fernseher, es sieht ein wenig nach Umzug aus. Einen Zimmersafe oder Zahnputzbecher suchen wir vergeblich, und erst als wir die Tagesdecke des Doppelbetts über das fleckige Sofa gelegt haben, geht es ein wenig besser… Ich bekomme ein bisschen so etwas wie einen Palast-Koller: Luxus und Leere, wenig Gäste, im Restaurant treten Gäste nur in Gruppen ab 25 Personen auf und sind dann deutsch oder italienisch, jeder Inder versucht in erster Linie was zu verdienen (die Life-Musiker, der Marionettenspieler), das ist ja klar. Im Restaurant gibt es plötzlich nur das überteuerte Buffet, da sind wir gastronomische Geiseln. Ich bin es satt, immer nur als Melkkuh rumzulaufen, und gebe doch viel zu dünne Milch, es ist alles so widersprüchlich, mir reicht’s.

Mittwoch, 31. März 2010: Havelis statt Fort
Wir verzichten auf die Besichtigung des Forts von Bikaner, es sieht von außen schon so ähnlich aus wie das in Delhi, Agra oder Jodhpur, unser Führer ist sehr einverstanden, er scheint auch keinen gesteigerten Wert auf das Fort zu legen. Stattdessen stehen einige (z.T. extrem prunkvolle) Havelis auf dem Programm, Kaufmannshäuser oder Stadtpaläste, und ein lebenspraller Jain-Tempel. Unser Führer, ein lebenserfahrener Kulturpädagoge in den Fünfzigern, gehört der Brahmanenkaste an – aber darauf legt er gar keinen Wert, er ist sehr aufgeklärt, er arbeitet nur für seinen Bauch, nicht für seine Wiedergeburt. Er war insgesamt sieben Monate lang in Europa, hat in Vence in Südfrankreich gelebt und in Belgien, an Konferenzen und Tagungen über Kulturaustausch teilgenommen. Sein aufgeklärter Skeptizismus verhindert aber nicht, dass er mit viel Respekt die Havelis präsentiert, in denen Dynastien von Kaufleuten lebten und leben, die heute weniger vom Handel als vom Geldverleih blühen und gedeihen, private Bankhäuser sozusagen. Er verhindert auch nicht, dass uns dieser Führer mehrfach sein um den Oberkörper geschlungenes Brahmanen-Band zeigt, dass er unter dem Hemd trägt, so skeptisch er auch sein mag, er ist Brahmane, da kommt auch er augenscheinlich nicht wirklich raus. Das von uns besichtigte Haveli wird als Hotel für ausgewählte Spitzengäste genutzt, es ist ein Traum aus Gold, Farben und Verzierungen, Licht- und Schattenspielen. Unser Bedarf an Prunk ist aber irgendwie gedeckt.
Der „Buttertempel“ der Jain wird vom Führer als ein Ort der Widersprüche präsentiert (auch da scheint der Brahmane durch). „Buttertempel“ nennt seine Frau diese Stätte, weil dort ghee verwendet wird, was eigentlich dem tierschützerischen Anspruch der Jainisten widerspricht. Echte Tierrechtsanhänger würden kein Butterfett (ghee) benutzen, sondern vegan leben: ohne tierische Produkte wie Milch, Butter, Käse usw. In Delhi wurde ich vor dem Betreten des Schreins noch gefragt, ob ich auch keinen Ledergürtel trage. Tierische Produkte, seien es nun Lebensmittel oder Kleidungsstücke, waren dort verpönt. Hier stehen lederbespannte Trommeln im Schrein. Im Gegensatz zu Delhi, wo ich den Fotoapparat abgeben musste, ermuntert mich hier der Tempelwächter (ein braungebrannter Brahmane, der nur eine Pluderhose trägt und seinen braunen Bauch in die Sonne hält) zum Knipsen. Am Oberkörper trägt er nur das mehrfädige Brahmanenband, das quer über die linke Schulter zur rechten Hüfte läuft wie eine Schärpe.
Die Hindus, erklärt unser guide, sind Meister in der Ideologie des Notausgangs. Es gibt klare Vorschriften: du darfst dieses Fleisch oder jenes Gericht nicht essen. Aber wenn du in Not bist, musst du es vielleicht doch tun, weil es nichts Anderes gibt oder sonst das Überleben irgendwie nicht gesichert ist, und das ist dann der Notausgang. Und (setze ich im Kopf hinzu) – ist nicht das Leben eine endlose Aneinanderreihung von Notsituationen? Jede Gottheit hat ihre eigenen Erwartungen an den Gläubigen, und wenn man durch alle diese Vorgaben nicht unerträglich gegängelt sein möchte, braucht es viele Notausgänge. Der guide kann nicht verstehen, wie so viele Gläubige zwar der Anforderung genügen, kein Fleisch zu essen. Aber tierische Produkte wie Milch, Joghurt, paneer (den indischen Frischkäse) oder Eier essen sie in Massen. Der guide ist erbost über so viel Heuchelei, und dieser Jain-Tempel heißt eben „Buttertempel“, und damit hat der Widerspruch einen Namen, Jainismus und Butter, eigentlich passt das nicht zusammen. Aber so ist die Welt. Und unser guide vergisst auch in seiner Erbostheit nicht, uns mehrfach sein eigenes Brahmanenband zu zeigen, dass man unter seinem Hemd sonst ja gar nicht sehen kann. Brahmane und aufgeklärter Weltbürger, geht das zusammen? Wo es jainistische Buttertempel gibt, allemal.
Als nächstes bringt er uns in eine Malschule, wo Meister Mukesh Swami seine Kunst an Schüler weitergibt, die auch die ortsübliche Pflanzenmalerei erlernen wollen. Woanders malt man Kampfszenen oder Ornamente oder Frauen, hier in Bikaner botanische Motive. Ein Blick ins Internet vermittelt den Eindruck, dass einen verbissenen Wettkampf zwischen indischen Miniaturmalern gibt, wer den Baum mit den meisten Blättern hinkriegt, mit einem Pinsel, der nur aus einem einzigen Eichhörnchenhaar besteht (es dürfte hier in Indien wohl eher ein Streifenhörnchenhaar sein, aber eben squirrel). Mukesh hat einen Ficus mit 14000 Blättern gepinselt, das ist der aktuelle Rekord. Er malt auch Ansichtskarten für Unicef, ist also ein ehrenwerter Mann. Mukesh sitzt im Schneidersitz vor seinem Maltisch und ist beschäftigt, aber als wir reinkommen, ist er sofort für uns da. Wie in dem Jewel-House und dem Tuch-warehouse erliegen wir blitzschnell dem Charme und der beredten Art der Verkäufer, er ist einfach ein richtig netter Typ und hat auch schon in Italien ausgestellt, Perugia, wie sympathisch… und seine Produkte gefallen uns gut, obwohl diese feine Pflanzenmalerei gar nicht automatisch unsere Sache ist. Aber das alte Briefpapier, auf dem er malt und das das alte Poststempel auf Hindi trägt, gibt der Malerei mit Golduntergrund ein besonderes Flair und hat irgendwie Verknüpfungen mit den Christo-Dokumenten, die wir im Wohnzimmer hängen haben. Also erstehen wir ein Doppel-Bild für 90 Euro, und Simon erwirbt eine Lilie und eine Sonnenblume für je 12 Euro. Das ist ja nicht viel, nur auf indisch wirkt es gigantisch: er zahlt 1800 Rupien, wir sechstausend…
Am späten Nachmittag bringt uns Bihar, unser Fahrer, zum Kamelritt in die Wüste, zwanzig Minuten vor den Toren von Bikaner. Simon erspart sich das, weil er ahnt, dass die Haltung der Kamele seinen Tierrechtsvorstellungen nicht entsprechen dürfte. Die Tiere warten mit ihren Haltern neben der Straße, einen Steinwurf weiter ein paar kleine Häuser, ansonsten wird die Gegend dominiert von der riesigen Umspannstation, die wir einige hundert Meter zurück an der Straße passiert haben. Der Strom für ganz Nord-Rajasthan scheint hier verteilt zu werden, die Überlandleitungen streben in alle Himmelsrichtungen, Lenin schwirrt mir durch den Kopf: Eisenbahn und Elektrifizierung proklamierte er für Russland als Königsweg in die Zukunft, hier ist beides sichtbar vorhanden…
Wir sind gedanklich vorbereitet auf die Probleme, die das Aufsteigen auf die Kamele machen kann. Die praktische Demonstration des Aufsteigens durch den Kamelführer, zu der uns Herr Cherian nachdrücklichst geraten hatte, bringt uns aber handlungstechnisch nicht wirklich weiter. Das Aufsteigen im engeren Sinn ist nicht der Punkt – das Kamel sitzt platt auf der Erde, man schwingt sein Bein drüber und sitzt auf dem gepolsterten Sitz. Aber dann muss das Tier ja seine langen Beine auffalten, vorn halb hoch - hinten hoch - vorn ganz hoch, wir werden durcheinander geschaukelt, ich fürchte nach vorn zu rutschen, da geht es vorn hoch und ich ruckle nach hinten, aber schon steht das edle Tier und ich kann mich beruhigen. Mein Dromedar ist etwas kleiner als das von Gerlinde, mein Kamelführer auch, er mag so zwölf Jahre alt sein und nimmt seine Aufgabe ungeheuer ernst. Das ist anrührend, aber nicht wirklich vertrauenerweckend, denn sein Tier gehorcht ihm nicht so selbstverständlich wie das bei Gerlinde und ihrem ruhigen, gelassenen jungen Mann ist, der ihr Dromedar an der Leine führt. Der Kleinere ist ganz bei der Sache, aber sein Kamel ist vielleicht noch nicht ganz erwachsen, benimmt sich etwas teeniehaft-hysterisch, blökt rum und geht zweimal ohne Ankündigung und ohne Aufforderung vorn runter, so dass ich fast dasselbe mache und mich nur mit Mühe halten und mit gespreizten Beinen in den als Steigbügel dienenden Hanfseile stehe, was zu erheblichen Überforderungen meines Beckenbodens führt. Das ist wirklich zu lange her, dass ich in der Schwangerschaftsgymnastik meinen Beckenboden ergründet habe, reingeatmet und alles, jetzt fühle ich mich unvorbereitet, ungefragt, untrainiert und ungehalten.
Ansonsten ist der Kamelritt atmosphärisch angesiedelt zwischen der Moderne (Strommasten) und der Wüste (Dünen, Stachelbüsche, Wind). Industrialisiert und wüst ist die Gegend, aber erfreulich plastikfrei, keine Tüten fliegen durch die Gegend, keine Verpackungen am Wegrand. Tumble weed rollt wie im wilden Westen über den Sand, ruhig und eintönig ist es. Das mobile phone des älteren Kamelführers klingelt mit einem orientalischen Akkord mindestens fünf Mal, er spricht über ein head set. Einmal sehen wir ein paar kleine Antilopen am Horizont. Einmal fliegt Gerlindes Strohhut weg, und der kleine Führer versucht, mit meinem Reittier an der Leine hinterher zu laufen, was meinen entschiedenen, aber wortlosen Protest auslöst. Ihr Kamel mag das nicht, fliegende Strohhüte, es mag auch nicht das Geräusch knisternder Tempotaschentuchverpackungen, wenn sie ihren Rucksack verlagert, und das Geräusch des Klettverschlusses, wenn sie ihren Fotoapparat herausholt. Vielleicht mag es auch einfach keine Touristen. Es guckt sich empört um, wenn wieder mal Geräusche erklingen, die in seinem Kamelleben bisher nicht vorkamen, und der Sitz wackelt dann immer bedenklich, aber Gerlinde ist eher belustigt als verstört. Ich kann hinterher dann nicht mehr richtig laufen – auf beiden Beinen stehen geht ganz gut, aber auf einem Bein, da werden Muskelpartien aktiviert, die irgendwie direkte Verbindung zu meinem geschundenen Beckenboden aufweisen. Und Gehen ist eine Abfolge von Ein-Bein-Situationen, eines nach dem anderen, ich eiere da irgendwie so rum. Solche Verletzungen brauchen Zeit, das kennt man ja von den Fußballspielern und so, ich werde also absehbare Zeit sehr vorsichtig sein müssen…

Donnerstag, 1. April 2010: Fahrt nach Mandawa
Zwischen Bikaner und Mandawa fahren wir immer wieder stellenweise an beackerten, grünen Flächen oder abgeernteten Weizenfeldern entlang: hier wird bewässert, dann kommt eine Steinmauer und dahinter ist es wieder wüstensandig. Meistens ist es trocken und karg, und wir freuen uns an dem Gewühl von Fatehpur, der ersten Stadt, die uns nach einigen Stunden schlechter Straße empfängt. Die Stadt lebt nicht von Sehenswürdigkeiten, sondern von sich selbst, das ist sehr angenehm. Wir suchen nach einem Kaufmannshaus, einem Haveli, das eine Französin restauriert und in ein Kulturzentrum entwickelt hat – es heißt in indisch-französischer Bilingualität Nazdin Le Prince. Als wir es gefunden haben, müssen wir leider feststellen, dass es geschlossen ist, der Führer ist gerade zum Mittagessen, das Café wird renoviert und am kommenden Montag wieder eröffnet. Die Französin, die das Projekt seit Jahren vorantreibt, erweist sich als spröde und wenig entgegenkommend, sie lässt uns nur kurz in den Innenhof und bedauert, dass sie nichts für uns tun kann. Hätte sie schon können, Gerlinde wäre gern auf die Toilette gegangen, aber leider ging das nicht, die Renovierung… indische Freundlichkeit hätte anders ausgesehen, aber hier herrscht französische Zurückhaltung. Das Gebäude ist beeindruckend schön, die Malereien sind sehr ansprechend wieder hergestellt, wir hätten uns gern willkommen gefühlt.
Mandawa ist noch überschaubarer als Fatehpur. Aber es hat Ähnlichkeiten: keine herausragenden Sehenswürdigkeiten, nur ein paar mehr oder weniger heruntergekommene Havelis, ansonsten Straßenleben wie in einem kleinen Marktflecken am Rande der Wüste. Es gibt eine Hauptstraße und zwei, drei Querstraßen, und dann wird es sandig. In der Mitte steht das Castle Mandawa, das Hotel im alten Palast des örtlichen Herrschers, und es gibt die fürstliche Suite im Turm der Burg. Sie umfasst drei Zimmer mit zwei beeindruckenden Bädern, geschnitzte Betten und steinernen Gitterbögen am Schlafbalkon, und wir wohnen in der Suite. Wir fühlen uns wie Sherezade und Ali Baba in einem, 1001 Nacht live, mit Sitznischen in den dicken Mauern, indirekter Beleuchtung und gemalten Wandfriesen. Vom Dach des Turms, der natürlich begehbar ist wie jedes Dach in der Stadt, überblicken wir ganz Mandawa und können auch sehen, wo das Städtchen endet und der Sand beginnt. Es ist wie in einem Bollywood-Film, aber doch ohne Tanz- und Gesangseinlagen, die auf die Dauer eher nerven, es ist einfach nur schön.
Zwei recht neue Moscheen am Rand der Stadt verweisen auf die Bedeutung des muslimischen Bevölkerungsanteils: 30 % der Einwohner von Mandawa sind Muslime. Das ist doppelt so viel wie durchschnittlich im ganzen Land, und ich bin vorsichtiger beim Fotografieren, weil Moslems im Gegensatz zu Hindus (so habe ich gehört) eine religiös begründete Abneigung gegen das Knipsen haben. Hindus freuen sich, wenn sie abgelichtet werden, Moslems wenden sich ab oder protestieren. In Moscheen gibt es kein Bild, nur Ornamente, und wo Moslems in früheren Zeitaltern hinduistische Regionen unterworfen haben, klopften sie alle Köpfe von Figuren aus Sandstein weg. Heutzutage kommt das auch noch ab und an vor, die Buddha-Statuen in Afghanistan wurden von den Taliban gesprengt, aus eben demselben Grund. Die Moscheen von Mandawa sind neu und der Lack ist glänzend und pastellfarben. Das Hotel in dem Palast ist nicht so lackiert, manche Wände sind vor einiger Zeit neu mit dem typischen Ockerton gestrichen, andere sind angegraut von dem Wüstenklima der letzten Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Dieses scheckige grau-braun wirkt wie in Würde gealtert, es passt zum Sand. Der Hof des Hotels ist nicht künstlich zum Garten mutiert (den gibt es allerdings auch für das abendliche Restaurant in einem Nebenhof), sondern sandig wie vor zweihundert Jahren. Das Personal ist unauffällig und freundlich. Das Buffet am Abend im Restaurant-Rasen-Hof ist mit goldenem Tuch stimmungsvoll drapiert, es folgt einer Traum-Dramaturgie und vom Dal (dem allindischen Linsengericht) bis zum Mango-Soufflé ist es perfekt. Es ist okay, dass es dem europäischen Gaumen entgegen kommt und uns die Schärfe nicht wie in vielen typisch indischen Gerichten überfordert. Die Mischung macht’s: das Okra-Gemüse ist durchaus etwas pikanter angemacht, aber die Kartoffeln mit Schwarzkümmel sind milde und lecker, das Dal ist scharf (weil es scharf sein muss), die Auberginen sind mittel, man stellt sich seine Mischung eben so zusammen, wie es gut ist. Die Mischung – das ist Masala, die Zusammenstellung von Gewürzen in unterschiedlichen Gewichtungen und Schärfegraden, angeblich hat jede indische Hausfrau ihr eigenes Masala-Rezept. Garam Masala gibt es auch bei uns in Deutschland zu kaufen, Tandoori masala ebenfalls, meist als Pulver, selten als Paste (im Asienshop kriegt man aber auch die). Currys werden mit Masala gewürzt, denn Curry ist eigentlich kein Gewürz, sondern ein Gericht, das dann eben mit Masala zu seiner Eigenart findet. Die Mischung macht’s. Masala country.

Die nächtliche Mischung habe ich so nicht erwartet. Wir haben die Fenster aufgemacht, um frische Luft rein zu lassen und die Klimaanlage ausstellen zu können. In dem Turm geht das gut, weil die Fenster rund herum angeordnet sind und wir richtig einen kleinen Durchzug anzetteln können. Mückengitter schützen uns vor Insekten. Aber nicht vor der Geräuschkulisse der Flattertauben, die sich auf jedem Vorsprung des Gemäuers niederlassen, eine Weile vor sich hingurren und dann den Platz wechseln, wuschwuschwaschel. Unten in den kleinen Gassen um das Castle marodieren die Hunde, die nirgendwohin gehören, und versuchen herauszufinden, wer ihr Anführer ist. Wenn einer sich zu weit vorwagt, der gar nicht echter Führer ist, wird er ins Ohr gebissen und jault furchtbar herum, die anderen bellen ihn aus – jedenfalls könnte es so eine Szene sein, die sich da immer und immer wieder abspielt, ein Gekläffe und Gejaule, und dann geht die ganze Jagd einen Block weiter. Dazwischen keift ab und an ein Pfau, und die keifen wirklich laut und durchdringend, wie ein rostiges Gartentor. Katzen kämpfen um ihr Revier und versuchen ihren Gegner schon durch reines Stimmvolumen wegzufegen. Dass Katzen so laut fauchen können! Nach einer Nacht voller Tiergeräusche und nur kurzen Phasen flachen Schlafs gibt es endlich um fünf wieder menschliche Geräusche: der Muezzin ruft. Allah il Allah, und die Nacht ist zuende.

Freitag, 2. April 2010: Spaziergänge in Mandawa
Wir wollten hier in Mandawa keine Führung. Auf der Straße wird uns zwar alle paar Meter eine angeboten, lauter exklusiv informierte und ortskundige Führer dienen sich uns an, wollen uns die Geheimnisse des Ortes weisen. Einer klagt Simon gegenüber: ihr gebt Geld für Auto und Chauffeur aus, für teures Essen und exklusive Hotels, und dann wollt ihr uns nicht einmal ein paar Rupien als Führer verdienen lassen. Da ist was dran, aber ich liebe es doch so, allein durch Straßen zu schlendern, hinter der nächsten Ecke mein eigenes kleines Mandawa-Geheimnis zu entdecken, so wie ich durch New York gewandert bin und durch Chania auf Kreta, durch Paris und durch Lübbenau im Spreewald. Mandawa bietet sich an für diese Erkundung, man kann es sich komplett erlaufen. Früher müssen die Havelis beeindruckend und prunkvoll gewesen sein, es gibt vielleicht ein Dutzend davon, aber heute sind sie teilweise zerfallen, teilweise bewohnt, aber heruntergekommen. Mandawa scheint ein Marktflecken mit größerer Vergangenheit als Zukunft, die paar Busladungen Touristen im Castle Mandawa können das nur teilweise ausgleichen. Nur das Gässchen vom Hotel bis zum Main Basar ist mit einigen Souvenir-Shops bestückt, ansonsten sind wir Touris Beiwerk. Gut so. Nur die Kinder nehmen wirklich Notiz: Je weiter ich von dem Zentrum wegkomme, desto größer die Traube von fünf- bis achtjährigen Kids, die sich an Meine Fersen heften und nach Stiften, Süßkram oder Geld verlangen: „Pen? Bonbon? Rupies?“. Sie lassen erst ab, wenn ich ihr Wohnquartier wieder verlasse – es scheint feste grenzen zu geben, die sie nicht überschreiten dürfen, die Mama hat’s gesagt… Nur einmal fasst mich ein Mädchen an, das ist mir ungewohnt und ich mag es nicht, es überschreitet meine Grenze, aber weiß ich wirklich, wann ich ihre überschritten habe? Die beiden Jungs, die kurze Zeit später auf mich zu kommen, wollen fotografiert werden. Sie stellen sich der selbst eingeforderten, aber vielleicht unerwartet nun realisierten Anforderung mit großem Ernst und einer gewissen Beklommenheit. Einer ist so um die acht Jahre, der andere vielleicht elf. Als ich geknipst habe, fällt ihnen ein, dass sie dafür nun auch einen Lohn verdienen – pen, bonbons, rupies… Ich gehe nicht darauf ein, weil ich weder Stift noch Bonbons habe und wir in vielen Gesprächen zu der Entscheidung gekommen sind, Kindern kein Geld zu geben, weil das eine falsche Botschaft ist: wenn sie mit Betteln Geld verdienen, sinkt die Motivation, zur Schule zu gehen. Daher geben auch NGOs in der Betreuung von Straßenkindern die Devise aus: No charity! Das ist hart, aber wir versuchen das umzusetzen. Als die beiden also keine Entlohnung erhalten, fangen sie an sich gegenseitig zu beschimpfen: „Half-minded!“ sagt der Ältere und zeigt auf den Kleinen. Irgendwie macht der keinen behinderten Eindruck, und bald gehen sie ihren eigenen Weg weiter.
Ein anderer, so dreizehn, vierzehn Jahre alt, fängt mit der Standard-Frage an: „Where are you from?“ Dann kommt das Anliegen: er möchte Geld, weil er Durst hat. „For a Pepsi!“ gibt er ehrlich an, was er wünscht. Er hat dann wohl den Eindruck, diese Strategie sei nicht wirklich zwingend, und verfremdet sie durch Überhöhung: „For a whisky!“ Im dritten Schritt versucht er dann in einem einfach verunglückten timing eine neue Wende: „I’m hungry!“ Wahrscheinlich war das mit der Pepsi doch die ehrlichste und authentischste Variante, und erst später wird mir klar, dass sie hätte erfolgreich sein sollen, aber nun bin ich zu spät dran.
Es ist ein sonniger, beschaulicher Spaziergang. Die schmale Treppe auf den Wasserturm traue ich mich nur zu einem Viertel zu besteigen, es gibt nur auf einer Seite ein Geländer, und die Aussicht verspricht keine Sensationen, so dass sich schweißnasse Hände angesichts meiner früheren Albtraumerfahrungen mit geländerlosen Treppen und fehlenden Stufen nicht lohnen. Überall wird auch gebaut: neue Gewerbetriebe, kleine Häuschen für Reparaturwerkstätten und Reifenlädchen, Baumaterialhandlungen und Garküchen. Ein paar Stunden später fängt es an sich zu beziehen, ein Wind kommt auf und trägt feinen Sand mit sich, eine gelbe Wolke liegt über der Stadt – ein ganz normaler Vorgang, nicht mal ein Sturm, die Wüste kommt. Plötzlich wirkt der Ort unwirtlich, feindlich fast, der Traum wird sandgestrahlt und kriegt Kratzer. Abends essen wir auf dem Dach im Restaurant „Monika“, was ein angeblich auch in Indien beliebter Frauenname sein soll. Die Tochter des Wirtes heißt so. Die Luft ist wieder mild, es schmeckt phantastisch, Simon wird perfekt vegan bedient, und Mandawa präsentiert sich zum Abschied fast liebevoll. Der Wirt hält uns noch eine kleine, freundliche Predigt über die Bedeutung der Familie, das Blut und die Zusammengehörigkeit. Er meint es gut, wir widersprechen nicht, wie sollte man das tun an einem solchen Abend.

Sonnabend/Sonntag, 3./4. April 2010: Zurück!
Am nächsten Tag geht es zurück nach Delhi, der Abschied fängt an, wir lernen noch Simon’s Mitbewohnerin Henrike kennen, kaufen letzte indische Kleidungsstücke und Pfauenfiguren, lassen vom Kauf guter und preisgünstiger Tablas ab (der Verkäufer behauptet auf meinen Hinweis, man brauche doch Jahre dafür, diese komplexen indischen Rhythmusinstrumente zu erlernen, das sei kein Problem, ich würde ein Heft mit Anleitung dazu bekommen – so viel Augenwischerei ärgert mich) und wehren einige weitere Führer ab. Der Abschied von Simon wird schwer, lang und länger, und immer schwerer, aber dann verschwindet er auf der Tolstoi Marg und verhandelt mit einem Tuktukfahrer, um nach Hause zu kommen. Tschüs, Indien, Masala-Land! Nachts um eins bringt uns Bihar zum letzten Mal in aller Ruhe zum Ziel: Flughafen.

Montag, 5. April 2010
Mit nur acht Stunden Verspätung kommen wir in Hamburg an, unsere Koffer werden am nächsten Tag nachgeliefert: in Delhi standen wir über drei Stunden auf der Rollbahn, Gepäckprobleme und dann ein Notfall, ein Passagier brach zusammen und es dauerte lange, bis er transportfähig und im Notarztwagen untergebracht war. So verpassen wir die Anschlussmaschine nach Hamburg in Dubai um ca. eine Viertelstunde, und ärgern uns über die Ignoranz, diese Mini-Pause nicht abzuwarten und uns nicht mitzunehmen. Stattdessen sollen wir 24 Stunden später die nächste Maschine nach Hamburg nehmen, man würde uns sogar ein Hotelzimmer spendieren… unverfroren, finden wir, wir haben null Bock auf Hotel am International Airport von Dubai, wir wollen nach Hause, und zwar schnell! Mit etwas Nachdruck erhalten wir einen Platz in der wenige Stunden später startenden Maschine nach Frankfurt und von dort einen Lufthansa-Flieger nach Hamburg. Emirates ist eben auch nur ein Unternehmen mit mehrstufigem Programm zur Abwicklung von Passagier-Bedürfnissen: die erste Dame am Tresen war eindeutig nur dazu da, möglichst viele Gestrandete in ein Hotel zu verfrachten und auf den nächsten Tag umzubuchen. Als ihr das nicht gelang, wurden wir an eine weitere, etwas kompetenter agierende Kollegin weitergereicht, die dann nach endlosen Telefonaten am Ziel war und uns auf eine sechs Stunden später als ursprünglich vorgesehen startende Maschine umbuchen konnte. Alles wird gut.