Mumin: Spiegelung und Entwicklung

 

 

Mumin, ein kleiner, runder finnischer Troll, lebt mit seinen Eltern und einem bunten Haufen großenteils eher wuseliger Freunde im Mumintal, irgendwo hoch im Norden.  Obwohl Mumin irgendwo kein rechtes Alter zu haben scheint und die ganze Szenerie eher in einer Zeitschleife befindlich scheint, ist doch im Verlauf der Geschichten eine Entwicklung zu verzeichnen. Mumin reift, sammelt Erfahrungen, erkundet das Leben. Dabei bleibt er immer er selbst, aber er wird ein anderer. Wie das so ist mit der Entwicklung.

 

Seit hundert Jahren befassen sich Psychologen mit der Entwicklung des Menschen. Die spannendsten und folgenschwersten Entwicklungsschritte macht man in den ersten Lebensjahren. Die Differenzierung der Sinnesqualitäten und der Gefühle, die Sicherung innerer Bilder und der Aufbau erster Beziehungen, der Erwerb der Sprache und der Ausbau der Mobilität sind wesentliche Kapitel dieser ersten Entwicklungsjahre.

 

Für die meisten dieser Schritte benötigt man ein Gegenüber. Ohne Interaktion keine Entwicklung. Zunächst ist diese Interaktion irgendwo doch etwas einseitig. Der Säugling äußert sich, schreit, guckt, lächelt, aber er weiß nicht wirklich, was er da tut. Die Mutter weiß vieles anders oder auch besser, sie antwortet, erklärt, stellt Zusammenhänge her, macht etwas vor. Oft weiß sie auch nicht wirklich, dass sie das tut oder was sie Einzelnen vorhat und anstellt. Aber ihre Spiegelungen sind für den Säugling entscheidende Hinweise und er merkt sich das zunehmend genauer, lernt sich so wahrnehmen und verstehen. Später findet er einen Umgang damit, dass auch andere eigene differenzierte Gefühle haben und eigene Ansichten, und dass es oft gar nicht so einfach ist, sich in den anderen hinein zu versetzen und ihn besser zu verstehen – aber auch herauszufinden, wie der andre mich selbst sieht und versteht.

 

Mumin hat zum Spiegeln nicht nur seine Mutter, die ihn kennt und erkennt und rückhaltlos zu ihm steht. Aber sie ist ein sicherer Rückhalt. Als Mumin  beim Versteckspiel in den Zauberhut gekrochen ist und völlig verändert wieder daraus hervorkommt, erkennt ihn keiner von seinen Spielkameraden, und nach kurzer Zeit droht ihm eine heftige Tracht Prügel (nicht zuletzt deswegen, weil er eine Reihe frecher Sprüche gemacht hatte, ehe er merkte, was los war).

 

Mumin fasste sich verwirrt an den Kopf und erwischte zwei schrecklich große, zerknitterte Ohren. „Aber ich bin der Mumin!“, rief er verzweifelt. „Warum glaubt ihr mir denn nicht?“ (MdG 36f)

 

Und was liegt in einer so verzweifelten Lage näher, als sich an das einzige Wesen zu wenden, auf das sich jeder verlassen kann, in welcher Notlage er sich auch immer befindet, an die Mutter?

 

„Glaubt mir denn niemand?“, rief Mumin aus. „Mutter, schau mich genau an. Du musst doch dein eigenes Muminkind erkennen?“

 

Die Muminmutter sah ihn genau an. Lange blickte sie in seine angsterfüllten Telleraugen und sagte dann ruhig:

 

„Ja, du bist mein Mumin.“ (MdG 37)

 

Gut, eine Mutter zu haben, die einen immer erkennt. Und Spiegeln kann. Oder auch warnen: Als die Familie sich vor dem Hochwasser in ein vorbeischwimmendes Theater gerettet hat, Mumin und Snorkfräulein verlorengegangen sind, dabei auf den Schnupferich mit der kleinen Mü und 24 unterdrückten kleinen Kindern trafen, vom Hemul-Polizisten verfolgt wurden und durch Zufall in die Uraufführung des vom Muminvater in Hexametern verfassten Theaterstücks platzen, greift die Muminmutter ein:

 

Flieht!“, rief die Muminmutter. „Die Polizei ist hier!“ Sie wusste nicht, was ihr Mumin getan hatte, war aber fest davon überzeugt, dass sie damit einverstanden war. (SM 158)

 

 

Wir können festhalten: für alles, was da gespiegelt und entwickelt wird, hat Mumin ein festes Fundament, er ist sicher gebunden. Aber er hat nicht nur seine Mutter, um sich selbst zu erfahren und seinen Austausch mit der Welt zu erweitern.

 

Er hat zum Beispiel seine Freundin, das Snorkfräulein. Er lernt sie kennen, als er sich mit dem Schnüferl auf den Weg zum Observatorium gemacht hat – ein Komet kommt angerast, und sie wollen herausfinden, ob er ins Mumintal stürzt und was man dagegen tun kann. Das Snorkfräulein wird gerade von einem fleischfressenden Busch attackiert und Mumin rettet sie. Als sie auf dem Rückweg vom Observatorium zum Mumintal einen Lanthandel aufsuchen, kauft sie für Mumin eine Medaille,

 

„weil du mich vor dem Giftstrauch gerettet hast.“

 

Mumin war sprachlos und überwältigt. Er kniete nieder, damit das Snorkfräulein ihm die Medaille um den Hals hängen konnte. Der Stern strahlte mit unvergleichlichem Glanz. „Wenn du sehen könntest, wie gut sie dir steht“, sagte sie.Da holte Mumin  den Spiegel hervor, den er hinterm Rücken versteckt gehalten hatte. „Der ist für dich“, sagte er. „Du darfst mich spiegeln“. Während sie einander spiegelten, bimmelte die Ladenglocke...“ KM 108)

 

Sie spiegeln sich: er sieht sich als  Held, als Retter, als bewunderten Mann. Sie sieht sich mit ihren koketten Stirnfransen als schöne und schutzbedürftige Frau. Sie sehen also die Klischees der Geschlechterwerdung, die Konstruktion der Mann-Frau-Rolle. Manche Gender-Forscher mögen einwenden, dieser Spiegel sei allzu konservativ und enge einen mit überkommenen Rollenbildern ein. Vielleicht macht das aber auch nur deutlich, dass es gut ist, sich nicht nur auf einen Spiegel zu verlassen. Dieser Spiegel aus dem lanthandel sieht nicht alles, die Welt ist ein Spiegelkabinett, und aus der Summe der Spiegelbilder baut sich jeder sein Leben.

Bei Mumin mischen sich Spiegel in unterschiedlichen Situationen ein. Als irgendwann im Mumintal der Alltag porös wird und ein wenig bröselig, der Vater nicht mehr weiß, wovor er seine Familie schützen soll und wovor er sie nicht zu schützen braucht, also seine Identität mächtig ins Wanken kommt und er nicht mal mehr an seinem Leuchtturmmodell weiter bauen mag (das seien nur Kindereien, der sie ja gar nicht echt) -  da beschließt die Familie neu anzufangen. Auf der Insel, die auf der Karte im Wohnzimmer nur so klein ist wie ein Fliegenschiss, und alle hoffen, dass sie nicht auch in Wirklichkeit nur ebenso klein ist. Dieses Inselabenteuer ist für Mumin eine wahre Entwicklungsreise. Er begegnet Wesen, die neu für ihn sind und neue Gefühle wachrufen. Diese Gefühle wollen bemeistert sein, und er stellt sich den Anforderungen.

 

Zum Beispiel trifft er die Seepferdchen. Das sind nicht diese kleinen gebogenen Wesen, die zu Myriaden die Weltmeere bevölkern, sondern es sind richtige kleine Pferdchen,  wunderschön anzusehen, und hoffnungslos in sich selbst verliebt. Narzisstische Pferdchen, sehr attraktiv, es gibt sogar etwas wie eine angedeutete erotische Spannung zwischen den Zeilen, ganz ungewohnt.

 

Mit erhobenen Köpfen und fliegenden Mähnen liefen die Seepferdchen über den Sand, ihre Schwänze flossen in langen, glänzenden Wellen hinter ihnen her. Sie waren unbeschreiblich schön und leicht, und das wussten sie auch, sie kokettierten hemmungslos und ganz selbstverständlich – miteinander, mit sich selbst, mit der Insel oder dem Meer, das war alles eins. Ab und zu warfen sie sich ins Wasser, das um sie hochspritzte und im Mondschein Regenbogen bildete, dann liefen sie unter denselben Regenbogen zurück, warfen sich Blicke zu und neigten die Köpfe, um die gebogene Linie ihrer Hälse und Rücken und den Schwung ihrer Schweife zu betonen. Es war, als würden sie vor einem Spiegel tanzen.

 

Jetzt standen sie still und rieben sich aneinander, dabei dachte jedes offensichtlich an sich selbst. Während Mumin sie betrachtete, geschah etwas Komisches, das möglicherwiese ganz natürlich war – er glaubte plötzlich, ebenfalls schön zu sein, er fühlte sich leicht, verspielt und überlegen und lief hinunter zum Sandstrand und rief: “Was für ein Mondschein! Und diese Wärme! Man könnte fliegen!“

 

Die Seepferdchen scheuten, bäumten sich auf und galoppierten davon. Mit aufgerissenen Augen rasten sie an ihm vorbei, die Mähnen strömten hinter ihnen her, die Hufe trommelten in Panik, dabei war jedoch klar, dass das alles nur Spiel war. Ihr Erschrecken war nur gespielt, sie genossen es geradezu, und Mumin wusste nicht, ob er Beifall klatschen oder sie beruhigen sollte. Aber er wurde wieder klein, dick und unförmig, als sie an ihm vorbei ins Meer hinausstürmten. (MI 91f)

 

Mumin verzehrt sich vor Sehnsucht nach den Seepferdchen, geht immer wieder nachts an den Strand. Er identifiziert sich mit den selbstverliebten Wesen, hat Beziehungsfantasien, man könnte meinen, er erliegt einer ersten frühpubertären Schwärmerei.  In seiner Fantasie zum Einschlafen spielt er den einsamen Retter, den Helden (schon wieder):

 

Mumin schob rasch alle Gedanken beiseite und holte stattdessen sein abendliches Spiel hervor. Kurz zögerte er, ob er das Abenteuerspiel oder das Rettungsspiel wählen sollte, doch dann entschied er sich für das Rettungsspiel. Das kam ihm passender vor. Er schloss die Augen und machte seinen Kopf ganz leer. Danach beschwor er einen Sturm herauf. (…)

 

In letzter Zeit rettete Mumin nicht mehr die Muminmutter aus der Seenot, sondern nur das Seepferdchen. Draußen in den Wellen kämpfte also das Seepferdchen. (…)

 

Mumin rettet nicht mehr die Mutter, sondern das selbstverliebte Seepferdchen: er ist eben schon ein großer Junge, der nicht mehr am Schürzenzipfel hängt, sondern anfängt, sich um sich selbst zu kümmern. Er rudert durch den Sturm,

 

aber er verspürte keine Angst! Am Ufer rief die kleine Mü hinter ihm her: „Erst jetzt begreife ich, WIE GROSS SEIN MUT IST! Ach, wie sehr bereue ich alles, jetzt, WO ES ZU SPÄT IST…“ Der Schnupferich biss auf seine Pfeife und murmelte: „SO LEB DENN WOHL, ALTER FREUND…“ Doch Mumin kämpfte sich weiter durch die stürmische See, bis er das Seepferdchen erreichte, das kurz vor dem Ertrinken war – er zog es ins Boot, und da lag es nun inmitten seiner nassen gelben Mähne wie ein Häufchen Elend. Er führte es sicher an einen einsamen Strand und trug es dort an Land. Das Seepferdchen flüsterte: „Du bist ja so mutig. Du hast für mich dein Leben riskiert…“ Da lächelte Mumin nur und sagte: „Hier muss ich dich verlassen. Mein Weg führt in die Einsamkeit, so leb denn wohl.“ (…) An dieser Stelle schlief Mumin ein. (MI 145ff)

 

Mumin begegnet aber nicht nur den völlig beziehungsunfähigen Seepferdchen, er hat auf der Insel auch mit der Morra zu tun. Die ist nun völlig anders. Die Morra ist ein dunkles, in weite Tücher gewickeltes Wesen. Meist sieht man sie nicht, denn sie sitzt im Dunklen und sieht das Licht an, das die anderen in ihren Häusern und auf ihren Terrassen angezündet haben. Die Morra sitzt und guckt, sie verbreitet eisige Kälte und irgendwann schiebt sie sich fort und man hat sie mehr gespürt (oder erlitten)  als gesehen. Mumin kennt sie schon aus dem Mumintal, wo sie ab und an auftauchte.

 

Das Licht der Lampe fiel auf das Gras und den Flieder und kroch schwach zwischen die Schatten, wo die Morra saß und mit sich selbst allein war.

 

Die Morra saß schon so lange auf ein und demselben Fleck, dass der Boden unter ihr inzwischen gefroren war. Als sie sich erhob und näher ans Licht hinglitt, zersplitterte das Gras, als wäre es aus Glas. Ein Flüstern des Entsetzens zog sich durchs Laub, ein paar Ahornblätter rollten sich zusammen und fielen zitternd über ihre Schultern. Die Astern bogen sich soweit sie konnten zur Seite. Die Heuschrecken hörten auf zu fiedeln“ (MI 17)

 

Mumin fragt als erstes natürlich seine Mutter nach ihrer Meinung. Die Muminmutter verurteilt die Morra nicht. Sie habe nie jemandem wirklich geschadet (vielleicht weiß die Muminmutter gar nichts von dem tragischen Ende des Eichhörnchens mit dem buschigen Schwanz, das zumindest vorübergehend der Morra zum Opfer fällt und erfriert. Zunächst war gar nicht davon auszugehen gewesen, dass diese Geschichte ein gutes Ende nimmt, auch wenn es dann zu einer Auferstehung kam).  Aber es mag sie natürlich tatsächlich niemand, sagt die Muminmutter, und da hat sie wohl recht. Mumin versucht sich ein eigenes Bild zu machen. Als die Morra die Familie beobachtet hat und dabei immer näher glitt, hat ihre miese Ausstrahlung irgendwann das Licht der Mumins erlöschen lassen und alle sind schnell ins Haus geflohen. Am nächsten Morgen guckt Mumin nach, wo die Spuren der Morra sind.

 

An der Stelle war das Gras ganz braun. Wenn eine Morra mehr als eine Stunde auf demselben Fleck sitzt, kann dort nie mehr etwas wachsen, der Boden stirbt vor Schreck. Im Garten gab es mehrere solche Stellen, die ärgerlichste lag mitten im Tulpenbeet.“ (MI 21)

 

Mumin versucht die Morra zu verstehen. Er versetzt sich in sie hinein, er spielt ein Rollenspiel, er übt „Mentalisieren".

 

Mumin stellte sich vor, er sei die Morra. Er schlurfte langsam und geduckt durchs tote Laub, er blieb regungslos stehen und wartete und verbreitete dabei Nebel um sich, er seufzte und starrte sehnsüchtig das Fenster an. Er war der Einsamste auf der ganzen Welt.“ (MI 21f)

 

Aber das hat seine Grenzen: er kann die Rolle nur kurz halten, dann überschwemmt ihn wieder sein Mumin-Sein mit den kleinen fröhlichen Gedanken und den Spielen wie „man darf nur auf den Sonnenschein treten“.

 

Als die Familie die Reise mit ihrem Segelboot „Abenteuer“ startet, ahnen sie nicht, dass ihnen die Morra auf den Fersen ist: sie baut sich eine kleine Insel aus Eis und folgt der Familie (Muminvater, Muminmutter, Mumin und die kleine Mü) übers Meer.

 

Mumin lässt der Gedanke an die Morra auch unterwegs nicht los (vielleicht kommt das daher, dass sie ja nicht weit weg ist, ihr Einfluss reicht ziemlich weit). Er spricht mit seiner Mutter:

 

Hat ihr jemand was getan, dass sie so geworden ist?“

 

Das weiß keiner“, sagte die Muminmutter und zog den Schwanz aus dem Kielwasser. „Es ist wohl eher so, dass ihr niemand was getan hat. Ich meine, niemand hat sich um sie gekümmert. Und daran wird sie sich kaum erinnern, geschweige denn, dass sie dauernd darüber nachdenkt. Sie ist wie der Regen oder die Dunkelheit oder ein Stein, um den man herumgehen muss, um seinen Weg fortsetzen zu können...Mit einer Morra soll man nicht sprechen. Nicht mit ihr und nicht über sie. Sonst wächst sie und man kriegt sie nicht mehr los.“ (MI 30f)

 

Als seine Mutter dann ein Nickerchen macht, denkt Mumin weiter nach:

 

Eine Person, mit der man nie spricht und über die man nie spricht, muss sich doch allmählich auflösen und den Glauben daran verlieren, dass sie überhaupt existiert. Er überlegte, ob ein Spiegel die Lösung wäre. Eine Menge Spiegel könnten aus einer einzelnen Morra unendlich viele machen, von vorn und von hinten, vielleicht könnten die vielen sich sogar miteinander unterhalten. Vielleicht...“ (MI 31)

 

In Mumins Gedanken steckt eine erste Idee des Gruppentherapieprinzips: man spricht mit anderen, die Ähnliches kennen und in denen man sich wieder finden kann, Spiegelungsvorgänge.

 

Aber zurück zur Morra und was das mit Mumin anstellt. Sie sind auf dem Weg zur Insel, und hinter ihnen irgendwo die Morra:

 

So trieb die Morra voran, immer weiter in die Morgendämmerung hinein, mit einem Schweif aus Eisrauch im Kielwasser... Sie hatte Zeit. Sie hatte nichts außer Zeit.“ (MI 32)

 

Auf der Insel kommt viel in Bewegung (schließlich sogar die Insel selbst, als sie außer sich vor Angst zum Leben erwacht und vor dem Sturm zu fliehen versucht). Mumin ist ebenfalls in Bewegung. Er entdeckt seinen sicheren Ort. Das kennen wir aus Stabilisierungstrainings, wenn man zu sich selbst finden möchte und in sich auch mal ausruhen: man sucht seinen sicheren Ort, verbindet ihn mit einem Bild, das man dann immer imaginieren und sich darin zurückziehen kann, wenn man es braucht. Um einen sicheren Ort zu finden und aufsuchen zu können, muss man schon eine Menge können: Man muss innere Bilder sichern können, auch von anderen Menschen, also über die Voraussetzung zu Beziehungen und sozialem Beisammensein verfügen. 

 

Bei Mumin ist der sichere Ort eine kleine Lichtung. Sie liegt mitten im Dickicht aus zornigen kleinen Tannen und noch kleineren Zwergbirken, das er zunächst mit der kleinen Mü erkundet hatte, bis sie ihn mit der Behauptung ängstigte,  dieser kleine Wald sei exakt einer, in dem Menschen von knorrigen Wurzeln festgehalten und zur Geisel genommen werden. So weit ist Mumin noch nicht, dass er dieses Hirngespinst sofort durchschaut. Als er es aber kapiert, dass Mü ihn verkohlt hat,  erkundet er das Wäldchen auf eigene Faust und findet seine Insel. Raus aus der kindlichen Äquivalenz-Falle, rein in reifere Stufen der Selbstwerdung, der Individuation: er findet seine Lichtung. Kurze Zeit später zieht Mumin aus dem Insel-Eltern-Haus aus (das ist der Leuchtturm, in den alle eingezogen sind). Er nimmt seinen Schlafsack und die Petroleumlampe und zieht auf seine Lichtung. Aber ganz sicher fühlt er sich denn auch dort erst, als er viele Tage später der Mutter seinen Ort gezeigt hat, so ganz kann er seine Welt noch nicht allein regieren. Nachts geht er immer wieder an den Strand, um dort die Seepferdchen zu beobachten, wie sie selbstverliebt und narzisstisch bis zum Abwinken tanzen und in der Gischt spielen, ihre Mähne leuchtet im Mondlicht und Mumin schläft besser ein, wenn er sein Retter-Spiel spielt: er stellt sich vor, er rettet im heftigen Sturm sein Seepferdchen aus höchster Not und geht dann als kühner Retter seinen einsamen Weg...

 

Bei Mumin beginnen sich Einsamkeit und Selbst-Werdung zu verknüpfen. Das unterschwellig erotische Erleben mit den Seepferdchen endet enttäuschend, aber so ist das mit den ersten Erfahrungen. Die Muminmutter ahnt seinen Weg und sagt lächelnd zum Muminvater:

 

Er weiß selbst nicht, was los ist. Du glaubst immer, er sei noch so klein wie früher.“ (MI 220)

 

Außer den Seepferdchen trifft Mumin bei seinen nächtlichen Strandgängen die Morra. Zunächst ahnt er sie nur, der Hauch ihrer Einsamkeit liegt über der Insel, dann sieht er sie draußen auf dem Meer oder den Klippen sitzen und herüberstarren. Das Licht der Petroleumlampe, denkt er, das zieht sie immer an, wenn wir Licht machen. Aber am Ende ist das Petroleum alle, der ganze Vorrat aufgebraucht bei seinen nächtlichen Entwicklungsgängen, und er geht noch einmal an den Strand ohne das Licht, etwas bang, ob die Morra nicht einfach uninteressiert wegbleibt, wenn er kein Licht mehr zu bieten hat. Aber sie kommt, kommt sogar näher denn je, sie strahlt keine Kälte aus und freut sich ihn zu sehen (das merkt man an ihrem Tanz), und Mumin hat eine neue Freundin. Das würde er nie so sagen, seinem Vater teilt er nur mit:

 

Hör mal, Vater, ich hab am Sandstrand was zu erledigen. Muss eine meiner Bekannten treffen.“ (MI 223)

 

Was soll man sonst auch sagen, wenn man selbst noch nicht so genau weiß, was einen da hin zieht, warum man so ein Gefühl von innerem Ziehen und Zerren hat, und warum das so spannend ist, in diesem Wechsel von Zusammensein und Getrenntheit zu leben? Das ist Pubertät, und Mumin wird groß. Das Snork-Fräulein mit den entzückenden Stirnfransen wartet auf ihn, und er ist den Wagnissen großer Beziehungen gewachsen, die auf ihn zukommen, weil er die Geborgenheit der Zugehörigkeit (die er als Kind so schützend kennengelernt und verinnerlicht hat) mit der kühlen Klarheit der Einsamkeit in seinem Inneren zusammengebracht hat. Man nennt das Ambivalenz: abhängig sein in Beziehungen steht im fortwährenden Widerstreit mit der Unabhängigkeit, in der man ohne viele Rücksichtnahmen und Einschränkungen sich ungehemmt selbst verwirklicht. Die Abhängigkeits- Unabhängigkeitsschaukel begleitet uns unser ganzes Leben, immer wieder gaukelt uns der eine der Pole vor, er sei der wahrhaft erstrebenswerte.

 

 

 

Die Zitate stammen aus den Büchern

 

Janson, T. (1954): Sturm im Mumintal. Arena Verlag Würzburg (2006) SM

 

Jansson, T.  (1954): Mumins wundersame Inselabenteuer. Arena Verlag Würzburg 2003 MI

 

Jansson, T. (1968): Komet im Mumintal. Arena Verlag Würzburg 2002³ KM

 

Jansson, T. (1948): Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft. Arena-Verlag Würzburg 2008 MdG

 

(27. Juni 2013)