Übersicht

 

- Tod und Musik bei Orpheus (2005)

Gemeinsamer Workshop mit Theo Piegler auf der Jahrestagung 2005 der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention in Hamburg. "To be or not to be, that is the question"  - es ging um filmische und musikalische Be- (Ver-) Arbeitungen von Suizidalität. Hier mein Beitrag, der sich mit Orpheus und den Grenzen der (musikalischen) Bemeisterung auseinandersetzt (leider ohne Overhead-Folien und Klangbeispiele).

 

- Neugier und Ent-Fremdung (2008)

Rezeptive Musiktherapie, Psychoanalyse, Globalisierung. Unveröffentlichtes Manuskript.

 

- Musikalische Reise. Rezeptive Musiktherapie zur Begegnung mit Fremdheit und Eigenheit

 

- Kleinigkeiten zur rezeptiven Musiktherapie und einzelnen CD


Tod und Musik: Orpheus oder die Grenzen der (musikalischen) Bemeisterung


1.)Vorbemerkung

Die Psychoanalyse hat sich mit Musik, ihrem Wirken und ihren Wirkungen wenig befasst. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass sich schon FREUD zurückhaltend gegenüber der Musik geäußert hat. In seiner kleinen Schrift „Der Moses des Michelangelo“ (1914) beschreibt er seinen Zugang zu Werken der bildenden Kunst. Um ein Kunstwerk zu begreifen, ist ihm wichtig, lange vor ihm zu verweilen. Wenn er in der Betrachtung Sinn und Inhalt des Werkes herausfinden kann, „also es deuten“ kann, versteht er auch, „warum ich einem so gewaltigen Eindruck unterlegen bin“. Bezüglich musikalischer Werke sträubt es sich in ihm „dagegen, dass ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum ich es bin und was mich ergreift“ (S.197 f). Das Flüchtige und Ephemere irritiert ihn und ruft Widerstände und Befremden hervor.

Dennoch haben Psychoanalytiker nach FREUD sich damit beschäftigt, diesem Ergriffensein nachzuforschen. HAESLER hat 1991 den Stand von fast hundert Jahren psychoanalytischer Musikforschung zusammengefasst. Auf dieser Grundlage werden wir uns zwei musikalischen Werken zuwenden, die sich mit dem Thema Tod so direkt oder indirekt auseinandersetzen, wie es der musikalischen Sprache eigen ist. Das ist zum einen die Oper „Orpheus und Eurydike“ von Christoph Willibald Gluck. Sie bringt den Mythos von Orpheus zum Klingen: die Trennung, die Not und Verzweiflung sowie den Versuch, sie zu überwinden. Zum anderen ist es das Klavierquintett von Alfred Schnittke, in dem er den Tod seiner Mutter wie auch seines Musiker-Vaters Schostakowitsch bearbeitet. Dabei blicken wir auf den Mythos des Orpheus, auf die Komposition Glucks und auf die biografischen Hintergründe Schnittkes. Ausschnitte aus den Musikstücken sollen die vorgetragene Argumentation erlebbar machen.


2.) Psychoanalytische Aspekte von Musik und Musikhören: Psychodynamik und historischer Hintergrund

HAESLER weist darauf hin, dass wesentliche Muster musikalischer Formen und Strukturen große Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit primärprozesshaften Vorgängen aufweisen, wie sie zum Beispiel auch in Träumen auftreten. Dazu gehört die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Elemente, die es im Traum wie auch in der musikalischen Disharmonie gibt, die Veränderung zeitlicher Abläufe in Verkürzung und Verdichtung oder auch die Umkehrung (musikalisch hörbar in der Form des „Krebs“). Susanne Langer weist darauf hin, dass sich Musik viel stärker einer präsentativen Symbolisierung bedient als der traditionellen diskursiven Logik. Das verdichtet sich in dem Bild, dass in der Folgerichtigkeit und Linearität diskursiver Logik die Wäsche auf der Wäscheleine nebeneinander hängt – aber getragen wird sie übereinander. Musik trägt alles Mögliche übereinander, und zwar gleichzeitig, und man kann alles wahrnehmen, d.h. hören.

Die strukturellen Gebärden des Komponierens treffen beim Zuhörer auf bewusste, vorbewusste und unbewusste Dimensionen des Hörvorgangs. Dabei dürften psychodynamisch die unbewussten Vorgänge eine besondere Rolle spielen. Sowohl libidinöse als auch aggressive Spannungen werden zum Klingen gebracht und finden ihren Ausdruck und ihre Abfuhr in der Musik. Diese dynamischen Aspekte gehören häufig zu den unbewussten Phänomenen. Intrapsychische Besetzungen können durch Musik verändert und verschoben werden. Daraus können sich stabilisierende, aber auch konfliktverschärfende Wirkungen ergeben.

Großes Gewicht haben die strukturellen Aspekte sowohl in der Schöpfung musikalischer Werke als auch in der Rezeption der Musik.

- Es-Aspekte finden sich in der Abfuhr von Triebenergien: der musikalische Genuss als Ohrenschmaus oder gar Rausch kann dazu dienen, sich „in Stimmung“ bringen zu lassen – und das können ganz unterschiedliche Stimmungen sein.
- Ich-Aspekte finden sich in der musikalisch-spielerischen Bemeisterung und Bewältigung von Lebensaufgaben: KOHUT versteht Musik als Weiterentwicklung primär feindlich erlebter Geräusch- und Lärmreize. In der gezielten Aneignung und Gestaltung des Klangs geschieht ein konstruktiver Prozess der Emanzipation von einer bedrohlichen Umwelt.
- Die Bedeutung von Regeln und Ordnungssystemen im kommunikativen Prozess wird als in der Musik erlebbar und stellt den Über-Ich-Aspekt musikalischer Gestaltung dar.

Nach diesen Stichworten zu psychoanalytischen Dimensionen des Musikerlebens nun einige Bemerkungen zur Musik in der griechischen Mythologie. Hier gibt es zwei Hauptwurzeln musikalischen Ausdrucks: die apollinische, von Hermes erfundene Kithara (Leier) und den dionysischen, von Pallas Athene erfundene Aulos (Flöte).

Die Leier , Instrument des Zusammenklangs und damit der kosmischen Ordnung, wurde begleitet vom Gesang. In griechischen Versen war der sprachlich-rhythmische Körper festgelegt und erlaubte keinen subjektiven Ausdruck, aus dieser „musiké“ genannten Sprach-Klang-Kombination entwickelte sich sowohl das Klangbild der Musik als auch die Prosa-Sprache. Die apollinische Klangrede mittels Leier und Gesang ist also eine Einheit aus Ton und Wort, die Erkenntnis und Eingebundenheit in das Weltganze, die göttliche Ordnung ausdrückt.

Ganz anders der Aulos, entstanden aus dem wehklagenden Klang des Atems über abgebrochenen Schilfhalmen (vgl. OVID S. 31f). Die Flöte diente dem Ausdruck menschlicher Gefühle wie Sehnsucht und Verlangen, sexueller Strebungen und Versagungen. Sie fand sich wieder in den rauschhaften Kulthandlungen zu Ehren des Dionysos, der für Fruchtbarkeit und Ekstase stand.


3.) Mythos und Geschichte des Orpheus

Historische Quellen weisen darauf hin, dass Orpheus sich mit den ägyptischen Totenkulten vertraut gemacht hat (LEIKERT 2001, 1288f). Mit seinem Gesang, den er auf der vom väterlichen Vorspieler Apollon erhaltenen Leier begleitet, bezwingt er die Sirenen, besänftigt Sturm auf dem Meer und wilde Tiere auf dem Lande. Sogar Steine und Felsen kann er bewegen. Seine Herkunft (wohl von der Muse Kalliope und Apollon) und sein Instrument, die Leier, weisen ihn aus als einen Mann der Ordnung, des Maßes und der Besinnung. Wir hören als Einstimmung eine neuere Vertonung der Orpheus-Thematik an. Der Gitarrist Steve Hackett hat in den siebziger Jahren in der Rock-Gruppe Genesis mitgespielt, ehe er klassische Gitarre und Komposition lernte und jetzt 2004 eine CD mit dem Titel „Metamorpheus“ herausbracht. Die Geschichte des Orpheus beginnt vor dem Kampf um oder mit Eurydike: er gewinnt mit Iason und seinen Helden auf der Argon das goldene Vlies. Auf dieser abenteuerlichen Fahrt tauchen schon verschiedene Themen auf, die später den Kern seiner Geschichte bilden. Auf der Fahrt ordnen die Argonauten die Angelegenheiten in Lemnos, wo die Frauen aus Rache alle Männer vertrieben haben und nun männerlos dem Untergang geweiht wären, wenn nicht die Argonauten ihnen aus der Verlegenheit helfen würden. Dann kämpfen die Helden die erdgeborenen Riesen der Bärenhalbinsel am Marmarameer nieder, geraten aber durch diese Tat in einen Riesenirrtum und töten ihre freundlichen Gastgeber in nächtlicher Verkennung von Freund und Feind. Die frisch vermählte Kleite verliert so ihren Gemahl, der der König des gastgebenden Reiches war, und erhängt sich. Die Nymphen beweinen sie und aus ihren Tränen entspringt die Quelle Kleite.

Auf der Suche nach dem Vlies befragen die Argonauten den blinden Seher Phineus, der von Apollon die Sehergabe erhalten hat, von anderen Göttern aber mit Blindheit geschlagen und durch die Harpyen gequält wurde. Die Argonauten verjagen diese geflügelten Quälgeister und nehmen ihnen das Versprechen ab, Phineus in Ruhe zu lassen. „Sterben konnten sie nicht, denn auch sie gehörten zur Ordnung der Natur“ (KERENYI 1966, S. 206). Das Vlies erringen die Helden, indem sie dem von Phineus gewiesenen Weg in den Hades folgen. Dort finden sie es von einer Riesenschlange bewacht. Iason muss in den Rachen der Schlange und einen vorübergehenden Tod erleiden, aus dem er nur durch göttlichen Beistand wieder erwachen kann. Mit Hilfe seiner unsterblichen Helferin Medeia gelingen Flucht und Heimkehr, allerdings um einen schauerlichem Preis: Medeia lenkt den Verfolger ab durch Mord und Zerstückelung seines Kindes, das er dann wieder zusammensetzen und zu neuem Leben erwecken kann, aber die Argonauten sind nun längst weg. Medeia ist die Herrin des Jenseits, die „aus Tötung und Zerstückelung Neugeburt und Verjüngung bewirken“ kann (S. 216).

Orpheus reiht sich ein in die Gruppe der griechischen Heroen wie Iason, Anführer der eben beschrieben Heldentat, wie Herakles oder Theseus. Im Gegensatz zu ihnen unternimmt er seine heroische Fahrt nicht um eines ideellen Wertes willen, nicht um der Macht, des eigenen Ruhmes oder desjenigen der Götter wegen, sondern wegen einer Frau, seiner Geliebten Eurydike. Es geht um ein Beziehungsgeschehen. Der frisch vermählten Eurydike stellt ein göttlicher Nebenbuhler ihres Gatten Orpheus nach, sie flieht, stürzt und wird von einer Schlange gebissen. Als Orpheus hinzukommt, ist sie schon in den Hades entrafft. Er folgt ihr, singend, ins Reich der Toten. „Während Orpheus sang, bellte der Kerberos nicht. Ixions Rad blieb stehen. Tityos’ Leber wurde nicht zerfleischt. Die Töchter des Danaos hörten mit dem vergeblichen Wassertragen auf. Sysiphos setzte sich auf seinen Stein. Tantalos vergaß Hunger und Durst. Die Erynien staunten, und die Totenrichter weinten. Es weinte die grenzenlose Schar der Seelen, die sich um Orpheus versammelt hatte“ (S. 222f). Niemanden blickt Orpheus an, wie es das Gesetz der Unterirdischen seit je forderte. Und betont wird ausdrücklich, dass er seine Geliebte nur unter der Bedingung in die Welt zurückgeleiten darf, dass er sich auch auf dem Weg zurück nach oben nicht nach ihr umblickt. Er tut es aber dennoch - aus Liebe? Aus Neugier? Aus Sorge? Oder ist es Wahnsinn? Wie auch immer, dreimal ertönt der donnernde Ruf des unabänderlichen Schicksals, und Eurydike ist für immer im Totenreich verschwunden. Orpheus versucht ihr erneut zu folgen, aber sein Gesang hilft ihm nicht mehr. Sieben Monate trauert er, umgibt sich fürderhin mit Jünglingen und lehrt sie das orphische Leben. Letztendlich aber überlebt er nicht lange: die thrakischen Bacchantinnen (Mänaden) zerreißen Orpheus im Rausch, sein Kopf und die Leier schwimmen den Fluss hinab und der Wind streicht über die Saiten der Leier, die später als Sternbild an den Himmel gesetzt wird.

Soweit die Geschichte des Orpheus, wie sie sich aus den verschiedenen Zeugnissen aller Wahrscheinlichkeit nach rekonstruieren lässt. „Der Mythos sucht ..das Geschehen in seiner psychischen Bedeutsamkeit zu erfassen und auf eine reduzierte erzählbare Form zu verdichten“ (LEIKERT 2001, S. 1288). Es geht also darum, wie die ordnende, männliche, Leier spielende, weltliche Kraft sich dem weiblichen, genuss- und rauschhaften, in die Unterwelt führenden Prinzip stellt und unterliegt. Wir begegnen der These, dass Musik den Gegensatz zwischen väterlicher Macht und mütterlicher Sehnsucht ausdrücken und auch integrieren kann. Dieser Gegensatz kann tödlich sein, wie an einer kleinen Fallvignette illustriert werden soll.


4.) Fallskizze: Herr A. und seine Brüder

Herr A. ist ein gut aussehender junger Mann, der zu uns in die Klinik kommt, weil er zuhause suizidale Impulse äußerte und vom Balkon springen wollte. Seine Ideen scheinen teilweise misstrauisch-wahnhaft gefärbt zu sein. Herr A. ist als jüngstes von acht Geschwistern im Iran geboren, spricht aber fließend deutsch und hat nach seinem Abitur kürzlich ein Studium der Medienwissenschaften begonnen, aber nach kurzer Zeit abgebrochen.

Nachdem seine zum Teil erheblich älteren Brüder aus politischen Gründen den Iran hatten verlassen müssen, hatte er als Neunzehnjähriger ebenfalls auf dem Landweg die Flucht angetreten und ist auf abenteuerlichen Wegen in die Türkei und von dort nach Deutschland gekommen. In Hamburg haben seine Brüder in der Zwischenzeit mit großer Tüchtigkeit ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, in dem Herr A. aushilft, bis er dann ein Studium beginnt, das thematisch vom Tätigkeitsbereich seiner Brüder möglichst weit entfernt ist. Wenn er die Isolation im Studium und im Studentenwohnheim zu stark erlebt, kifft er – zeitweise ist das nahezu täglich. Dann bricht er das Studium ab, weil er gar nicht mehr weiter kommt. Seine Brüder besorgen ihm eine eigene Wohnung, nachdem er durch den Studienabbruch sein Zimmer im Studentenwohnheim räumen musste. Er kann nicht herausfinden, wie er seine eigene neue Wohnung einrichten soll.

In der Klinik schwankt Herr A. einerseits zwischen Entlassungswünschen, weil er so viel zu erledigen habe und es keinen Sinn mache, sich zu verstecken, und dem Wunsch nach Geborgenheit. Im Streben nach Autonomie folgt er den meist überaus väterlich agierenden Brüdern und ihren Vorschlägen, das Leben anzugehen. Sie decken aber gleichzeitig auch mütterliche Seiten ab und kümmern sich fast rührend und nach bestem Wissen um ihren Bruder-Sohn. Hier fühlt er sich rat- und hilflos und sucht nach einer Lebendigkeit, die er nicht spürt. Er bittet, ja bettelt um Ratschläge, um fürsorgliches An-die-Hand-genommen-werden. Hierin liegt ein verzweifelter Versuch, die Mutter wieder zu erlangen, die er mit dem Vater im Iran zurückließ und die in seinen Erinnerungen und den Therapien explizit so gut wie nie auftaucht: Er hat sie gelöscht, so wie er seine Sehnsucht nach Bindung an die mütterliche Fürsorge zu löschen versucht. Er tut alles, um sich nicht umzudrehen. Seine Brüder füllen in einem gemeinsamen Gespräch den Raum mit ihren schweren Lederjacken über muskulösen Körpern und mit ihren wohlwollenden Ratschlägen so aus, dass wenig Raum für Herrn A. und mich bleibt. Herr A. ist im Umgang immer freundlich, seinen Ärger äußert er nur, wenn er über sein unglückliches Schicksal klagt.

An einem Donnerstagmorgen verlässt Herr A. die Klinik, weil er mit den Fernmeldetechnikern über den Telefonanschluss in seiner Wohnung sprechen will. Von dort aus will er sich dann nachmittags in der Stadt den Mitpatienten zu einem Ausflug anschließen. Stattdessen geht er zum Zeitpunkt dieser Verabredung zu einer nahe gelegenen Bahnbrücke, springt vor einen S-Bahnzug und ist sofort tot. Er wird im Iran bestattet.

Herr A. kann den Beziehungsverlust zu den Eltern nicht verwinden, den er am stärksten da spürt, wo er seine Mutter sucht. Der Vater wird besser vertreten durch die großen Brüder, die ihn auch schon im Iran mehr erzogen haben als der echte Vater, der bei seiner Geburt schon über 50 Jahre alt war. Einer seiner Brüder ist auf der Flucht vom Dach gestürzt und sitzt seitdem im Rollstuhl. Herr A. kann durch seine Brüder, durch die männliche Einsicht in die Notwendigkeiten der Welt nicht am Leben gehalten werden. Er stürzt in den Tod.

 

5.) Orpheus und Eurydike

Der Orpheus-Mythos hat viele Komponisten zu musikalischen Stücken angeregt: allein im letzten Jahrhundert schrieb Strawinsky ein Ballett, Dessau eine „Funkoper“ im Sinne eines musikalischen Hörspiels, Phil Glass eine Oper nach dem Film „Orphée“ von Jean Cocteau, Lachenmann ein Streichquartett „Reigen seeliger Geister“ und der Düster-Rocker Nick Cave veröffentlichte mit den „Bad Seeds“ ein Album zum Thema. Zu den bekanntesten unter hunderten von Werken um und mit Orpheus gehört die Oper von Christoph Willibald Gluck.

5.1.) „Orfeo ed Euridice“ von C.F. Gluck

1762 wird Glucks „Orfeo“ erstmals aufgeführt. Die Oper beschränkt sich auf drei Personen (Orpheus, Eurydike, Amor) sowie Chor und Ballett, die das Geschehen kommentieren und auch darauf Einfluss nehmen. Alle drei Rollen sind mit Frauenstimmen besetzt. Die Handlung setzt ein nach dem Tod Eurydikes: Im ersten Akt klagt Orpheus und erweicht die Herzen der Götter, die ihm erlauben, Eurydike zurückzuholen – aber ohne sich zu ihr umzusehen. Im zweiten Akt betritt Orpheus die Unterwelt und besiegt mit seinem Gesang die Furien, die ihm den Eintritt verwehren wollen: er nähert sich Eurydike und ergreift ihre Hand, ohne sie anzusehen. Im dritten Akt sind die beiden auf dem Wege zurück zur Erde, aber Eurydike bestürmt ihren Geliebten, sie anzusehen, wenn er sie noch liebe. Er leistet Widerstand, sieht sich aber letztendlich doch zu ihr um und verliert seine Geliebte ein zweites Mal.  Glucks Textdichter Calzabigi rettet dann Orpheus vor dem drohenden Suizid, indem Amor die Liebenden zu einem glücklichen Ende vereinen darf. In einer später entstandenen, entharmonisierten Fassung weicht das strahlende C-Dur-Finale einem Schluss, in dem beide Liebenden dem Hades verfallen (vgl. WESTERMANN / SCHUMANN 1957).

5.2.) Orpheus und Eurydike – eine psychoanalytische Opernstudie

In seiner psychoanalytischen Reflexion der psychodynamischen Abläufe in Glucks „Orfeo“ richtet OBERHOFF (1999) seinen Blick auf die Bedeutung des Verlustes, den Orpheus im ersten Akt beklagt. Orpheus’ omnipotentes, magisches Denken und seine verzweifelte Entschlossenheit, den existenziell bedrohlichen Verlust rückgängig zu machen, betrachtet er als Szene aus früher Kindheit, in der der Orpheus-Säugling „weint und schreit“, um die Verbindung zum geliebten, gebrauchten Objekt wieder herzustellen. In Glucks Oper beginnt der erste Akt mit der der Klage der Nymphen und Hirten, die Orpheus nur mit seinem Schrei nach Eurydike unterbricht: mutterseelenallein.

Die Qualen des Orpheus, die im zweiten Akt ausführlicher geschildert werden, erinnern nach OBERHOFF an die archaischen Qualen, die WINNICOTT dem Erleben des noch so ich-schwachen Säuglings zuordnet: ständig drohen „Zusammenbrechen, unaufhörliches Fallen, keine Beziehung zum Körper, keine Orientierung“. Nur die liebende Beziehung (sei das die Mutter oder, wie bei Orpheus, die Geliebte) kann aus den Verlassenheitsängsten retten.

Wir begegnen einem weit verbreiteten Muster: es finden sich nämlich innere Regungen im Mythos und in der Musik (wie auch im Säugling) als Veräußerungen wieder. Die Wut und der Hass des bedrohten Orpheus werden personifiziert in den Furien, die ihm den Zugang zur Unterwelt verstellen wollen. Der Orpheus-Säugling wird mit diesen Affekten allein nicht fertig, sie drohen ihn zu zerreißen. Der Säugling braucht zur Bemeisterung solcher Zustände den Trost einer fürsorglichen Mutter. Orpheus hat in der konkreten Situation seine Geliebte nicht zur Seite und kann keinen Trost von ihr erhoffen. Er hat nur seine Musik, hat seine Leier. Mit ihr besiegt er die Furien, indem er die apollinische Macht der ordnenden Leier dem dionysischen Rausch der Mänaden entgegensetzt. Apollo und Dionysos stellen mit Leier und Flöte zwei musikalische Prinzipien in die Welt. Der subjektive Affekt beherrscht das Blattinstrument Flöte (aulos), die Bewältigung, der Zusammenklang und die spielerische Bemeisterung gehören der Leier (kithara) zu. Orpheus hat in der Musik also ein Drittes, das seiner Ich-Stärkung dient und widersteht so der Überwältigung durch hass- und wutdominierte, aggressive Es-Strebungen.

In Glucks Oper tritt dann nach der narzisstisch-vollkommenen Harmonie des „Reigens seliger Geister“ und der Erlösung Eurydikes aus dem Schattenreich ein neues Moment auf, dass in historisch-mythologischen Quellen so nicht beschrieben war. Auf dem Wege hinauf zur Erde entwickelt sich eine zunehmend aggressive Spannung zwischen Orpheus und Eurydike. Sie zieht ihre Hand zornig zurück, beschimpft Orpheus als „Verräter“ und „Treulosen“. Wird er sie ein zweites Mal verlieren, wird sie ihn verlassen? Die Spannung überrollt ihn, nimmt die Gestalt von Körperempfindungen an und explodiert in manifester Zerstörungswut: Orpheus dreht sich um und tötet damit Eurydike endgültig.

OBERHOFF beschreibt den Vorgang der projektiven Identifikation, mit dem Orpheus seine aggressiven Impulse in Eurydike verlegt. In entflammtem Zorn singt sie in der Arie „Que fiero momento“: „Welch bitterer Augenblick, welch grausames Schicksal, dem Tod zu entfliehen nur um so viel Schmerz wieder zu finden!“ Die projektive Identifikation stellt eine enge Bindung zwischen den Beteiligten her, wobei die „Zielperson“ des ausgestoßenen Affektes die Aufgabe hat, diesen Affekt zu integrieren und zu entschärfen. Tut er dies nicht, kann es zu massiven Wutimpulsen gegenüber dem Objekt bis hin zu Todeswünschen kommen.

Eurydike integriert nichts, sie ist nicht mehr nur das besänftigende und geliebte (nur) gute Objekt, dem das Böse mit seinen dunklen, aggressiven Kräften in Gestalt der Furien gegenüber steht. Sie ist die Mutter, die neben den guten und nährenden Seiten auch abweisende und frustrierende Seiten präsentiert, und dafür hasst Orpheus-Kind sie und fühlt sich schuldig an ihrem „Tod“. Ihm selbst bleibt nichts als sich ebenfalls zu töten. Seine narzisstisch-symbiotische Eingebundenheit in die Objektbeziehung lässt keine konstruktive Weiterentwicklung in Form der Wiedergutmachung zu, die sonst einen entwicklungs-psychologischen Ausweg aus dem drohenden Objektverlust bieten kann.

Erst in der Arie „Que faro senza Euridice“ hört OBERHOFF eine Lösung anklingen. Die helle, in C-Dur strahlende Arie bezeichnet einen Hoffnungsschimmer, indem Orpheus sich eine neue, narzisstisch vollkommene Eurydike schafft. Sie ist nicht real, sondern sie ist Musik und nichts als Musik. Die klingende Idealisierung genügt ihm als Selbst-Objekt und füllt sein Leben aus, so dass er sich später keiner Frau mehr nähert, wie der Mythos sagt. Allerdings ist es keine tragfähiger, stabiler innerer Zustand, sondern OBERHOFF versteht die scheinbar konstruktive Wiedergutmachung als manische Abwehr der Hilflosigkeit und Ohnmacht, durch die sich Orpheus vom Objekt zu emanzipieren versucht, aber immer wieder zwischen den manischen Aufwärtsschwüngen der Melodie in depressive Schuldgefühle versinkt.

Ob sich Orpheus selbst das Leben nimmt oder eine Extrojektion in Gestalt der Mänaden ihn tötet, ist nicht entscheidend. Das wichtigste ist die Unmöglichkeit, im Zustand der Getrenntheit weiter zu existieren, den Verlust der symbiotischen Verschmolzenheit also nur mit dem eigenen Untergang beantworten zu können. Eine innere Repräsentanz des geliebten Objekts, die es auch nach der Trennung oder dem Tod weiter leben lässt, kann nicht geschaffen werden und so gibt es auch keine gelungene Integration von guten und bösen Teilrepräsentanzen, gibt es keine Individuation und kein Überleben.


6.) Alfred Schnittke und der gefühlte Verlust

Mit einem gewaltigen Sprung begeben wir uns aus der griechischen Mythologie und aus der Musik des 18. Jahrhunderts in die Gegenwart. 1934 wird Alfred Schnittke in Engels an der Wolga geboren. Seine Mutter ist Lehrerin, die Familie deutschstämmig. Als Zwölfjähriger lebt Schnittke für drei Jahre in Wien und erhält dort Musikunterricht, er wird sich zeitlebens nicht in die russische Musikkultur einpassen (auch wenn der hier in Russland ambivalent verankerte Schostakowitsch für ihn große Bedeutung hat) und lebt weitgehend von den Filmmusiken, die er komponiert.

Schnittke ist 38 Jahre alt, als 1972 seine Mutter in Moskau an einem Schlaganfall sozusagen „plötzlich und unerwartet“ verstirbt. Er verarbeitet die Trennung in seinem Klavierquintett, dessen spätere Orchesterbearbeitung er „In memoriam“ nennt. Er bezieht sich mit dieser Benennung gleichzeitig auch auf den Tod seines musikalischen Orientierungspunktes Schostakowitsch, der 1975 stirbt. Es fällt auf, dass Schnittke seinem 190 Stücke umfassenden Werkeverzeichnis zufolge nur für wenige Kompositionen mehr als ein Jahr Kompositionszeit benötigte. Das Klavierquintett brauchte ganze vier Jahre, ehe es fertig war – mehr als die Opern, Sinfonien und anderen großen Werke. Er hat es sich abgerungen.

Der erste Satz des Quintetts war schnell fertig. Er „ist wie eine mild leuchtende Erinnerungsspur“ (JUNGHEINRICH 2003). Ein Fünftonmotiv wird vom Klavier eingebracht und von den Streichern aufgenommen, der Satz klingt mit einem 96fach wiederholten „gis“ aus, bis er verlischt. Diese trauernde und intensiv gefühlte Erinnerung richtet das verlorene Objekt im Inneren wieder auf. Schnittke blickt zurück, sich dabei von seiner bisher angewendeten eher seriellen Kompositionsweise lösend, hin zu einer Komposition des puren Ausdrucks von Trauer. In den drei folgenden Sätzen wallt eine innere Bewegung auf, die sich stärker mit der eigenen Person des Trauernden verknüpft, seiner Einsamkeit und seinem Schmerz. Die hier aufklingenden Dissonanzen passen zu dem auch mythologisch bedeutsamen Begriff „furios“ – wie von Furien gejagt und bedroht. Im fünften und letzten Satz dann gibt ein wiederkehrendes Klaviermotiv der Situation ihre endgültige, stabile und klare Form. Hier hört man, wie das Klavier die Vierteltonklage der Streicher in seine tonale Sicherheit führt. Ein Trauerprozess ist vollzogen. Schnittke hat den Blick zurück, die inneren Stürme und das wieder gefundene Gleichgewicht zu einem Abschluss bringen können.

Nur nebenbei sei bemerkt, dass Schnittke selbst 1985 einen ersten und in der Folge vier weitere Schlaganfälle erlitt, ehe er 1998 in Hamburg verstarb.



7.) Zusammenfassung und Schluss

Die psychoanalytischen Ideen, die OBERHOFF zum Orpheus-Mythos und seiner musikalischen Ausgestaltung durch Christoph Willibald Gluck vorstellt, und die Anmerkungen zur Bewältigung einer Verlusterfahrung durch Alfred Schnittke stellen zwei Beispiele dafür dar, wie man sich dem Themenkreis „Kulturelle Verarbeitung von Tod und Verlust“ nähern kann.. Andere Beispiele könnten hier mindestens ebenso eindrücklich daneben gestellt werden: die Erläuterung von Trauerprozessen und Melancholie anhand des Orpheus-Mythos durch E. HAAS beispielsweise, Überlegungen von LEIKERT zur Musikerfahrung an ebenjenem orphischen Beispiel, usw. Bei dieser Annäherung an ein Thema kann es natürlich nicht um Vollständigkeit gehen. An nur zwei Beispielen wird der Zugang zum Themenkreis Musik – Tod – Beziehungsverlust versucht. Der kulturelle Hintergrund spielt sowohl bei der Musik als auch bei Orpheus eine entscheidende Rolle, beide Male geht es um vor- oder übersprachliche Phänomene, um Mythos und Menschenleben. Auch Schnittke lebte ein kulturell eingerahmtes Stück Heimatsuche zwischen Wolga und Elbe, zwischen Mutter und Musik.

In den behandelten Beispielen geht es um die Bedeutung der Identität, wie sie sich aus Erfahrungen von Vertrautheit und Trennung, von Begegnung und Verzicht entwickelt. Insofern handelt es sich bei allem, was hier angesprochen wurde, um Aspekte einer Schnittstellenproblematik zwischen Subjekt und Welt, um ein Beziehungsgeschehen. Die Beziehung zu mir selbst, die nicht gedacht werden kann ohne die Vorgeschichte der Beziehungsentwicklung mit primären und sekundären Objekten, wird durch den herben Verlust an Objekt und Welt auf eine existenzielle Probe gestellt. Herr A., von dem oben berichtet wurde, hat auch an der Gruppenmusiktherapie teilgenommen. Es hat ihn nicht gerettet (wenn diese etwas omnipotent anmutende Feststellung erlaubt ist). Orpheus hatte seine Leier. Jetzt steht sie als Sternbild am Himmel. Und fest steht: Die Musik als Himmelsmacht rettet den Menschen nicht, zumindest nicht ohne weiteres. Und doch nimmt sie erheblichen Einfluss. Frau B. hörte kürzlich in der Rezeptiven Gruppenmusiktherapie den hier soeben gespielten ersten Satz aus SCHNITTKES Klavierquintett. Sie begann zu weinen und erklärte, sie müsse sich einfach mehr um ihre Eltern kümmern. Ohne Vorinformationen über das Stück hatte sie den Komponisten verstanden. Manchmal hilft das bei der Bemeisterung des Lebens.


Literatur

Freud, S. (1914): Der Moses des Michelangelo. Studienausgabe Band X S. 195-220. Frankfurt am Main: S. Fischer 1969

Haas, E. (1990): Orpheus und Eurydike. Vom Ursprungsmythos des Trauerprozesses. Jahrbuch der Psychoanalyse Bd. 26; 230-252

Haesler, L. (1991):Zur Psychoanalyse der Musik und ihrer psychodynamischen und historischen Ursprünge. Jahrbuch der Psychoanalyse Bd. 27; 203-223

Jungheinrich, H.A. (2003): De profundis. Booklet zur CD „Lento“ – Alfred Schnittke: Klavierquintett. ECM

Kerenyi, K (1966): Die Mythologie der Griechen. München

Langer, S. (1984): Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt am Main S. Fischer

Leikert, S. (2001): Der Orpheusmythos und die Symbolisierung des primären Verlusts: Genetische und linguistische Aspekte der Musikerfahrung. Psyche 55: 1287-1306

Oberhoff, B. (1999): „Orpheus und Eurydike“ von Christoph Willibald Gluck. Eine psychoanalytische Opernanalyse. In: Oberhoff, B. (Hrsg.) (2002) Psychoanalyse und Musik. Gießen: Psychosozial Verlag; 421-451

Ovid (ca. 8 n.Chr.): Metamorphosen. Frankfurt am Main: Insel 1990

Rilke, R.M. (1923): Die Sonette an Orpheus. Frankfurt am Main: Insel 1974

Westermann, G.v.; A. Schumann (1957): Knaurs Opernführer. München: Droemer


Discografie

Christoph Willibald Gluck: Orfeo ed Euridice. Leitung: Vaclav Neumann. Bumbry, Rothenberger, Pütz. Rec Berlin 1966. edel Berlin Classics

Alfred Schnittke: Klavierquintett. Keller Quartett, Alexei Lubimov p. Ecm new series 2003

Steve Hackett: Metamorpheus. With The Underworld Orchestra. Camina Records 2005

 

To Be Or Not To Be: That Is The Question. Facetten des Themas “Kunst, Tod, Suizidalität”
Workshop von T. Piegler und I. Engelmann zur Tagung „Handlungsebenen in der Suizidprävention“ (28.-30.10.2005)


Neugier und Ent-Fremdung: Rezeptive Musiktherapie, Psychoanalyse, Globalisierung


1.) Vorspiel
2.) Fuge
2.1.) Fremde
2.2.) Entwicklungsreisen
2.3.) Therapie
3.) Ausklang


1. Vorspiel


Wie jeden Donnerstagabend stehe ich vor meinem CD-Regal und suche nach dem Programm für die „Musikalische Reise“, die immer freitags von 15 bis 16 Uhr stattfindet. Das ist ein Angebot rezeptiver Musiktherapie in unserer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Hamburg-Bergedorf. Es wendet sich besonders an Patienten aus anderen Ländern, anderer Kultur, anderer Heimat. Sie treffen hier zusammen mit Patienten aus Deutschland, die ihre eigene Erfahrung von Fremdheit haben. Wir hören uns zusammen Musik aus Deutschland, Europa und anderen Kontinenten an, aus unserer Zeit und aus vergangenen Jahrhunderten.

Und morgen? Letzte Woche hat Herr A. davon berichtet, dass er beim Malen zuhause zur Zeit gern Bach und Michael Jackson hört. Als Begrüßungsstück werden wir morgen also „Man In The Mirror“ von Jackson hören. Der Rhythmus führt mich im Plattenregal zu alter Musik mit Landsknechttrommeln: auch 1539 gab es schon Drum’n’Bass, wie die Jahrmarktmusiker der Gruppe „Wohlgemuth“ zu Gehör bringen. Dann wieder ein großer Sprung, gleichzeitig eine Auffächerung über Kontinente: „Afrocelt Sound System“ verknüpft Techno mit keltischen und afrikanischen Klangmustern, Dudelsack und Djembé. Das keltische Element könnten wir auch unvermischt hören, zum Beispiel bei den irischen Folk-Musikern aus der Furey-Familie. Da gibt es auch Dudelsack, wie bei Wohlgemuth und Afrocelt Sound System. Aber ich bin noch dem Rhythmus auf der Spur und greife zu den Remixes von Steve Reich. Howie B hat ein Stück remixt, das ursprünglich von „Bang on a Can“ gespielt wurde, von denen haben wir vor zwei Wochen was angehört. So fügt sich vieles zusammen auf einer Reise, die fast die Welt umspannt.

Was ist hier abgelaufen? Wie komme ich dazu, ein Angebot rezeptiver Musiktherapie so vorzubereiten? Welche Ideen von Fremdheit, Entwicklungspsychologie und Therapie stehen dahinter? Und was kommt dabei heraus? Diesen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen.


2. Fuge


Schon bin ich müd zu reisen
Wär’s doch damit am Rand
Vor Hören und vor Sehen
Vergeht mir der Verstand

So willst Du denn nach Hause?
O nein! Nur nicht nach Haus!
Dort stirbt des Lebens Leben
Im Einerlei mir aus.

Wo also willst Du weilen?
Wo findest Du die Statt?
O Mensch, der nur zwei Fremden
Und keine Heimat hat.

Franz Grillparzer (1843)
In der Fremde



2.1. Fremde

Franz Grillparzer bringt in seinem Gedicht „In der Fremde“ zum Ausdruck, dass die Fremdheit nicht als rein innerliche oder rein äußerliche Störung anzusehen ist, sondern polar angelegt ist. Die äußere Trennung von der Heimat ist mit dem Verstand vor lauter neuen Eindrücken kaum zu verarbeiten. Die innere Heimat verspricht auch nicht so lauschig und heimelig zu sein wie gewünscht. „O Mensch, der nur zwei Fremden / und keine Heimat hat (vgl. Matussek/Matussek 1993, S. 169ff) . Dem depressiven Dichter ist die Welt fremd und kalt.

Das graue Gefühl kenne ich aus der Begegnung mit Patienten. Frau B., Ende fünfzig Jahre alt und seit zwei Monaten erneut bei uns in stationärer psychiatrischer Behandlung wegen einer Psychose, ist bedrückt und niedergeschlagen. Ihre Familie war vor ungefähr zweihundert Jahren aus Schwaben nach Russland ausgewandert. Von der Wolga wurde sie unter Stalin vertrieben, zunächst nach Sibirien und dann nach Kirgisien. Vor einigen Jahren ist sie nach Deutschland zurückgekommen. Ihr fließendes Deutsch trägt deutlich den schwäbischen Akzent. Sie stellt eine Frage, die in aller Kürze die ganze Geschichte und aktuelle Misere umfasst: „Heimat – was ist das?“ fragt sie mich im Tagesraum der Station, und eine Welle von Trauer und Farblosigkeit überrollt uns.

Wir begegnen der Fremdheit auf mehreren verschiedenen, systemisch miteinander verquickten Ebenen. Fremdheit ist ein seelisches Phänomen, wenn Menschen sich selbst fremd bleiben und ihrem Wert, ihrer Eigenheit und ihrem So-Sein nicht vertrauen können. Das heißt dann zum Beispiel narzisstische Persönlichkeit oder depressive Entwicklung. Extreme Fremdheit kann in Psychosen münden, in denen überhaupt keine Vertrautheit mehr existiert und die Beziehungen zu anderen wie zu sich selbst gekappt werden.

Fremdheit ist ein gesellschaftliches Phänomen, in dem Entfremdung vorherrscht. Menschliche Beziehungen werden über Dinge definiert, über materielle Produktionsbedingungen, und die gesellschaftliche Organisation gebiert einen zunehmenden Prozess der Entfremdung (Hegel, Marx). Über die entfremdete Arbeit hinaus gibt es heute Anzeichen für die zunehmende Fremdheit zwischen einzelnen meist jungen Menschen oder ganzen Gruppe unter ihnen auf der einen Seite und Staat und Gesellschaft auf der anderen Seite. Der Psychoanalytiker Lempa untersucht die Konsequenzen des „verweigerten Zivilisationsvertrages“ (vgl. Lempa, 2001, S 72) auf der individuellen Ebene der Persönlichkeitsstörungen wie auf der gesellschaftlichen Ebene des zunehmenden Rechtsextremismus. Hier verknüpfen sich intrapsychische Konfliktspannung mit massivem sozialem Sprengstoff.

Fremdheit ist ein globales Phänomen unserer Welt am Beginn des dritten Jahrtausends. In Flüchtlingsströmen und Wanderungsbewegungen entfernen sich Millionen von Menschen aus ihrer vertrauten Umgebung in eine ungewisse Zukunft. Neue Formen totalitärer Herrschaft ergänzen die alten Diktaturen. Wir kennen seit Jahrhunderten die Begegnung mit Fremden, die zu uns gekommen und geblieben sind. Heute erfasst der „Fremdenverkehr“ als Tourismus die ganze Welt. Heute werden aus „Fremdenheimen“ Asylantenheime.


2.2. Entwicklungsreisen

Psychoanalytiker beschäftigen sich schon lange mit Fremdheit. Spätestens mit dem traumatischen Erleben der Trennung in der Geburtssituation begegnet der Säugling einer umfassenden Fremde. Das „Fremde ist die Nicht-Mutter“, sagt der Ethnopsychoanalytiker Erdheim (1992, S. 732) in seinem Aufsatz „Das Eigene und das Fremde“. Die Abwesenheit der Mutter (nach neun Monaten im Bauch der Mutter eine neue Erfahrung) löst Angst aus, der Säugling versucht durch sein Weinen den vertrauten und geschützten Zustand ihrer Gegenwart wiederherzustellen: ah, da ist die Mutter ja wieder. Mit zunehmendem Alter baut sich in den folgenden Monaten eine Ambivalenzspannung auf: zur Angst vor dem Unvertrauten, Fremden, tritt die Faszination des Neuen. Diese Schaukel zwischen Angst und Faszination bleibt zeitlebens erhalten. Immer wird Neues angstbesetzt bleiben (offen bleibt allenfalls, wie stark diese Angst erlebt wird). Und immer wird Neues anziehend sein.

Allerdings bleibt diese Anziehungskraft des Neuen nicht ungetrübt. In Beziehungen zu anderen Menschen als der Mutter, die also zunächst einen mehr oder weniger großes Potenzial an Fremdheit aufweisen, eröffnen sich Chancen mit großer Reichweite. Die vertrauten Personen sind nämlich auch nicht nur nett, geliebt, schützend und gut. Sie können ärgerlich sein, ungerecht, blöd und schlechtgelaunt. Diese Flecken auf dem Bild der vertrauten Person werden gern verschoben in die Repräsentanz, das innere Bild anderer, weniger wichtiger Menschen, Fremder also. Erdheim schlussfolgert: „So vermag sich die Fremdenrepräsentanz zu einer Art Monsterkabinett des verpönten Eigenen zu entwickeln. Der Gewinn ist beachtlich, denn das Eigene wird zum Guten und das Fremde zum Bösen (Erdheim 1992, S. 733). Diese Aufspaltung hat fatale Konsequenzen, weil sie dazu führen kann, das Böse ständig im anderen zu bekämpfen – aber damit erreicht man nie sein Ziel, wenn das Böse eine Abspaltung der eigenen Person ist. Außerdem behindert diese Abwehr die Entwicklung der Kultur, die nach Erdheim das ist, „was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar (Erdheim 1992, S.734) Musik hat in diesem Prozess unter anderem die Aufgabe, unheimliche und fremde Klänge zu integrieren, sozusagen diplomatische Beziehungen zum Fremden aufzunehmen und Botschaften auszutauschen.

Mit der Entwicklung des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Wahrnehmung befasst sich der Analytiker H. Kohut (Kohut 1959, darin die Aufsätze „Über den Musikgenuss“ und „Betrachtungen über die psychologischen Funktionen der Musik“), Vater der Selbstpsychologie. Er beginnt mit der frühesten Organisation des Säuglings, der präverbalen Phase ab- und zunehmender Spannungen. Kohut sieht diese erste Lebens- und Entwicklungsphase als psychologisch leer an, Wahrnehmung und Reaktion erfolgen nur auf körperlicher Ebene. Er entwirft damit eine Charakteristik, die wesentlichen Bestandteilen der „Vitalitätsaffekte“ des modernen Säuglingsforschers Stern entspricht (Stern 1985, S.83): eine Stufe psychologisch nicht ausgearbeiteter, wesentlich physiologisch wirksamer Affektivität, die mehr die Form und den Verlauf affektiver Prozesse meint als ihre Inhalte. Diese inhaltlichen Gefühle tauchen dann später als diskrete oder kategoriale Affekte auf.

Entwicklungsstörungen in dieser frühesten Phase können sich später äußern als regressive Festlegung auf organisch-physiologisches Geschehen ohne psychologische Ausarbeitung. Wenn die Entwicklung psychologischer Verarbeitungsmodi stecken bleibt und organfixierte Beschwerdebilder den einzigen Ausweg darstellen, ist der „Inhalt des verbalen Kontakts (zum Beispiel von Erklärungen) als solcher nicht wirksam.“ (Kohut aaO S.229). Das heißt auch: auf der Subjekt-Ebene einer Begegnung mit sich selbst und anderen bleibt eine Fremdheit erhalten, die zu unseren frühesten und primärsten Erfahrungen gehört. Sie ist aus psychodynamischer Sicht symptomarm, weil ohne seelische Form im engeren Sinne, und findet sich häufig bei Patienten in Allgemeinarztpraxen oder in somatischen Abteilungen, weil ihr einzig verfügbares Beschwerdeschema körperlich scheint und daher auch zunächst so untersucht und behandelt wird. Wenn die organische Abklärung ergebnislos verläuft, sind psychosomatische Therapieangebote häufig der nächste Schritt.

Im weiteren Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung entfaltet das Individuum psychologische Differenzierungen. Es bleibt noch in der vorsprachlichen Phase, entdeckt aber erste Anzeichen von „Ich“ und „Objekt“ (Kohut), Ich und Nicht-Ich bei Erdheim, Stern nennt es „Auftauchendes Selbst“. Das Ich und die Umgebung, insbesondere die Anderen, werden als voneinander abgegrenzt erlebt. Dieser erste Schritt auf dem Weg zur eigenen Identität, zu Subjektivität und all den anderen wesentlichen späteren Schritten, ist von enormer Tragweite.

Die Ich-Grenze ist verletzlich und besonders bei psychotischen Menschen immer wieder gefährdet: das Äußere bricht in das Ich ein (Stimmen hören, andere können meine Gedanken lesen) oder das Ich verliert sich im Ganzen (überwertige Erlösungsvorstellungen, Verschmelzungswünsche und –ängste). Eine Invasion fremder Mächte in die eigene Person kann befürchtet werden oder die schreckliche Verantwortung, mit dem Bösen um das Schicksal der Welt kämpfen zu müssen. Das aggressive Moment wird in diesen Bildern ebenso deutlich wie das kriegerische Motiv der Grenzverletzung und des territorialen Gewinns und Verlustes. Die Angst vor dem Grenzverlust ist oft auch die Angst, dem Fremden nicht ausreichend Eigenheit entgegensetzen zu können und so entfremdet, „überfremdet“ zu werden.

Zu dieser Entwicklungsphase gehört existenzielle Angst vor dem Verlust der aufscheinenden Ich-Grenze, darüber hinaus ist das affektive Geschehen nicht weiter differenziert, sondern funktioniert weiter im Sinne amodaler Wahrnehmung und Verarbeitung (Stern 1985, S.74ff). Schizophrenes Erleben geht auf eine Störung in der Entwicklung dieser Lebensphase zurück, Kohut beschreibt das Welterleben der schizophrenen Regression als „kalt, leer und weit entfernt“ (Kohut aaO S.235). Er weist darauf hin, dass Musik in dieser schizophrenen Regression keine Gefühle hervorruft. Aus heutiger Sicht heißt das jedoch nicht, dass die Verwendbarkeit von Musik für den therapeutischen Umgang mit schizophrenen Menschen in Frage gestellt werden müßte. Der differenzierte Genuss von Musik, mit dem Kohut sich beschäftigt, würde eine differenzierte affektive Struktur im Sinne der Sternschen Kategorialaffekte (Ärger, Freude, Ekel...) voraussetzen. Auf der Ebene der Vitalitätsaffekte muss man sich die Rezeption musikalischer Reize anders vorstellen, sie ist eher mit Bewegungsfiguren wie „an- und abschwellend, aufwallend, fließend“ usw. verknüpft.

Die Entwicklung schreitet nach den hier skizzierten Phasen weiter mit der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit und dem damit zusammenhängenden Spracherwerb, mit der zunehmenden Ausprägung sekundärprozßehaften Bewusstseins usw. Die Rolle der Musik bezieht sich in besonderem Maße auf die primärprozeßhaften Phasen der frühen Persönlichkeitsentwicklung, weshalb diese Hinweise hier genügen sollen.



2.3. Therapie

Fremdheit ist, wie wir gesehen haben, ein intrapsychisches, entwicklungspsychologisches Phänomen, und es ist ein unübersehbares gesellschaftliches Phänomen unserer Zeit. In Hamburg sind 16 % der Bevölkerung Ausländer, in Frankfurt fast 30 %. Insgesamt sind es in Deutschland knapp 9 %. Unter den ausländischen Patienten des Frankfurter Zentrums für Psychiatrie war der Anteil schizophrener Patienten doppelt so hoch wie unter den deutschen Patienten (Holzmann e.a. 1994). „Zwei Fremden / und keine Heimat“ – der Seufzer des Dichters Grillparzer betrifft heute eine Gruppe von Menschen, die nach Deutschland kommen und ihre Heimat aufgeben, obwohl oder weil sie den Belastungen nicht gewachsen sind. Wir begegnen ihnen zunehmend in den Psychiatrischen Kliniken.

Vor fast anderthalb Jahren schrieb ich daher: „Besonders mit ausländischen Patienten ist es oft schwer, solche Fremdheitserlebnisse zu besprechen. Um sie nicht allein zu lassen, gibt es die Therapiegruppe „Musikalische Reise“. Um sie nicht auszusondern, ist es keine rein ausländische Gruppe, sondern setzt sich gemischt aus Patienten verschiedener Herkunftsländer (auch Deutschland) zusammen, die mit den Aspekten von Fremdheit kämpfen oder unter ihnen leiden.“

In der Gruppe hören wir gemeinsam Musik an, die ich gezielt für die Sitzung und für die Patienten, die daran teilnehmen, aussuche. Die Musikalische Reise findet einmal wöchentlich statt und dauert in der Regel ungefähr eine Stunde. Einige Zahlen umreißen die Rahmenbedingungen:

Die Gruppe
Durchschnittlich nehmen drei bis vier Patienten an der Reise teil. Insgesamt waren es bisher fast 50 Patienten. Die Teilnahmehäufigkeit lag zur Hälfte bei vier und mehr Sitzungen, aber viele Patienten waren auch nur ein- oder zweimal dabei (20). Ein Drittel der Patienten kam aus Deutschland, ein weiteres Drittel aus Afrika und asiatischen (meist arabischen) Staaten, knapp ein Drittel aus Osteuropa (darunter viele Russlanddeutsche). Die meisten Patienten (ca. 30) wurden wegen einer Psychose behandelt, eine weitere große Gruppe war depressiv, die anderen hatten Persönlichkeitsstörungen vorwiegend auf Borderline-Niveau.

Die Musik
Insgesamt haben wir bisher ungefähr 200 Musikstücke angehört – die meisten einmal, ungefähr 20 kamen zweimal zum Einsatz. Die drei großen Gruppen bei den Stücken sind klassische europäische Musik, europäische U-Musik (Rock, Pop, Schlager) und Weltmusik (darunter fasse ich klassische und populäre Musik fremder Länder zusammen). Hinzu kommt eine kleinere Auswahl traditioneller und moderner Jazz-Musik.

Grundprinzip der Musikauswahl ist das „joining“ – die Teilnehmer auch musikalisch da abholen, wo sie stehen. Das bedeutet, vertraute Musik auszuwählen, die zu ihnen oder ihrer Heimat in Verbindung stehen und weniger Fremdheit für einzelne Teilnehmer bedeuten. Damit ist aber verknüpft, dass ein Stück z.B. klassischer iranischer Musik, das für einen persischen Patienten vertraut klingt, für einen aus Afrika oder Hamburg-Bergedorf ganz fremd ist. Hinzu kommen Stücke, die für alle neu oder ungewohnt sind: konfliktreichere klassische Musik (ob von Bach oder Schostakowitsch), Cross-Over-Experimente von Tango-Adaptationen klassischer Musiker (z.B. Barenboim) oder elektronische Remixes klassischer Kompositionen von Mozart bis Steve Reich.

Die Therapie
Was wirkt in dieser Gruppe therapeutisch? Ein reflektierendes Gespräch ist eher die Ausnahme, steht also nicht im Mittelpunkt der therapeutischen Erwartung. Zuallererst ist die Existenz dieser Gruppe therapeutisch wirksam: eine in der Behandlung schwerer erreichbare Patientengruppe wird wahrgenommen, ist wichtig genug, ihr ein eigenes Gruppenangebot zu machen. Eine häufige Erfahrung ausländischer Menschen in Deutschland ist, nicht willkommen und nicht wichtig zu sein. Diese Dynamik setzt sich in psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungsfeldern fort: eine Verständigung ist durch Sprachbarrieren behindert, kulturell geformte Symptome sind für deutsche Behandler nicht zu verstehen, eine gemeinsame Behandlungsplanung kommt gar nicht erst zustande.

Zu der freundlich-zugewandten Ausgangsposition dieser Therapiegruppe gehört es, die Patienten auch musikalisch zunächst zu begrüßen. Jede Stunde beginnt mit dem Versuch, musikalisch den Weg in die heutige Sitzung zu ebnen. Herr D. aus Sierra Leone wird zu seiner ersten Teilnahme an der Reise mit einem westafrikanischen Pop-Song begrüßt. Herr W. aus Deutschland hat von seiner Vorliebe für Elvis geschwärmt und wir hören in der nächsten Stunde „Mystery Train“. Für die ältere Dame hören wir Kaffeekränzchen-Klassik von André Rieu.

Das Abholen umfasst mehr als nur eine geographische Zugehörigkeit zu Gehör zu bringen. Immer wieder stellt sich eine Dynamik ein, die als Übertragungs- und Gegenübertragungsweben in dieser Gruppe anzusehen ist. Ich will mich auf zwei Beispiele beschränken.

Ich habe den beiden weiblichen Teilnehmerinnen Disco-Musik mitgebracht, was zu nicht enden wollenden Berichten über Lust und Last der Disco-Erfahrungen schon vor dem ersten Ton führt – es ist ein Thema, in dem die beiden Frauen Anfang zwanzig sich wiederfinden. Für mich ist es auch nicht fremd: nach „Venus“ von Shocking Blue haben wir früher auch getanzt. Glaubhaft wird nach einem Titel von DJ Bobo versichert, das sei ein ganz starkes Auftank-Stück. Die Reaktionen werden immer euphorischer. Die enge Verbindung mit den Teilnehmerinnen findet ihren Höhepunkt beim Abschiedsstück: Ich mute ihnen, einer Augenblickseingebung folgend, von einer „zufällig“(?) mitgeschleppten CD eine ganz andere Tanzmusik zu: den Cake-Walk aus Debussy’s „Children’s Corner“. Frau D. berichtet ganz begeistert, das Stück habe sie als Jugendliche in Polen vor ihrer Schulklasse vorgespielt. Das kann ja sein, denke ich, „Children’s Corner“ gehört ja durchaus zu den Standards im Klavierunterricht. Wahrscheinlicher ist, daß die Tendenz zum Fusionären in der heutigen Stunde hat eine Atmosphäre entstehen lassen hat, in der ihr jedes von mir abschließend gespielte Stück bekannt vorgekommen wäre und sie es in ihre eigene Lebenserfahrung eingebaut hätte. Sie verbindet die heutige Therapieerfahrung mit ihrer Jugend in Polen. Ich weiß aus anderen Stunden, dass Polen für sie auch eng verknüpft ist mit ihrem Vater, der in Polen geblieben ist, als sie mit der von ihm geschiedenen Mutter als siebzehnjährige nach Deutschland ging. Hier deutet sich eine Vater-Übertragung zu mir an. Es gibt eine Polarität aus Abgrenzung und Verbindung: DJ Bobo ist nicht mehr meine Welt, das ist ihr glitzerndes Disco-Universum. Aber je stärker ich mich auf ihre Welt eingestellt habe, desto stärker ist die Verbindung. Der Titel von Fanta 4 ist eher meiner, die Verbindung wird schwächer. Aber ich habe auch „ihre“ Musik mitgebracht, also bewiesen, das mir die Glitzerwelt nicht unvertraut ist, sie steht ja sogar in meinem CD-Regal. Damit ermöglicht sich eine Hoffnung, Fremdheit überwinden zu können, auch wenn das Risiko enthalten ist, eigene Grenzen zu verlieren und psychotisch zu werden. – Die beschriebene Stunde war übrigens die letzte Musikalische Reise, an der Frau D. nach zwei Monaten teilnahm. „Hoffnung“ gehört nach Yalom zu den wirksamsten unspezifischen Wirkfaktoren jeder Gruppentherapie (Yalom 1992). Die Hoffnung, wieder Verbindung zu einem ganzheitlicheren Leben zu finden, in dem auch der Vater vorhanden ist oder das Väterliche, ist ein bedeutsames Therapieergebnis.

Eine andere Stunde mit drei Teilnehmern: Frau W., Deutsche, war auch in der eben beschriebenen ersten Beispielstunde schon dabei, sie ist schweigsam und pünktlich. Herr V., Sohn einer Holländerin und eines indianischen Amerikaners, ist zum zweiten Mal dabei und Herr T. aus Polen neu. Die Musik knüpft an Herrn V.s Mitteilung an, er habe früher Saxophon gespielt, und reicht von „Walk On The Wild Side“ über das World Saxophone Quartet bis zu einem langsamen Satz aus einem Konzert für Saxophon und Streichorchester. Das sich anschließende Gespräch führen nur die Männer, es geht um rationalisierende Versuche, den angesprochenen Gefühlen zu entgehen oder sich vor ihnen in eine möglichst unabgelenkte psychotische Traumwelt zu retten (da passt das Adagio besser als der avantgardistische Ethno-Jazz). Die Männer bringen ihre unbewussten Strebungen zum Ausdruck, der Sphäre kategorialer Affekte und Gefühle zu entgehen – wenn schon nicht zurück zu den physiologischen frühen Mustern, dann zumindest weg aus dem Affekt rein in die Vernunft (und sei diese auch psychotisch umzingelt). Frau W. schweigt, bis ich davon spreche, dass bei allen Versuchen, die eigene Position zu den unterschiedlichen Musiken zu bestimmen, ein Befremdliches in der Atmosphäre bleibt. Die Männer sagen nichts, aber Frau W. lacht. Nicht über meine Worte, wie sie auf Nachfrage mitteilt, sondern über die Stimme, die jetzt „Dario“ zu ihr gesagt habe. Ich kann nicht verstehen, wo der Witz liegt, aber ich höre nach vier Monaten zum ersten Mal von Frau W., dass sie Stimmen hört. Ich weiß aus den Übergaben des Stationsteams, dass Frau W. immer psychotische Erlebnisse hat, aber sie hat in achtzehn Sitzungen der „Musikalischen Reise“ nicht einmal davon gesprochen. Wenn sie überhaupt etwas erkennen ließ, waren es in der Regel körperliche Signale: sie leidet unter einer entsetzlichen Bronchitis, die ihren übergewichtigen Körper schüttelt, untersucht ihre Finger und mit ihnen ihren Körper (Nase, Ohren), erzählt von Körperempfindungen während der Musik: schon in ihrer ersten Stunde berichtete sie, auf ihrem Platz wie festgeklebt zu sitzen, sie sei etwas hin- und hergerutscht, es sei etwas unbehaglich gewesen, aber sie hat ausgeharrt bei dem langen Stück damals. Mit ihren Fingern hat bei mir Anklänge an Ekel ausgelöst, und mir war, als wenn sie sich über ihr psychotisches Nicht-Funktionieren maßlos schämt. Jetzt, als es in ihrer letzten Stunde um Emotionen und ihre Abwehr geht, erwähnt sie ihre Stimmen, also ihre Psychose, also ihre eigene Art, zeigt sich ein kleines bisschen: Scham und Ekel und Psychose. Sie hat dazu lange gebraucht, aber sie geht nicht als völlig Fremde.



3. Ausklang

Unbewusste Inszenierung, Übertragung sowie die Therapeuten-Gegenübertragung beeinflussen das Geschehen der Musikalischen Reise. Es erweist sich damit als ein tiefenpsychologisch wirksames psychotherapeutisches Geschehen, auch wenn es nach außen unscheinbar wirken kann und immer wieder scheinbar folgenlos und unreflektiert abläuft. Der Rahmen offensiver Zuwendung zu Fremdheit und Anders-Sein sowie zu den Wurzeln der Existenz (wo kommen Sie her? – in vielerlei Beziehung) ermöglicht vorsichtige Beziehungsaufnahme zu sich und zum Therapeuten, immer wieder auch zu Mitpatienten. Zur Psychodynamik gehört sowohl der eigentliche Gruppenablauf selbst als auch die Vor- und Nachbereitung, vor allem die Auswahl der Musik durch den Therapeuten, und auch die Existenz des Gruppenangebotes als solches. Die therapeutische und gesellschaftliche Aufgabe, Fremdheit zu bewältigen und reifere Integrationsmuster zu entwickeln, kann in der Musikalischen Reise ansatzweise bearbeitet werden.

Ich komme kurz noch zurück auf die Stunde, deren Planung ich eingangs skizziert habe. Beim Spielen des dritten Stückes wird mir etwas komisch, ich halte das (mir ausnehmend gut gefallende) Stück Techno mit afrikanischen Trommeln und Dudelsack für eine hochinteressante Begegnung von alten Wurzeln (Afrika, Kelten) mit moderner Elektronik. Aber ich zögere, nahtlos den Reich-Remix anzuschließen, den ich ursprünglich vorgesehen hatte – fürchte zu viel Elektronik, zu viel Wirrheit, unlebendiges Geknatter und Gewummer, irgendwie ungut. Also mache ich erstmal eine Pause, und Herr A. und Herr M. äußern sich so zu dem Techno-Stück, daß ich heilfroh bin, die ursprüngliche Planung aufgegeben zu haben: Herr A. findet die Musik gefährlich, sie ist mit Drogen verknüpft (sein Bruder war „drauf“ und ist wieder rausgekommen, ein schweres Kapitel) und verspricht ungebundene Freiheit zu allem, was man will (auch beim Tanzen dazu). Herr M. ist voll abgefahren auf die Musik, sehr positiv, das ist schlimm – so widersprüchlich äußert er sich. Es ist „seine“ Musik, er nimmt beim Hören die Haltung ein wie beim Rauchen (der einzigen Droge, die er sich zur Zeit gönnt). Er fand das eine „geile Mucke“. Er selbst sieht in sich zur Zeit den Teufel, und er hat beim gesangslosen Stück den Text „Dance the Devil away“ gehört – also etwas, was sich gegen ihn selbst richtet. Ich verweise auf seine selbstzerstörerische Seite. Er würde gern mehr von der Musik hören...

Wir haben dann mit den Furey-Brüdern die traurige und erdverbundene Seite der keltischen Tradition gehört und sind wieder etwas auf die Erde gekommen, und dann hat Jackson den Schluss gemacht mit „Heal The World“. Das war, sagt Herr A., die bisher schönste „Reise“. Und wir haben dem Fremden wirklich ins Gesicht gesehen.

Ich schließe mit einem Zitat aus einem Buch, in dem die Bewegung, die Reise und das Unterwegs-Sein als Grundform menschlicher Existenz beschrieben wird: Bruce Chatwins „Traumpfade“.

„Ungeachtet der Wörter scheine die melodische Kontur des Liedes die Natur der Landschaft zu beschreiben, durch die das Lied führe. Wenn also der Eidechsenmann sich über die Salzpfanne des Eyre-Sees schleppe, könne man eine Folge langgezogener Halbtöne erwarten wie in Chopins Trauermarsch. Wenn er die Kette der MacDonnell-Kette hinauf- und hinunterkröche seien es eine Reihe von Arpeggios und Glissandi wie in Liszts Ungarischen Rhapsodien.

Bestimmte Tonfolgen, bestimmte Kombinationen musikalischer Noten beschrieben offensichtlich die Taten der Füße des Ahnen. Eine Tonfolge bedeute „Salzpfanne“, eine andere „Flussbett“, „Spinifex“, „Sandhügel“, „Mulgabusch“, „Felsoberfläche“ und so weiter. Ein erfahrener Songmann, der sie in ihrer Reihenfolge höre, könne zählen, wie oft sein Held einen Fluss überquert oder einen Bergkamm erklettert habe – und ausrechnen, an welcher Stelle und wie weit auf der Songline er sich befinde. „Er könnte ein paar Takte hören“, sagte Arkady, „und sagen: ‚Das ist Middle Bore’ oder ‚Das ist Ooodnadatta’ – wo der Ahne dies oder jenes tat.“

„Eine musikalische Tonfolge“, sagte ich, „ist demnach ein kartografischer Hinweis?“

„Musik“, sagte Arkady, „ist eine Datenbank, die einem hilft, seinen Weg durch die Welt zu finden.“ (Chatwin 1992, S. 150)


Damit ist Musik eine Möglichkeit, die Entwicklungsaufgabe „Umgang mit Fremdheit“ zu bewältigen. Die „Musikalische Reise“ stellt modellhaft einen Raum zur Verfügung, in dem Fremdheit reduziert, Entwicklung (oder Hoffnung) aktiviert und Neugier gefördert wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Literatur:

Chatwin, B. (1992): Traumpfade. Frankfurt am Main: Fischer
Chun-Juelich, H.; Engelmann, I. (2001) Eine stationäre Behandlung einer Patientin in der Psychiatrie aus anderer Kultur ohne gemeinsame Sprache. Vortrag Münchner Weiterbildung in psychoanalytischer Psychotherapie von Psychosen
Erdheim, M. (1992): Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität. Psyche 46: 730-744
Holzmann, T.; Volk, S.; Georgi, K.; Pflug, B. (1994): Ausländische Patienten in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Universitätsklinik mit Versorgungsauftrag. Psychiat. Praxis 21: 106-108
Klaus, G.; Buhr, M. (Hrsg.) (1964): Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972
Kohut, H. (1959): Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977
Lempa, G. (2001): Der Lärm der Ungewollten. Psychoanalytische Erkundungen zu Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und politischem Extremismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Matussek, P.; Matussek, P. (1993): Franz Grillparzer, Camille Claudel, Glenn Gould – drei Modellanalysen. In: Matussek, P. (Hrsg.) Analytische Psychosentherapie. Berlin Heidelberg New York: Springer
Stern, D.N. (1985): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta 1992
Yalom, I. (1992): Theorie und Praxis der Gruppentherapie. München: Piper


 

 

Ingo Engelmann

 

Musikalische Reise

 

Rezeptive Musiktherapie zur Begegnung mit Fremdheit und Eigenheit

 

 

Musik ist eine unübersetzbare Sprache, über deren Grammatik man sprechen kann, deren Bedeutung aber jeder anders versteht. Sollten wir beide dasselbe verstehen, so sagt es weniger über die Musik aus, als über unsere Seelenverwandtschaft. [1]

 

 

Mit ausländischen Patienten können wir uns in der Psychiatrie oft kaum verständigen. Es fehlt eine gemeinsame Sprache oder doch die gemeinsame kulturelle (Lebens-)Erfahrung. In der psychodynamisch orientierten Arbeit unserer Psychiatrischen Abteilung wird meine Gegenübertragung, meine Wahrnehmung der eigenen inneren Resonanz dadurch umso wichtiger. Hinzu kommt die Erfahrung, dass sich Fremdheit nicht nur in der Begegnung mit Patienten aus dem Ausland einstellt, sondern auch bei deutschen (z.B. psychotischen) Patienten, die mir in ihrer Eigen-Sinnigkeit und überraschenden Abwehrkonstellationen oftmals zunächst fremd bleiben.

 

Mit solchen Patienten höre ich seit einigen Jahren gemeinsam Musik. Ich habe keinen für diese Arbeit passenden theoretischen Rahmen gefunden und mein psychodynamisches Konzept entwickelte sich im Prozess. Der Rahmen: An der Gruppe „Musikalische Reise“ nehmen durchschnittlich fünf Patienten teil, ungefähr die Hälfte davon kommt aus dem Ausland (vor allem Russlanddeutsche sowie Menschen aus Polen und der Türkei). Statistisch ergibt sich, wenn ein Teilnehmer über eine Schnupperstunde hinauskommt, eine Teilnahme an ungefähr acht Sitzungen. Die Gruppe findet zweimal wöchentlich für eine Stunde statt. Die Teilnehmer zeigen einen bunten Querschnitt durch die psychiatrischen Krankheitsbilder: schizophrene und affektive Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, dissoziative Störungen. Die Gruppe ist niedrigschwellig – Therapiemotivation, ausgeprägte Reflexionsfähigkeit oder musikalische Sozialisation wird nicht vorausgesetzt.

 

Es handelt sich hauptsächlich um Menschen, die sich wegen unzureichender Beherrschung der deutschen Sprache nicht verständlich machen können, die aus anderen Gründen keinen Ausdruck für ihre innere Verfassung finden, denen das Wort also irgendwie nicht so zur Verfügung steht. Andere (aber das sind weniger) können gut reden, aber sie haben noch nicht herausgefunden, wie sie die Sprache für innere Konflikte nutzen können: sie haben keine Integration von inneren Vorgängen und sprachlichen (Ent-) Äußerungen herstellen können. Ihre Beiträge sind oft ganz leer von Emotion und Affekt, sie rationalisieren oder äußern sich ganz floskelhaft. Die erste, größere Gruppe sind aber die Schweiger, Zuhörer oder Träumer, sie harren aus oder ertragen die „Musikalische Reise“ wie sonst auch das Leben, so gut es eben geht.

 

Wir hören uns meistens drei oder vier Musikstücke unterschiedlicher Dauer an, die ich zuhause zusammengestellt habe. Diese Vorstufe der Musikzusammenstellung gehört zentral zum therapeutischen Prozess: Ich weiß recht genau, wer morgen an der Stunde teilnehmen wird, und suche nach Musik, die zu diesen Menschen passt. Das können Stücke aus ihrer Heimat sein, um sie zu begrüßen. Das kann Musik ihrer Lebensphase sein oder aus zurückliegenden Phasen: Disco-Musik, Techno, Hiphop oder Schlager, Volksmusik, Blasorchester. Das kann Musik von heute sein oder von früher: Klassik, Sinfonien und Sonaten, Madrigale und Chöre. Die ziemlich bunte Mischung ergibt sich nicht zufällig, sondern stellt ein höchst diaphanes Gespinst aus Gegenübertragungsphantasien, Gruppenkonstellationen und der dadurch geprägten Atmosphäre dar. Diesem Gespinst spüre ich vor meinem CD-Regal stehend nach, höre hier rein, probiere mal das Stück, und manchmal dauert es ein paar Minuten, manchmal eine Stunde, ehe ich die Stücke für den nächsten Tag zusammengestellt habe.

 

In der Adventszeit haben wir in einer Sitzung den „Winter“ aus den „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi angehört, der in der neu eingespielten Version von Nigel Kennedy wirklich frösteln lässt. Dazu kamen amerikanische Weihnachtslieder: „Jingle Bells“, „Let it snow“ und „Adeste Fideles“. Das ermöglichte eine vorsichtige Annäherung an das Weihnachtsthema. Wir konnten über Erlebnisse einer Teilnehmerin zur Weihnachtszeit in New Orleans plaudern und über die Merkwürdigkeit, Weihnachten bei sommerlichen Temperaturen zu feiern (mein unausgesprochener Hintergedanke: wie ist es, wenn nicht das meteorologische, sondern das emotionale Klima nicht zu unserer Weihnachtsphantasie passt?). In der Stunde drauf wollte ich der Versuchung wiederstehen, nun aber Weihnachten satt anzubieten. Ein Teilnehmer, der deutsche Blas- und Volksmusik bevorzugt, seitdem er vor zwanzig Jahren aus Polen nach Deutschland gekommen war, freute sich über die deutschen Schlager, die ich mitgebracht hatte. Das begann bei „Kauf dir einen bunten Luftballon“ aus dem Jahr 1942, einem Schlager aus einem Unterhaltungsfilm der Ufa, der in der Kriegszeit unbeschwertes Kinovergnügen ermöglichen sollte. Frau A. hatte den Film als Kind im Fernsehen gesehen, und hatte noch eine ganze Menge Szenen in Erinnerung – es war so eine traumhaft harmonische Welt in diesem Film. Das passte zu ihrem Tagträumen. Als Abschluss der Stunde wählte ich kurzentschlossen einen Titel von der CD mit „Juwelen deutschen Schlagers“ aus, die ich in dieser Stunde benutzt hatte: da war auch von Heintje das Lied „Heidschi bumbeidschi“ drauf. Also eine Mischung aus deutschem Schlager und Weihnachtslied, voll Gefühl und Kitsch. Danach war Schweigen und es dauerte eine Weile, bis die Teilnehmerinnen aufstanden und das Ende der Stunde realisierten. In der Woche drauf erzählte Frau A., dass dieses Lied sie auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Die Erinnerung an ihre Mutter, die immer so „heidschi bumbeidschi“ über alles hinweggewischt war und alles unter einer Harmoniedecke verdeckte, aber gleichzeitig manifest gewalttätig gegen die Tochter war, kam hoch. Frau A.s sorgfältige Planung für die Feiertage war nur zum Teil umzusetzen gewesen und es war ihr schlecht gegangen. Zu ihrer Beruhigung hörten wir in dieser Stunde eine persönlich wenig umtreibende Kombination aus irischer Musik von den Furey-Brüdern und irisch beeinflusste Musik (Irland meets Vivaldi: O’Stravaganza / Irland meets Afrika: Afro-Celt Sound System) an.

 

Die TeilnehmerInnen bewegen sich in einer ständigen Bewegung zwischen oberflächlichem Konsum der musikalischen Reize und tieferer Berührung. Diese Bewegung erinnert an die „Fahrstuhl“-Funktion der Musik in der aktiven Improvisation, wie musiktherapieerfahrene Patienten sie beschreiben (Engelmann 2000). Sie nutzen Musik zum Eintauchen in biografisch oder affektiv bedeutsame innere Schichten, tauchen dann wieder auf und verlassen den Musiktherapieraum auf mehr oder weniger normalem Funktionsniveau wieder. Dieselbe Bewegung gibt es auch in der Rezeptiven Musiktherapie. Es findet eine „Regression im Dienste des Ich“ (Heigl-Evers 1997, S. 137) statt: regressive Vorgänge (Eintauchen in biografisch frühe Erfahrungen und Verfassungen) werden vorübergehend zugelassen, aber zeitlich begrenzt und mit der Möglichkeit, schnell wieder daraus aufzutauchen. Dabei tritt eine spezifische Kombination von „Loslassen“ und „Kontrolle“ auf. Erinnerungen werden zugänglich, erhalten eine emotionale Verknüpfung, Übertragungen werden aktiviert. Dieser Vorgang gehört recht eigentlich zum psychoanalytischen Verständnis jeder Musikrezeption. Allerdings sitze ich in einer Gruppe mit psychiatrischen Patienten, und deren Ich-Funktionen sind nicht so ungestört und vollständig. Einen Schritt hat Frau A. in dem beschriebenen Beispiel der letzten drei Stunden gemacht: sie hat in der darauffolgenden Stunde von sich aus ins Gespräch gebracht, wie das Lied von Heintje sie in Konflikte gestürzt hat. Damit unterwarf sie sich nicht ausschließlich dem regressiven Sog, erlitt die immer gleichen Spannungen, die bis in die Kindheit zurückreichen, ohne damit umgehen zu können, sondern fand einen erwachsenen Zugang zum Konflikt. Sie konnte die Regression ansatzweise in den Dienst ihrer Ich-Funktion stellen.

 

In einer nächsten Stunde war von einem Teilnehmer der Begriff „Ballade“ als Rock-Genre erwähnt worden. Er ging mir bei der Vorbereitung der darauffolgenden Stunde nicht aus dem Kopf und ich suchte ein paar Balladen aus. Am Anfang hörten wir drei Stücke: „Free“ von der Lighthouse Familiy, „Dreamer“ von Ozzy Osbourne und „It’s Been A While“ von der Gruppe Staind. Die Teilnehmer berichteten im Anschluß an diese drei Titel von dem Gefühl großer Freiheit, Aufbruch, Träumereien und Sehnsüchten, fühlten sich sehr angesprochen und wirkten ganz überrascht davon, „ihre“ Musik zu hören. Die junge Frau C. äußerte fast verlegen, dass sie die ganze Zeit warte, ob ich wohl ihre Lieblings-Ballade spielen würde. Es stellte sich heraus, dass ich nicht einmal die Band kannte, um die es ihr ging. Was ich aber deutlich spürte, war ihr Wunsch nach wortlosem Verstanden-Werden, den ich in der Gruppe ohne weiteren Kommentar feststellte. Nach lebendigem Gespräch schloss sich ein zweiter Block mit drei weiteren Titeln an: mit Limp Bizkit, Robbie Williams und den Black Eyed Peas. Die Stimmung am Schluss der Stunde fühlte sich anders an als nach dem ersten Musik-Block. Es gab keine weiteren Äußerungen dazu.

 

Ich war also auf meine eigene Resonanz angewiesen. Was war geschehen? Ich hatte die Teilnehmer der Gruppe exemplarisch da abgeholt, wo sie stehen („joining“), sie hatten sich wahr- und ernstgenommen gefühlt. Das war ein richtiges Hochgefühl für sie (und für mich). Aber wir waren dann da stehen geblieben, Symbiose-Wünsche im Raum, Übertragung satt. Ich hatte mich entschieden, Frau C. nicht darauf hinzuweisen, dass sie sich Verständnis vom Vater (und von mir als dessen Übertragungs-Stellvertreter) wünsche. Ich hatte drei weitere Stücke gespielt, die sich auf derselben Ebene bewegten wie die ersten drei: Musik der jüngeren Generation, auf kraftvolle Weise träumerisch. Ich hatte auf jede Form der Deutung verzichtet. Ich hatte keine eigene Musik, meine oder die anderer Generationen, Elternmusik oder Kinderlieder hinzugefügt, die einen Zusammenhang herstellen, Verbindungen beleuchten. Die Brockhaus-Enzyklopädie erklärt „Deutung“ als „Erschließung des zunächst Verborgenen durch Einsicht in den Zusammenhang von Ereignissen, Handlungen, Worten, Formeln und Kunstwerken ... In der Tiefenpsychologie werden die nicht bewussten Motive... erschlossen“. Freud hatte es vorgezogen, statt von Deutung von „Konstruktion“ zu sprechen. Der Psychoanalytiker habe zwei therapeutische Aufgaben: „das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren“, sowie herauszufinden, „wie, wann und mit welchen Mitteln er seine Konstruktionen dem Analysierten mitteilt“ (Freud 1937, S. 396). Und der völlige Verzicht auf Deutung hatte bei den Teilnehmern (so meine Phantasie) ein schales Gefühl hinterlassen: sie wünschten sich mehr von mir (nicht nur als Übertragungspartner, sondern als Therapeut).

 

In der Rezeptiven Musiktherapie „Musikalische Reise“ geschieht Deutung nicht so sehr durch Worte, wie in manchen anderen Therapieformen, sondern vorrangig durch Musikstücke, die wir anhören. Wir hören in jeder Stunde mehrere Titel. Sie sind meist unterschiedlich, manchmal gegensätzlich. In dieser Kombination ergeben sich neue Muster, neue Sinnmöglichkeiten. Die Kombination der Musiktitel ist vergleichbar mit der Beschreibung der Konstruktionen, die dann als „Deutung“ bezeichnet werden. Manchmal gibt es das sogar innerhalb einer Musikproduktion: Joachim Kühn’s „Bach Now“ mit der Kombination des Leipziger Thomanerchors und originalen Bachwerken und seinem Jazzpiano ist ein Beispiel dafür. Viele Veröffentlichungen aus der Weltmusik-Sparte enthalten ähnliche Begegnungen.

 

Nach Hildesheimer löst Musik „eine Katharsis aus, aus der geläutert und erneuert hervorzugehen wir uns wünschen, während wir bereits wissen, dass wir nach dem Ende der Musik... wieder die alten sein werden. Dieses Erleben löst, wie man weiß, bei manchem Hörer Tränen aus... Unser Verstand bleibt eingeschaltet und löst jenes Interpretationsgeschehen aus, das auch uns selbst und unserem eigenen Erleben dieser scheinbaren Metamorphose (gilt), die uns jedoch wieder der Wirklichkeit zuführt und uns mit der Empfindung eines schmerzlichen Verlusts zurücklässt.“ (Hildesheimer 1984, S. 81) Wenn es in der „Musikalischen Reise“ gelingt, diesen schmerzlichen Verlust erlebbar zu machen oder zumindest eine Ahnung davon zuzulassen, dann kann Fremdheit nachlassen.

 

Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden, Leipzig 2001

Engelmann, I. (2000): Manchmal ein bestimmter Klang. Analytische Musiktherapie in der Gemeindepsychiatrie. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Freud, S. (1937): Konstruktionen in der Analyse. In: ders., Studienausgabe, Ergänzungsband. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000

Heigl-Evers, A. u.a. (Hrsg.) (1997): Lehrbuch der Psychotherapie. Fischer Verlag Lübeck Stuttgart Jena Ulm

Hildesheimer, W. (1984): Warum weinte Mozart? Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996

 

Dr. I. Engelmann, Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Musiktherapeut (BVM); Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Bethesda Allgemeines Krankenhaus gGmbH, Bergedorf , Gojenbergsweg 30, 21029 Hamburg.

E-mail: klangengel@t-online.de



[1] W. Hildesheimer 1984, S. 60

 



Joni Mitchell: Travelogue 2002 (Rezension)
Eine gereifte Frau (so klischeehaft das auch klingt) zieht Bilanz. Joni Mitchell ist sechzig Jahre alt und schöpft aus dem reichen Vorrat ihres musikalischen Lebens: auf zwei CDs interpretiert sie eigene Songs aus den letzten vierzig Jahren neu. Ihre Stimme ist weicher, tiefer. Sie singt nicht mehr so metallisch rein wie früher, klingt wärmer. Manchmal war sie früher bestimmter, sicherer in der Suche, jetzt ist sie nicht mehr so verdammt ernst bis in ihre Scherze wie damals. Fast zärtlich manchmal. Es ist immer noch alles auf der Welt unklar wie ehedem, unverständlich, aber es macht nicht mehr so viel aus wie früher. Alles ist ein paar Jahrzehnte gelassener. Das musikalische Arrangement mit viel Streichern und Bläsern, Blech bis weit in die Tiefen der Tuba und der Posaune, verleiht den Stücken mächtig Schwere und Gewicht, nimmt ihnen manchmal fast etwas die Luft. Oder andersrum betrachtet: gibt ihnen eine Bodenständigkeit, die sie vorher so nicht hatten. Die angedeutet dissonanten Harmonien hier und da wirken mehr wie ein Zugeständnis an den musikalischen Zeitgeist als wie klanglich-existenzielles Anliegen. Dahinter braust es hauptsächlich wie in Filmmusiken der fünfziger Jahre, Burt Lancaster ist „Der rote Korsar“ und so weiter. Volle Segel im Wind und ein zähneblitzendes Lächeln unter karibischer Sonne: Die englischen Vierzigpfünder sind unschlagbar, du hast keine Chance, aber du wirst sie nutzen... Joni Mitchell hat genug erlebt, sie verdrängt die Ungerechtigkeiten und Unsinnigkeiten des Alltags nicht. Aber sie gönnt uns angesichts und trotz dieser Widrigkeiten ihre Zärtlichkeit und das Wagnis, auch dem Kitsch ein kleines Eckchen einzuräumen. Schön.


Einige der besten CDs aus Pop und Jazz seit 1950 (Stand 1999)
Miles Davis: Kind of Blue (1959)
Beach Boys: Pet Sounds (1966)
Beatles: Rubber Soul (1966)
Crosby, Stills, Nash & Young: Déja Vu (1968)
Stevie Wonder: Songs in the key of life (1976)
Jim Hall: Concierto (1977)

Joe Jackson: Body and Soul (1984)
Eric Clapton: Unplugged (1992)
Kronos Quartet: Pieces of Africa (1992)
Tom Petty: Wildflowers (1994)
Willie Nelson: Across the borderline (1994)
Fanta 4: 4/99 (1999)


Leonard Bernstein, das Hören und das Komponieren
Lennie Bernstein erklärt, wir hören zu viel Musik. „Ich habe nicht gesagt, dass wir zuviel Musik anhören; ich sagte, wir hören zuviel davon. Das ist ein großer Unterschied. An- oder zuhören ist ein aktives Erlebnis, ein Teilhaben an der Musik, ein Mitgehen mit ihr; es bedeutet, dass man sich in die schwierigen Aufgaben und deren Lösung hineinziehen lässt – während das Hören allein völlig passiv ist. Davon bekommen wir zuviel – das ewige Radio, Fernsehen und der verfluchte „Muzak“, der uns überall belästigt“ (S. 18).

Und er beschreibt, wie der Komponist zu seinen Einfällen kommt, wie „man“ komponiert: kein gezieltes, geplantes oder strukturiertes Vorgehen ist das, sondern man lässt sich ein in eine veränderte Bewusstseinslage, eine Art Trance wie kurz vor dem Einschlafen. Dann verschwimmen die Grenzen zwischen dem Wachbewusstsein und dem Unbewussten, und es gelangen musikalische Einfälle aus dem Unbewussten an den Tag. Sie können polymodal sein wie in frühen Entwicklungsstufen des Säuglings: Farben und Gerüche und Klänge und Dynamik sind verwoben miteinander, und es entsteht ein Gebilde, das dann als Musik niedergeschrieben werden kann. „Alles hängt davon ab, wie rasch sich der Komponist entscheidet. Wenn er nichts entscheidet, hat er Glück. Wenn er sich entscheiden muß, dann ist er wahrscheinlich überhaupt kein Komponist“(S.275)

Und so ähnlich gehen wir bei der Musikalischen Reise vor, nur umgekehrt: aus dem Wachbewusstsein tauchen wir im Prozeß des Zuhörens ein in eine vielfältige Welt aus Geschmack und Geruch, Spüren und Fühlen, Hören und Sehen. Und manchmal gelangt der eine oder andere dabei in frühere oder ganz frühe Erlebnisphasen. Darüber zu sprechen ist schwer oder fast unmöglich.

Bernstein, L. (1967): Von der unendlichen Vielfalt der Musik. Goldmann Schott 1975


Anouar Brahem: Le Voyage du Sahar (2006)
...und immer wieder die Wüste (Rezension)

Das ist Wüstenmusik, da kann man sagen was man will. Eine fast hypnotische Stimmung, eine Art Trance, wie sie durch Wassermangel und Hitze hervorgerufen werden kann - oder durch Oud, Akkordeon und Piano. Formen, für die es keinen Plan gab, die sich ergeben durch Wind und Sand und Fels, und immer wieder wiederholt sich die Wüste und ist nie gleich. Mit allem muss man sparsam umgehen (leider, wie ich finde - denn auch das Akkordeon ist hier auf der CD sparsamer eingesetzt als beim Live-Auftritt, live ist Matinier aktiver, fetziger, noch geiler als hier mit ca. zwei leise explodierenden Soli). Ob das "orientalisierend" ist oder der maghrebinische style mal mehr oder mal weniger durchschlägt mag Musikwissenschaftler interessieren. Ich lausche der Wüste, einer Sinfonie mit drei Instrumenten, einer Welt aus einem Ton.


Tinariwen: Aman Iman – Water Is Life (2007)
Wenn der Wind die Felsen raspelt (Rezension)

Der Touareg-Rock ist kein Fels in der Sahara, sondern die Musik von Tinariwen. Aber diese pulsiert so stetig und kraftvoll, dass sie wie der andauernde Wind in der Wüste die Felsen glättet, sie bröckeln macht und als Sand wegbläst. Da steckt Kraft drin, die man gar nicht sofort merkt. Im Konzert spürte ich erst nach etwa einer Stunde oder so, dass etwas passiert war, dass die "fabrik" zu einem Ort der Kraft geworden war, ohne alle Esoterik oder Handauflegen, und da störten nicht einmal war die Möchte-gern-Frank-Zappa-Allüren des Lead-Gitarristen nachhaltig. Echte Wüsten

Mira
Hypnotisches Lagerfeuer

Mirah singt mit ihrer Kleinmädchenstimme zu einem Gemisch aus Folk, Red Hot Chili Pepper-Sound, Rumpelrock und mischt aus den Ingredienzen einen Zaubersang, der sich auf kürzestem Weg durchs Mittelohr in die Gefühlsschublade für bittersüße Wahrheiten schlängelt. Das ist absolut überzeugend und bewegt sich in einer anderen Liga als viele der anderen Sänger, die dem Belcanto abschwören und eine natürliche (oft aber einfach unausgebildete oder dilettantische) Stimme darbieten wollen. Mirah kann's.



Eric Burdon, Best of (2006)
Der Untergang (Rezension)

Eine traurige Geschichte. Eine der größten Bluesrockstimmen meiner Jugend wird verramscht. Wie konnte es dazu kommen? Die Neuaufnahmen der größten Animal -Hits und eines Titels, den Burdon zusammen mit War aufgenommen hatte, lassen mich in den Abgrund blicken. Die Stimme ist meistens da. Ein paar Mal liegt sie einen achtel Ton oder so daneben, na ja, so singt er halt. Aber diese Band: Wieso tut er sich das an? Merkt er denn nicht, dass das so nicht geht? Die Studiumusiker sind wahrscheinlich auf ihren Instrumenten jeweils besser, als es die meisten Animals je waren. Aber der Name der alten Band war eben doch auch Programm. Das war tierisch, was sie brachten, und es war immer an der Grenze dessen, was sie gerade noch hinkriegten (eigentlich nur selten darüber hinaus). Jetzt bleibt da, wo auf Monterey im Original eine giftige Klangwolke am Horizont droht, nicht mal eine Stinkbombe. Eher ein Wölkchen Siebenundvierzigelf. Tanztee, wo existenzielle Bewegung war. Die Flöte auf Spill The Wine wird aus dem Synthesizer gequetscht, das allein reicht zur ewigen Verdammnis. Einen Saxophonisten wollte man sich auch nicht leisten, auch dafür gibt es einen Knopf auf dem Synthi. Ich phantasiere: Da gab es einen Sänger, der schon immer fand, er wäre der beste aus der Gruppe, und so hob er seinen Namen heraus ( Eric Burdon & The Animals ) und dann begann er eine Solokarriere. Er trank zu viel und schrieb mittelmäßige Songs, so wurde es nichts mit dem Erfolg. Er schlug sich jahnrzehntelang mit miesen Club-Engagements durch. Irgendwie musste doch mehr Geld zu verdienen sein! Da gab es diese alten Titel, die waren erdig und echt und wurden Kult. Aber die Einnahmen flossen an die musizierende Band, und alle verdienten mit. Da nahm er kurzerhand die besten Titel neu auf, mit einer beliebig zusammen getrommelten Studio-Truppe, und beweist doch nur eines: in echt waren sie gut, Meilensteine der Rockgeschichte, nicht zuletzt wegen dieser Stimme. Aber er war eben nur gut mit seinen Bands, mit den Animals und mit War. Geschäftlich und musikalisch war er ansonsten ein Looser. Wenn auch einer mit einer Stimme, die ihresgleichen suchte.

Chris Rea: Blue Guitars (11 Cds, 2005)
Schnellziehende Wolken vor Sternenhimmel

Es klingt wie ein ganzes Leben. Und ein Leben hat seine spannenden Momente und seine Hänger, da beißt die Maus keinen Faden ab. 137 Songs. die ein ganzes Leben abbilden - nicht alle will ich immer hören. Aber fast alle schmecken nach einer Erinnerung, nach einem Bild, einem Film, Chris Rea ist ein großer Andeuter. Er kupfert die Supremes nicht ab, aber ich höre sie. Spencer Davis weht durch den Raum, Linton Kwesi Johnson, meine ganze musikalische Biografie wird irgendwie bewegt. Chris Reas Gitarrenkünste - na ja, er weiß ja selbst, dass er nicht so flink ist wie andere. Seine Malerei - zu oft gesehen in esoterischen Heilpraktiker-Zentren oder Engelssälen. Aber seine Fähigkeit, Leben in Klänge zu verpacken ist genial. Das macht dies Opus zu einem wahren Lebens-Werk. Wolken ziehen über den nächtlichen Himmel und manchmal verdecken sie die Sterne. Aber das Leuchten hört nicht auf.

 

 

Dinning Sisters: Almost sweet and gentle (Doppel-CD, 2001))
Süße Sahne, lecker!
Die Dinning Sisters stammen aus einer Zeit, als das Leben echt schwer war: Mitte, Ende der vierziger Jahre hatten die Leute keine Lust auf schwere Kost. Die Songs der Dinning Sisters kamen da gerade recht. Eine so leichtfüßige Mehrstimmigkeit silbriger Frauenstimmen gibt's so schnell nicht wieder. Dagegen waren die Andrews Sisters irgendwie behäbig. Gleichzeitig war der Gesang und waren die manchmal gesprochenen Zwischentexte so original "american way of life", dass es wie eine Vertonung amerikanischer Lebensweisheiten anmutet, eine fiktive Filmmusik zu einer ebenso fiktiven Dokumentation der amerikanischen Spießigkeit des Mittleren Westens, aus der sich die jungen Leute auf eine pfiffige Art und Weise befreien, singend, und man wünscht ihnen alles Gute...