Klima und Turbulenz

 

Wetter und Ethik im Wandel: Reise nach Prag und Wien im Juni 2024

 

 

Donnerstag, 30.5.24 / Freitag 31.5.

 

Wir lassen die Reise nach Prag langsam angehen. Am ersten Tag soll es bis ins Saale-Tal gehen, zu einem Zwischenstopp vor der morgigen Ankunft in Prag. Dass wir zuhause erst nach elf Uhr loskommen macht nichts, wir haben ja nur wenig über dreihundert Kilometer vor uns. Den ersten Stau auf der Autobahn zwischen Dibbersen und dem Horster Dreieck umfahren wir geschickt und sind dann auf der Rollbahn nach Südosten. Den zweiten Stau umfahren wir auch mit Unterstützung des  Navi und sind dann schon zwischen drei und vier Uhr fast in Sichtweite des angezielten Campingplatzes. Allerdings stand schon auf der Homepage, dass es nicht so leicht ist, den Platz von Norden aus zu erreichen – Baustellen hier und dort. Stimmt. Sackgassenschild hier, Bahnübergang  gesperrt dort, das Navi ist ratlos und Google weiß nicht weiter. Ehe wir mit dem Wohnwagengespann in eine gesperrte  Straße ohne Wendemöglichkeit reinrauschen, folgen wir jeder angebotenen Umleitung dankbar. Wir werden von Könnern (so heißt der Ort, nicht die Gruppe der Umleitenden) über Alsleben und Gnölbzig geführt, die Straße ist mittlerweile zu Kopfsteinpflaster übergegangen, schwer denkmalschutzverdächtig und Pflegestufe drei, und der Regen nimmt Kurs auf Starkregen. Wir kehren um, als wir den nun erneut erreichten Ort schon kennen, und kommen als nächstes auf die Straße nach Ihlewitz. Das Kopfsteinpflaster stört mittlerweile weniger, weil wegen massiv prasselndem Regen sowieso nur eine Geschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern möglich ist. Wir werden Zeugen einer unerwarteten Entwicklung: Die schlechten Wegeverhältnisse werden nach Eintritt in den nächsten Ort noch schlechter. Zwar ist es hier kein  Kopfsteinpflaster mehr, sondern Asphalt – aber ebenso archäologisch relevant, es sind mindestens vier Asphaltschichten mit jeweils unterschiedlicher Schlaglochtiefe, man kann nur noch im Schritttempo fahren. Dafür lässt der Starkregen nach. Entwarnung - Bäche sind nicht über die Ufer getreten. Unterführungen sind nicht abgesoffen. Insofern ein ganz normaler Wetterwechsel. Als wir auf dem Saaletal-Camping ankommen, sind wir trotzdem irgendwie fertig.

 

Am nächsten Morgen frühstücken wir im Sonnenschein auf dem Bootsanleger an der Saale. Die Schwalben zischen über die Wasseroberfläche, wie es sich gehört. Ich habe den ersten Kuckuck dieses Jahres gehört. Ein Buntspecht war ungewohnterweise im Wiesengras unterwegs, ehe er eine kleine Birke ausprobierte (war aber, wie zu erwarten, nichts für ihn). Ein sehr junger Buntspecht vermutlich.

 

Wir kommen wieder erst gegen elf auf die Straße, dafür ist die etwas unübersichtliche Weiterfahrt Richtung Prag kein Problem, weil das Navi aufmerksam den Anweisungen des Campingplatz-Fiez gefolgt ist und uns gut auf die E55 nach Tschechien bringt.

 

Leicht beunruhigt sind wir dann auf dem Weg nach Prag, weil wir am Automaten für die Autobahnvignette (wie wir erst verspätet feststellen) eine falsche Autonummer angegebene haben. Es fehlt eine 19, weil man das kennzeichenwahlbestimmende „1989“ ja gern auf „89“ verkürzt, aber im Kfz-Kennzeichen heißt es nun mal unmissverständlich 1989… mal sehen, was die Elektronische Kennzeichenerfassung dazu sagt…

 

Dann holt uns der Starkregen nach stundenlanger Sonnenfahrt wieder rein. Anhalten oder durchfliegen? Wir schwimmen mit dem Verkehr bei fünfzig Stundenkilometer weiter, und das ist durchaus zügiger als es dann in Prag die letzten zwanzig Kilometer bis zum Campingplatz weitergeht, nur dort mit weniger Regen. Das ist aber auch wenig bedeutsam, weil sowieso der größte Teil der Strecke durch einen Kilometer um Kilometer andauernden Stadttunnel führt. Als wir den Campingplatz am Ende der Welt mitten auf einer Moldauinsel in absoluter City-Nähe (alles eine vielfältiger Widerspruch in sich) erreicht haben, findet Linda nach einer halbherzigen Entscheidung für einen Stellplatz den definitiven Super-Platz mit Blick auf Moldau, Blick auf die aufgefelste Kirche Peter und Paul auf dem Hügel  Visehrad über dem Fluss, auf die historischen und die modernen Straßenbahnen am andern Moldau-Ufer vor den Felsen, und auf dem Fluss ein Trainingscamp für Achter-Ruderboote und auf Ausflugsboote mit und ohne Discobeschallung, es ist skurril und lebendig und wir sind happy, hier angekommen zu sein. Der Regen hat aufgehört.

 

 

 

Sonnabend, 1.6.24

 

Wir haben herausbekommen, dass in Prag alle über 65 Jahre alten Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln umsonst mitfahren. Das gilt auch für die kleine Fähre, die zwei Fuß-Minuten vom Campingplatz entfernt über die Moldau setzt und uns einen Umweg von drei, vier Kilometern auf dem Weg in die Altstadt erspart. Wir spazieren direkt am Ufer eine gepflasterte Kai-Straße entlang, die Autos fahren ein paar Meter höher nebenan, alles ist sehr entspannt. Allerdings steht überall Security herum, weil die Ruderer heute auf diesem Moldau-Abschnitt einen Wettkampf austragen und der mit drei Kamerateams begleitet wird und auf eine Großbildleinwand übertragen. Eine kleine Zeltstadt mit Sektbar wurde aufgebaut und auf einem Tisch werden die Medaillen sortiert, die Zuschauermassen sind allerdings überschaubar. Wir wandern über den Karlsplatz und zum Wenzelsplatz. Die beiden großen Plätze sind in aller Unterschiedlichkeit (der eine grün, der andere zugepflastert) wenig überwältigend. Beim Wenzelsplatz kann man allerdings gut sehen, wie die Lebens- und Aufenthaltsqualität an dem Ende, an dem nach Umbauarbeiten die Autos wegorganisiert sind, blitzartig zunimmt. Auf dem Rückweg kommen wir an dem von einem Buchholzer Nachbarn wärmstens empfohlenen Traditionsrestaurant „U Fleku“ vorbei, so eine Art Prager Hofbräuhaus. Drinnen ergattern wir zwei Sitzplätze, was jetzt um fast sieben Uhr gar nicht so selbstverständlich ist, und haben innerhalb weniger Minuten unsere zwei Bierkrüge vor uns und eine kleine Vorspeise,  hier geht alles bestens organisiert und sehr zügig. Es gelingt uns gerade noch, ein nettes Gespräch mit unseren Berliner Tischnachbarn zu führen, dann sind wir schon wieder draußen. Zum Glück waren die Musikanten auf ihrer Rundtour durch U Fleku noch nicht in unserem Saal angekommen gewesen, so weit ging unsere Traditionssehnsucht denn doch nicht.

 

 

 

Sonntag, 2.6.24

 

Nachdem gestern der Tag meist sonnig und warm gewesen war, könnte es heute durchwachsen sein, sagt die Wetter-App. Wir fahren mit dem Fahrrad nach Smychov, einem Stadtteil südlich der City, mit viel Bahngleisen und Kopfsteinpflaster und abgerockten Häusern, aber auch schönen Jugendstil- und Barockfassaden am Moldau-Ufer. Nur leider fängt es an zu regnen. Den ersten Schauer warten wir unter dichten Büschen auf unserer Picknickdecke ab, dann kommt die Sonne kurz wieder hervor und wir nähern uns unseren Zielen – einem kulinarischen und einem kulturellen. Der italienische Supermarkt mit Delikatessen, Wein und Bar erinnert uns an unser Hamburger Andronaco, wirkt in Smychov ein bisschen wie ein Gentrifizierungs-Raumschiff, aber stylisch. Wir würden uns nach Erwerb von Käse und Salami nicht unbedingt noch so lange hier aufhalten – aber mittlerweile hat draußen ein derartiger Starkregen zu prasseln begonnen, dass wir bei einem Espresso noch ein Viertelstündchen abwarten. Dann scheint der Regen weniger zu werden, und der Weg zum Kulturprojekt „Meet Factory“ (ehemals Fleischfabrik, wie der Name verrät) ist nicht weit, und der Gewitterdonner zieht wohl auch wieder ab. Aber kaum sind wir wieder auf der Straße, geht es erst richtig los. Ein SUV, der dicht am Bordstein durch die Pfützen (Seen) brettert, gibt mir eine volle Breitseite Spritzwasser, und zusammen mit dem Sturzbach von oben bin ich bis auf die Haut durchnässt. Wieder am Wohnwagen angekommen, kann ich mir alles ausziehen und es zum Abtropfen im Auto ablegen, und mit trockenen Klamotten und nach einer kurzen Pause koche ich in der Gemütlichkeit des Wohnwagens bei einem  Gläschen Grauburgunder ein nettes Reisgericht mit Thunfisch-Paste aus dem italienischen Supermarkt, mit Paprika-Oliven-Gemüse und einem kleinen Salat, und das Wetter kann uns gestohlen bleiben.

 

 

 

Montag, 3.6.24

 

Heute trocken. Aber trüb, die Sonne bleibt hinter den bleigrauen Wolken. Mit Fähre und Straßenbahn zum Rentner-Tarif in die Stadt, ein kleiner Abstecher über die Karlsbrücke (noch immer so voll, wie wir sie schon vor zwanzig Jahren erlebt haben), und dann suchen wir die Hauptpost. Dort wollen wir klären, was wir tun sollten, nachdem wir festgestellt haben, dass wir auf dem Formular für die Maut-Vignette beim Kennzeichen zwei Zahlen vergessen haben. Wie, das kann doch nicht sein? Doch, doch, das passiert manchmal einfach so, und wir haben nun also die knapp zehn Euro für eine Zehn-Tages-Vignette bezahlt, aber wenn das elektronische System uns mit dem echten Kennzeichen erfasst, wir es feststellen, dass es für unser (vollständiges) Kennzeichen keine Zahlung am Automaten gibt, wer weiß, wie weit wir da kommen. Haute waren schon verdächtig viele Polizeiautos mit den grellen Sirenen (wie in den Straßen von San Franzisco) unterwegs, wer weiß, ob die nicht auf der Jagd nach Vignetten-Sündern waren... Die Hauptpost soll die Möglichkeit haben, in das Vignetten-System einzusehen, hat man uns in der Tourismus-Information mitgeteilt. Bei der Hauptpost bekommen wir eine Nummer und warten, dass wir zu einem der zweiundvierzig Schalter gerufen werden. Dort kann man uns aber nicht weiterhelfen, weil das Computersystem heute vollkommen ausgefallen ist. Ob es morgen wieder funktioniert, weiß keiner.  Sie können uns auch nicht für den morgigen Tag, an dem wir die Tschechische Republik in Richtung Wien verlassen wollen, eine Eintages-Vignette verkaufen,  weil eben das Computersystem… also streifen wir noch etwas durch die Stadt auf der Suche nach Vierteln, die nicht so überlaufen sind wie der Altstädter Ring oder andere Hotspots, und essen schließlich in dem fast leeren, großen und historischen Restaurant Deminka typisch böhmische Küche, wo sogar die Knödel schmecken (die uns Norddeutschen sonst eher suspekt sind).

 

Gegen Abend gelingen mir noch ein paar schöne Bilder beim Radeln, als ich an den ausgedehnten Bahnanlagen des Bahnhofs von Smychov  ein Abstellgleis entdecke, auf dem ein Dutzend historische Waggons und Schienenfahrzeuge vor sich hin rosten und einer unklaren Bestimmung harren. Sogar ein alter Reichsbahnwaggon ist dabei, mit DR-Beschriftung und einem (Reichs?)Adler, den ich nicht der DDR-Bahn zuordnen kann, aber stammt der wirklich noch aus dem Dritten Reich? Dunkles Prag.

 

 

 

Am nächsten Morgen verlassen wir Prag, ohne dass uns (wie den Zeltnachbarn gestern nacht) die E-Bikes geklaut wurden. Direkt vom Zeltplatz, angekettet, nicht weit weg von der Camping-Überwachungskamera, die aber defekt ist. Auf die Bestätigung mancher überstrapazierter Klischees (Obacht, dieser Campingplatz auf der Moldauinsel…) könnte ich verzichten.

 

 

 

Dienstag, 4. Juni 24

 

Kurz vor Erreichung des Campingplatzes in Klosterneuburg vor den Toren von Wien wollen uns einige Straßensperren aufhalten: Durchfahrt verboten, Hochwasser. Es sind aber Barrieren, die die Straße nur halb sperren, also können wir sie umfahren und stellen erleichtert fest, dass der Campingplatz zwei, drei Meter über dem Niveau der Donau-Au liegt und daher nicht vom Wasser überspült wird. Respekt flößt einem der randvolle Fluss aber schon ein…

 

Der kurze abendliche Radspaziergang über den Klosterberg des Städtchens zeigt uns die Fassaden einer großen Vergangenheit. Etwas überladen, etwas übertrieben, alles eine Nummer zu prätentiös, und überaus gut gepflegt. Das trifft nicht für alle Mietshäuser des Städtchens zu, aber die Kirche achtet auf ihr Äußeres. Der Klosterplatz ist menschenleer, nur eine leicht durchscheinende Person mit wedelnden Handbewegungen und einem durchgängigen Gesprächskontakt zu einer Sphäre, die uns nicht zugänglich ist, schwebt vorbei, mäandriert über den Platz. Meine psychiatrische Vergangenheit schwebt mit.

 

 

 

 

 

Mittwoch, 5. Juni 24

 

Von Klosterneuburg bis Wien Zentrum sind es nur 14 Kilometer. Wir fahren mit dem Rad zunächst an der Donau entlang und biegen dann ab längs des Donaukanals. Der Weg abseits der Straße ist auf der wasserabgewandten Seite flankiert von Kasematten, die vorwiegend dem Straßenbahn- und S-Bahnverkehr dienen. Und vor allem, das ist ihre hervorragende Bedeutung, den Graffiti. Kilometer um Kilometer reiht sich ein gelungenes piece an das andere, dazwischen immer die üblichen Versuchsfelder und tags, irgendwo muss man ja üben. An manchen Stellen kann man sehen, dass hier hundert Meter als offizielle Graffiti-Flächen zur Verfügung gestellt wurden, die Werke wirken besonders geplant und durchkonzipiert, aber manchmal etwas steriler als die „wilden“ Flächen dazwischen. Ein buntes Entrée in die große Stadt, wir fühlen uns willkommen.

 

Der anschließende Spaziergang durch die Stadt ist eine gemischte Erfahrung. Einige im Reiseführer als besonders geschlossene und stimmige Orte gepriesenen Plätze sagen uns gar nichts, aber der Stadtpark mit dem kurzen offen fließenden Teil der  Wien (einem Flüsschen, das weitgehend überbaut ist) ist sehr lebendig, urban und barock in einem, und am Ende des Parks verschwindet die Wien im Untergrund wie im Film der Dritte Mann.  Im Stadtpark-Biergarten lässt sich der Hunger gut stillen. Das Hundertwasserhaus, das wir dann noch ansteuern, ist sichtlich in die Jahre gekommen und wird durch das angeschlossene „Hundertwasser-Village“ (eine Ansammlung von geschmacksverstörenden Kitsch-Andenkenläden) schwer belastet. Man gut, dass wir auf dem Rückweg wieder an den ganzen Graffiti vorbeiradeln.

 

 

 

Donnerstag, 6. Juni 24

 

Schon von zuhause hatten wir eine Ausstellungsführung im QueerMuseumVienna gebucht: „Is queer political?“ Die Frage hatten wir für uns schon vorher beantwortet, aber das Event hatte doch ungeahnte Dimensionen parat.

 

Das „Museum“ in fünf Räumen liegt in einem 120 Jahre alten Bau, der zum Komplex „Am Steinhof“ gehört. Erst im Gespräch mit einigen ortskundigen Besuchern wird mir klar, dass ich den Namen kenne – aus der Beschäftigung mit der Rolle der Psychiatrie im Dritten Reich, ganz speziell auch im Holocaust bzw. der Tötung lebensunwerten Lebens. Wir hatten per Navi die Adresse des QueerMuseumVienna angesteuert und den Kontext nicht durchschaut, wo dieses Museum liegt. Das Krankenhaus Steinhof wurde 1907 eröffnet als Psychiatrische Klinik, umfasste fast sechzig große Pavillongebäude in parkähnlicher Hanglage mit der Krönung einer Jugendstilkirche ganz oben auf dem Hügel. Die Klinik hatte ursprünglich ungefähr 2000 Patienten und Patientinnen, 1937 war diese Zahl auf 3700 gestiegen. Diese wurden von 27 ÄrztInnen und fast 600 MitarbeiterInnen in der Pflege versorgt. Das Krankenhaus war konzeptionell durchaus fortschrittlich gestartet, konnte aber den tödlichen Missbrauch unter den Nazis nicht verhindern, sondern tat mit.  Im Dritten Reich wurden hier 800 Kinder ermordet und an die 6000  Patienten wurden deportiert in Vernichtungslager.  Die Nutzung der in der Pathologie konservierten Organe (vor allem Gehirne) der in der Klinik  getöteten Kinder  ging auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch bis in die achtziger Jahre weiter. Heute ist nur noch ein Teil der Anlage ein Bezirkskrankenhaus mit Orthopädie, sozialmedizinischen Aufgaben und einer Abteilung für Atemwegserkrankungen. Größere Bereiche sollen kulturell und künstlerisch genutzt werden, zum Beispiel im Rahmen der Wiener Festtage, und seit einem halben Jahr ist hier nun auch das QueerMuseum untergebracht, zunächst befristet bis Ende des Jahres.

 

Die hohen alten Räume des „Museums“ sind frisch hergerichtet und zeigen in der aktuellen Ausstellung Werke von sieben größtenteils osteuropäisch-asiatischen Künstler*innen. Sie machen die politischen Kontexte in den unterschiedlichen Ländern zum Thema: Da gibt es zarte hellgraue Aquarelle von Alltagsgegenständen, die in Prozessen zu Gewalttaten gegen queere Personen in Russland als Beweismittel gesichert wurden. Da gibt es eine große Phantasie, die in einer Collage eine ganze Stadt voller queerer Träume in Pakistan bebildert, die  es hätte geben können, wenn nicht die religiöse Engstirnigkeit und die kolonial-britische Sexual-Phobie strenge Gesetze und Verbote einbetoniert hätten. Es gibt eine lange Video-Präsentation über die Verbindung von Hydrazoa, einer Art Süßwasserpolypen mit wahlweise ein- und zweigeschlechtlicher Fortpflanzung, die also schon früher die Gender-Fesseln gesprengt hatten, und der aktuellen binären Lebenswelt, in die wir hineinerzogen wurden und die eine freie Wahl nicht erlaubt. Welche Hydra-Freiheit! Allerdings gibt es zahllose andere Einschränkungen, unter denen allerdings die Hydra kaum leidet, weil sie sich nicht kennt. Kein Licht ohne Schatten.

 

Ein Ausstellungs-Teil über queere Lebens- und Genussweise (wobei Genuss keinesfalls immer oder vorwiegend sexuell gemeint ist) passt in den Kontext der Geschichte Am Steinhof hervorragend hinein. Unterdrückung queerer Lebensweise und Haltung in vielen Ländern (bis zur existenziellen Verfolgung) ist nicht weit weg von der Ideologie unwerten Lebens der Nazis. Was heute anders ist: Es gibt diese Orte einer selbstbewussten Reflexion in politischen und künstlerischen Kontexten, die in dieser Art schon in den zwanziger Jahren aufgeblitzt sind, aber dann brutal zerstört wurden in vielerorts bis heute zerstört bleiben. Der Ort selbst  liegt allerdings etwas ab am Stadtrand, deshalb sind sich die Organisatoren noch nicht so sicher, ob sie nicht eine Lokalität im ersten Wiener Bezirk anstreben sollten. Wo auch immer: Das Museum soll eine strahlende Zukunft haben, wünschen wir uns und ihm.

 

Und wir haben vor, noch einmal zurückzukehren, weil die Gedenkstätte Am Steinhof und die Jugendstilkirche jetzt schon geschlossen hatten.

 

 

 

Sonnabend, 8. Juni 24

 

Wir fahren mit der S-Bahn in die Stadt und erkunden den Yppenplatz und den Brunnenmarkt. Die gepriesenen Graffiti am Platz sind überschaubar und nett, aber lohnen nicht unbedingt weitere Anreise. Der Markt und die Atmosphäre auf dem mulikulturellen Platz allerdings sind entspannt und wuselig in eins, und in dem vierzig Jahre alten vegetarischen Restaurant „Essen ohne Grenzen“, dessen Speisekarte von Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und sonstwoher zusammengestellt wurde, genießen wir Auberginen-Wickel mit Schafskäsefüllung und Oliven und eine leckere selbstgemachte Limonade.

 

Danach setzen wir uns eine Stunde lang dem Wummern der Mega-Lautsprecheranlagen aus, die auf jedem der Laster der Regenbogenparade über den "Ring" donnern, die Hauptverkehrsader rund um die City. Die „Vienna Pride“ ist eine der ältesten queeren Demonstrationen Europas, und sie ist in gleißendem Sonnenschein gut besucht (300.000 Menschen wurden erwartet) und z.T. wenig bekleidet. Es macht Spaß, junge Leute zu sehen, die offensichtlich sehr genießen, sich frei und ohne bürgerliche Einschränkungen kleiden und bewegen zu können. Man sieht viel Haut, einige sehr schöne und gestylte Menschen, andere sind so wie sie sind, über- oder untergewichtig, und zeigen genauso viel Haut. Alles gut.

 

Wir sehen die letztzen zwanzig Wagen des Zuges, die anderen sind schon vorbei. An dem Ende des Zuges, den wir sehen können, sind von zwanzig Wagen sicher die Hälfte von Behörden und Banken, Vodaphone und Politgruppen wie den Neos gestaltet und finanziert. Manche Figuren auf den Wagen sehen ungefähr genauso progressiv aus wie die Vorsitzenden der Karnevalsvereine im Kölner Rosen Montag oder der Vorstand der örtlichen Sparkasse. Das Bürgertum nimmt die queere Bewegung zur Geisel, das ist nicht schön. Aber wohl auch  kaum zu vermeiden und ja irgendwie auch ein  positives Zeichen, dass progressive Strukturen nicht in der Schmuddelecke bleiben müssen. Nun müssen sie sich im bürgerlichen Umfeld beweisen. Aber sehr lange hält es uns nicht, und da kommen auch schon ein Dutzend Kehrmaschinen und drei Dutzend orange gekleidet Müllmänner, die hinter dem Zug gleich saubermachen. So viel Kleinbürgerlichkeit muss dann doch sein.

 

 

 

Sonntag, 9. Juni 24

 

Am Freitag waren wir mit dem Fahrrad aufs Geratewohl losgeradelt und über Kierling nach Maria Gugging gekommen. Dort stießen wir auf einen kantigen Neubaukomplex im Niemandsland, der das Institute for Science and Technologie Austria (ISTA) beherbergt, kaum jemand war zu sehen und wir drehten schnell ab. Mich ließ aber eine Ahnung nicht los, den Namen Gugging irgendwie kennen zu sollen. Und zuhause im Wohnwagen googelte ich dann – na klar, das war die Klinik, in der seit den vierziger Jahren Leo Navratil seine verdienstvolle Förderung psychisch erkrankter Menschen und ihrer künstlerischen Qualitäten praktiziert hatte. Die Psychiatrie wurde 2007 nach über hundertjähriger Arbeit geschlossen, scheinbar hatte es dieser Urlaub darauf angelegt, mich mit geschlossenen Psychiatrien zu konfrontieren, wo immer es ging. Die Wissenschaft zog ein, aber es blieb die Kunst. Und die wollten wir uns ansehen, im Rahmen des Tages der Offenen Tür im ISTA wurde auch eine Führung durch das Museum Gugging angeboten. Mit dem Fahrrad ging es eine halbe Stunde berghoch.

 

Im Museum ist  „outsider“-Kunst aus Gugging zu sehen und in einer Sonderausstellung die deutsche Malerin Elsa Blankenhorn, die mit zahlreichen Werken auch in der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung vertreten ist. „Art Brut“, rohe Kunst, ist ein Versuch, diese Kunst der damals so genannten Geisteskranken zu kennzeichnen. Aber eine Zusammenfassung ist schwierig, zu unterschiedlich sind Stile und Handwerk. Die seriellen Menschenketten von Oswald Tschirner, die opulent ausufernde Welt-Bemalung von August Walla, die feinstrichigen Flächen von Laila Bachtiar – jeweils eine Welt für sich. Die größte Gemeinsamkeit, der man beim Ausstellungsrundgang begegnet, ist die Unterschiedlichkeit und Eigenheit. Insofern ein schönes Bild für die Psychiatrie-Bevölkerung: Jeder für sich eine eigene Welt. Spannend ist es, sich dazu in Beziehung zu setzen.

 

Ich begegne meiner eigenen psychiatrischen Vergangenheit, als Linda mit einer jungen Frau ins Gespräch kommt, die aushilfsweise im Museum arbeitet und deren Bruder schizophren erkrankt ist (wie sie sagt). Mit Interesse hört sie meinen stichwortkurzen Bericht über eine langjährige therapeutische Arbeit mit einer Patientin, die seit dem Ende der Therapie nun fünfzehn Jahre ohne krankheitswertige Beschwerden lebt. Sie selbst, erzählt die Frau, leide unter massiven Ängsten und halte den Druck toxischer Beziehungen nicht aus, in denen sie sich wiederholt fand. Das Leben ist auch in Gugging, und die künstlerische Arbeit wird fortgesetzt. Der Bruder hat eine Zeichnung angefertigt, die als Logo des Museumscafés verwendet wird. Und ein paar hundert Meter weiter leben im Künstlerhaus nach wie vor Patienten oder ehemalige Patienten und malen. Das Haus ist etwas prosaischer, als es das im Netz präsentierte Foto einer total bunten Wand vermuten lässt, Ausschnitt ist alles. Alles ist nur ein Ausschnitt.

 

 

 

Dienstag, 11. Juni 24

 

Nach so viel Stadt zieht es uns in die Natur. Als Kind war ich mit meinen Eltern mal am Neusiedler See gewesen, es gab nichts zu sehen als Schilf und ich fand es total langweilig. Eine Überprüfung steht an. Wir fahren eine Stunde nach Illmitz, kurz vor der ungarischen Grenze und auf der weniger belebten Seite des Sees. Nach einem Picknick mit Blick auf Stelzenläufer, Stockenten, Reiher und Flussseeschwalben wandern wir parallel zum Seeufer, wollen zu einem Aussichtsturm und dem Gelände der hier gepflegten weißen Esel. Die Landschaft ist zu einhundert Prozent unspektakulär: flach, unter weitem Wolkenhimmel, mit der ganzen Palette denkbarer Grüntöne in Gräsern, wenigen Büschen, mit zahllosen Blütenfeldern aus Wicken, Natternkopf und Lilien. Es liegt eine unglaubliche Ruhe über dem Ganzen, nur Vögel beleben das Geschehen, und es beeindruckt uns, wie nach dem Ende der landwirtschaftlichen Nutzung vor Jahren oder Jahrzehnten der  Wein sich ziemlich wild fußballfeldgroße Flächen erobert, Büsche und Weiden überwuchert und überhaupt Wildnis vortäuscht. Auf dem ganzen Weg begleiten uns die Schachbrettfalter in ihrem taumelnden Flug.

 

Die weißen Esel bilden eine Herde von ungefähr einem Dutzend Tieren. Weltweit gibt es noch  dreihundert ihrer Art, sie werden hier geschützt und gezüchtet. Die Tiere sind sehr auf Kontakt untereinander aus, legen ihre Köpfe aneinander, keiner entfernt sich unziemlich weit von der Gruppe. Beobachten kann man sie auch von einem eisernen Turm, der früher an der österreichisch-ungarischen Grenze auf der anderen Seite stand und den man hier bei Schwindelfreiheit ersteigen kann.

 

 

 

 

Mittwoch, 12. Juni 24

 

Beim ersten Besuch des Steinhofs konnten wir weder die Jugendstilkirche noch die Dokumentation zur Geschichte der Klinik im Dritten Reich und danach besuchen, weil wir zu spät dran waren. Wir holen das nach und finden uns in einem merkwürdigen Spannungszustand, den wir nicht auflösen können. Die Dokumentation einem einem der alten Klinikgebäude ist ausführlich und erschütternd. Der bis ins letzte Formblatt durchorganisierte Massenmord an psychiatrischen Patienten ist nahezu vollständig archiviert. Das führte aber zu wenig juristischer Verfolgung nach dem Ende des Dritten Reichs. Einer der Haupttäter des wissenschaftlich verbrämten hundertfachen Kindermords, der Psychiater Heinrich Gross, wurde zunächst 1950 zu zweijähriger Kerkerhaft verurteilt, aber das Urteil wurde wegen eines Formfehlers verworfen und die Sache verlief im Sande. Gross hatte sich mittlerweile der Unterstützung der Sozialistischen Partei  gesichert, seine Mitgliedschaft war sicher nicht hinderlich dabei, als er Jahrzehnte später 1968 ein eigenes Institut zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems erhielt. Erst viel später wurde er aus der SPÖ ausgeschlossen. Jahrzehnte später war Gross immer noch ohne neue Anklage, weil die Staatsanwaltschaft ihn nicht wegen Mord, sondern nur wegen Totschlag anklagen wollte, und der war verjährt.  Ein neues Verfahren wurde erst 1997 aufgenommen, aber wegen der nunmehr eingetretenen Verhandlungsunfähigkeit des Psychiaters nicht abgeschlossen. Thema durch…

 

Auch aus Hamburg sind mindestens zehn Kinder vor allem aus den Alsterdorfer Anstalten in den „Spiegelgrund“, die Kinderklinik am Steinhof, verschoben worden und hier gestorben. Die Gehirne waren noch lange nach dem Dritten Reich am Spiegelgrund eingelagert. Erst spät kamen sie wieder „nach Hause“ und wurden in Hamburg beigesetzt.

 

Nach diesem erschütternden Rundgang besuchen wir die vom Erbauer der gesamten Klinikanlage 1907, Otto Wagner,  entworfene Jugendstilkirche auf dem Hügel. Schon ihr Äußeres beeindruckt mit den Goldenen Engeln über dem Portal, selten sah ich einen so lupenreinen Jugendstil. Im Inneren überrascht die Helligkeit. An den Seitenwänden dominieren zwei große Glasfenster, die die barmherzigen Wohltäter des Leibes und des Geistes abbilden: der heilige Martin, die heilige Elisabeth usw. mit ihren leiblichen Wohltaten, der heilige Franz von Sales oder Johannes der Täufer für die seelische Erlösung. Koloman Moser hat sie entworfen, der aufgrund seines Übertritts zur evangelischen Kirche dann die weiteren Arbeiten anderen Künstlern überlassen musste (ich finde, man sieht das und bedauert es). Bei aller Distanz zu diesen kirchlichen Emotionen hat mich die große Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit der Fenster berührt.

 

Der eingangs erwähnte Spannungszustand rührt von dem Gegensatz: hier die helle, hoffnungsvolle Atmosphäre der Kirche, voller angedeuteter Versprechungen und Heilsbotschaften. Dort das Grauen und die ganzen toten Kinder (deren Schicksal hat mich ganz besonders bewegt). Dazwischen nur zweihundert Meter Parklandschaft und ein Blick über ganz Wien. Wie war das möglich – und bleibt es so unwiederholbar, wie man derzeit wähnt? Oder in welcher Form treffen wir wieder auf die Menschenverachtung und Gewalt, an der vor nur achtzig Jahren so viele beteiligt waren? Vor dem Hintergrund der aktuellen populistischen Strömungen wirkt es zynisch, die Botschaft der Kirche hier am Steinhof so unkommentiert zu präsentieren, ohne den Bezug zur Umgebung mit der brutalen Vergangenheit mit einem Wort zu erwähnen. Die Kirche gehört zum Konzern  „Wien Museum“. Leider können wir an der dort angebotenen Führung „Wien im Nationalsozialismus“ nicht mehr teilnehmen. Ich befürchte, unsere Fragen würden auch dort nicht befriedigend beantwortet werden können.

 

Auf dem Rückweg wollen wir über die Höhen des Wienerwaldes zurück nach Klosterneuburg fahren und kommen durch Zufall (wie immer der Zufall) an der Otto-Wagner-Villa vorbei, das der Erbauer der Klinik und der Kirche am Steinberg schon Jahre zuvor für sich und seine Familie erbaut hatte. Dem Kaiser hatte der Jugendstil, den Wagner in der Kirche umgesetzt hatte, überhaupt nicht gefallen und Wagner fiel in Ungnade. Seine Villa verkaufte er und zog in ein kleineres Haus. Die Nazis verwendeten den Bau für Freizeitaktivitäten der Hitlerjugend unter Baldur von Schirach, der hier sein Büro hatte. Nach dem Krieg verfiel die Villa. Der Maler Ernst Fuchs hat es dann in den sechziger Jahren vor der endgültigen Zerstörung gerettet. Aufstieg, Fall, Aufstieg.

 

Danach kommt nichts mehr. Wir radeln am letzten Tag noch einmal an den Graffiti-Wänden des Donaukanals entlang. Dann geht es Richtung Heimat. Das heftigste Unwetter steht uns noch bevor. Aber die Gewitterböen haben unseren Wohnwagen dann doch nicht umgeworfen.